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Laura Freudenthaler: "Geistergeschichte"
Der Wahnsinn kommt auf leisen Sohlen

Was ist real, was nur eingebildet? Das kann Laura Freudenthalers Heldin Anne bald immer weniger unterscheiden. Seit zwanzig Jahren ist die Pianistin mit Thomas liiert. Aber betrügt der sie nicht längst mit einer anderen Frau? "Geistergeschichte" erzählt von einer schleichenden Entfremdung.

Von Christel Wester | 28.05.2019
Zu sehen ist die Autorin Laura Freudenthaler und ihr Roman "Geistergeschichte".
Die 35-jährige Laura Freudenthaler gilt als großes Erzähltalent (Autorenfoto: Marianne-Andrea-Borowiec/ Cover: Droschl Verlag)
Laura Freudenthalers Bücher sind schmal, 168 Seiten hat ihr neuer Roman, 200 hatte der vorige. Die österreichische Autorin ist keine epische Erzählerin, die in weitschweifigen Bögen komplexe Handlungsstränge ausfabuliert. Laura Freudenthaler konzentriert sich auf das innere Erleben ihrer Figuren. Mit meist kurzen, beinahe spröden Sätzen erzeugt sie beklemmende Stimmungen, die sich beim Lesen förmlich übertragen. Im Zentrum ihrer Erzählungen stehen Frauen, so auch in ihrem Roman Geistergeschichte.

"Anne hört, wie die Wohnungstür aufgesperrt und geöffnet wird. Behutsam wieder geschlossen. Langsam wird die Klinke nach oben bewegt. Thomas bückt sich, seine Jacke verrät ihn, das Geräusch des Stoffes. Er geht auf Socken in die Küche, der Boden knarrt. Die Schwelle zwischen Vorzimmer und Küche erzeugt einen eigenen Laut, als würde etwas auseinanderbrechen."
Ein Paar um die 50 in der Krise
Auseinanderzubrechen scheint auch die Beziehung zwischen Anne und Thomas. Die beiden sind um die 50 und seit 20 Jahren ein Paar. Anders als ihr Debütroman Die Königin schweigt, der in einer dörflich-bäuerlichen Gesellschaft spielt und bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück reicht, ist Geistergeschichte im Kulturbürgertum einer Großstadt angesiedelt, in der man Wien zu erkennen glaubt. Anne ist Pianistin und unterrichtet als Klavierlehrerin an einer Musikschule. Thomas arbeitet in der Filmbranche, was er genau macht, erfährt man nicht, er kuratiert Festivals, arbeitet an Drehbüchern und ist oft bis spätabends unterwegs.
Manchmal sehen sich die beiden Ehepartner tagelang nicht, weil Thomas häufig nach Hause kommt, wenn Anne schon im Bett liegt – und frühmorgens wieder geht, bevor sie aufsteht. Er nächtigt auf der Couch in seinem Arbeitszimmer. Man lebt nebeneinander her. "Geistergeschichte" ist ein Beziehungsroman, der von einer schleichenden Entfremdung erzählt. Ob Anne bei der Eröffnung von Thomas’ Filmfestival gestern gewesen sei, fragt ein Musiker-Kollege sie einmal – und ihre Antwort ist bezeichnend:
"Anne verneint. Seit Jahren nicht mehr. Das ist seine Arbeit, sagt sie, was soll ich dort. Der Fagottkollege nickt."
Ein in die Jahre gekommenes Paar, das sich auseinandergelebt hat. Das mag als Roman-Idee auf den ersten Blick nicht besonders originell erscheinen. Doch wie immer in der Literatur kommt es darauf an, wie davon erzählt wird. Laura Freudenthaler wählt eine Perspektive, in der sie Innensicht und Außensicht auf irritierende Weise miteinander verschränkt. Die Hauptfigur ihres Romans ist Anne, ihr schaut man bei ihrem Alltag zu und rückt ihr dabei ganz nah auf die Pelle, sieht beinahe jedes Härchen, das sich aufstellt, wenn sie Gänsehaut bekommt. Und man schaut als Leser auch in Annes Kopf: erfährt ihre Gedanken, Träume, Fantasien, Ängste.
Die empfindsame Anne sieht Gespenster
Gleichzeitig kommt man sich dabei vor, als ob man Freudenthalers Heldin unter einer Glasglocke beobachten würde. Diese Erzählperspektive offenbart intime Nähe und schafft doch gleichzeitig auch kritische Distanz. Entsprechend ist man bei der Lektüre ständig hin- und hergerissen zwischen Empathie und Unverständnis für Anne. Die scheint zwar unter der Entfremdung von Thomas zu leiden, aber sie begegnet ihm mit einer Teilnahmslosigkeit, die den Entfremdungsprozess weiter vorantreibt. Anne zieht sich zurück in ihre eigene Welt, und die wird zunehmend unheimlich.
"An das Huschen aus den Augenwinkeln hat sie sich gewöhnt, manchmal erschrickt sie trotzdem, wenn in dem Moment, da sie den Mantel aufhängt, etwas durch die offene Tür ins Wohnzimmer verschwindet."
Anne lebt mit Geistern, in ihrem Kopf spukt es.

"Sie öffnet die Zimmertür und weiß, das Mädchen ist im selben Moment davongehuscht, ins Dunkel, von wo aus es beobachtet, wie Anne ins Vorzimmer geht."
Ein schleichender Verdacht
"Das Mädchen": So nennt Anne die vermeintliche Geliebte ihres Mannes, denn sie verdächtigt ihn fremdzugehen. Ihr Verdacht kommt einem zunächst auch plausibel vor. Doch als Anne das sogenannte Mädchen ständig durch die Wohnung huschen sieht, kommen langsam Zweifel auf. Nach und nach beginnt Anne Thomas’ Affäre bis in kleinste Details zu imaginieren. Gleichzeitig löst sich ihre eigene Alltagsstruktur auf. Denn Anne hat sich ein sogenanntes "Freijahr" von der Musikschule genommen – eigentlich, um ein musikpädagogisches Lehrbuch zu schreiben und sich intensiver dem eigenen Klavierspiel zu widmen. Doch ihre Hände gehorchen ihr nicht mehr.
"Ihre Finger sind ertaubt. Sie dreht die linke Handfläche zu sich und drückt den Nagel des Daumens in die Kuppe des Zeigefingers, bis der Schmerz sticht."
Statt ihren ursprünglichen Plan zu verfolgen, läuft Freudenthalers Protagonistin Anne desorientiert durch die Straßen der Stadt, in die sie vor über 20 Jahren als französische Auslandsstipendiatin gekommen ist. Auf einmal wird ihr auch die Sprache wieder fremd, die sie schon so lange spricht.
Fließende Übergänge zwischen Einbildung und Wirklichkeit
Laura Freudenthaler erzählt fragmentarisch in kurzen Kapiteln, die zwischen einer und drei Seiten lang sind. Erinnerung und Gegenwart, Einbildung und Wirklichkeit fließen dabei ständig ineinander, sind kaum noch zu unterscheiden. "Geisterstunde" wird zum Protokoll einer Identitätskrise. Vermutlich leidet Anne unter einer Depression, die von Verletzungen herrührt, die sie immer verdrängt hat. Man erfährt davon nur am Rande, denn die Autorin arbeitet mit Aussparungen und Andeutungen. Nie buchstabiert sie im Roman genau aus, was ihrer Heldin Anne einst passiert ist, sondern man ist als Leser angewiesen auf eigene Wahrnehmungen und Deutungen, die – wie wir alle wissen – trügerisch sein können. So führt Laura Freudenthaler mit erzählerischer Raffinesse nicht nur ihre Protagonistin, sondern auch ihre Leser auf unsicheres Terrain, das Fragen aufwirft nach den Grenzen von menschlicher Nähe und Distanz. "Geistergeschichte" ist letztlich ein Roman über Fremdheitsgefühle, die sich auftun können, wenn gewohnte Alltagsstrukturen wegfallen und man plötzlich Dinge wahrnimmt, die man sonst nicht bemerkt hat. Und die junge Autorin erfasst in ihrem zweiten Roman sehr gut, wie ein sensibler Charakter in einer solchen Situation in eine gefährliche innere Einsamkeit abdriftet.
Laura Freudenthaler: "Geistergeschichte".
Droschl Verlag, Graz. 168 Seiten, 20 Euro