Tobias Armbrüster: Es ist der Albtraum für jeden, der sich einer ärztlichen Behandlung unterzieht, egal ob einer einfachen Therapie mit Medikamenten, oder einer aufwendigen Knieoperation: Der Arzt macht einen Fehler, übersieht eine Allergie, oder macht beim Operieren einen falschen Handgriff, und der Patient hat auf einmal mehr Probleme als vorher. Die Beschwerden wegen solcher ärztlichen Behandlungsfehler, die häufen sich; entsprechende Zahlen hat gestern die Bundesärztekammer in Berlin vorgestellt. Demnach wurden im vergangenen Jahr mehr als 11.000 Anträge auf Schadenersatz gestellt, alle wegen Behandlungsfehlern. In 99 Fällen sind Menschen wegen Ärztepfusch ums Leben gekommen. Am Telefon ist jetzt Karl Lauterbach, der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Lauterbach.
Karl Lauterbach: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Was sagen uns diese ganzen Zahlen? Leben Patienten in Deutschland gefährlich?
Lauterbach: Die Zahlen sind schon beunruhigend, um es so auszudrücken, weil, die Dunkelziffer ist natürlich noch deutlich höher. Wir müssen hier wahrscheinlich von 50.000 bis 100.000 Schadensfällen pro Jahr ausgehen und ich glaube daher, dass dringend etwas gemacht werden muss, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Armbrüster: Sie sagen, 50.000 bis 100.000 Fälle, die sozusagen nicht gemeldet werden, die nicht publik werden.
Lauterbach: Ja, einschließlich der Fälle, die gemeldet werden, muss man von dieser Dunkelziffer ausgehen, wenn man hochrechnet, wie hoch das Verhältnis ist von gemeldeten Fällen zu Dunkelzifferfällen auch aus anderen Ländern und den Studien, die man gemacht hat.
Armbrüster: Was würden Sie denn sagen, was muss geschehen?
Lauterbach: Wir haben drei Probleme. Zum einen: Wir müssen schauen, dass mehr Fälle gemeldet werden. Zum zweiten: Wir müssen die Menschen besser und schneller entschädigen, die hier einen Schaden haben. Und wir müssen in die Vorbeugung investieren. Und am besten kann man das, wenn man den Ärzten auch hilft, einen Schaden, der passiert ist, zu melden. Das muss unbürokratisch und auch ohne großes Risiko für die betroffenen Ärzte gehen. Wir brauchen so einen Entschädigungsfonds, aus dem relativ unbürokratisch und auch schnell der Patient Geld bekommt, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ein Fehler passiert ist, und dann muss man diese Fälle – dann werden ja viel mehr Fälle gemeldet – systematisch auswerten, woran liegt es. Wir kennen einige Ursachen, aber wir wissen noch zu wenig. Wir wissen, ein großes Problem in Deutschland ist das folgende: Der Takt der Medizin hat sich immer mehr beschleunigt. Das heißt, wir machen mehr Untersuchungen und mehr Behandlungen, aber in immer kürzerer Zeit, und dann steigt die Fehlerwahrscheinlichkeit. Das ist genauso, als wenn Sie versuchen, immer schneller zu tippen, dann vertippen Sie sich auch häufiger. Wir müssen daher das System so umstellen, dass wieder etwas weniger gemacht wird, aber jede einzelne Leistung gründlicher gemacht werden kann. Das ist kein Schuldzuspruch oder keine Schuldzuweisung für die betroffenen Ärzte oder Ärztinnen, sondern hier haben wir Systemfehler.
Armbrüster: Herr Lauterbach, Sie haben jetzt auch gesagt, man müsste den Ärzten helfen, solche Fälle zu melden. Warum muss man ihnen helfen? Ist das derzeit noch schwierig?
Lauterbach: Das ist sehr schwierig, weil zum einen ist das für den Arzt, der etwas meldet, häufig das Ende der Karriere, weil wir nach wie vor keine Fehlerkultur haben. Wir suchen die Fehler beim einzelnen, nicht im System. Zum zweiten: Oft sind Ärzte unter Druck, schon alleine wegen der betroffenen Versicherungen und wegen der Arbeitgeber, dass sie angehalten sind, nichts zu melden. Und zum dritten: Wenn es keine richtige Entschädigung für den Patienten gibt, dann sieht der Arzt auch nur den langen Klageweg vor sich, und das will er weder sich noch dem Patienten oft zumuten. Somit: Das gesamte System ist nicht gut durchdacht, es muss entkriminalisiert werden, entschleunigt, praktiziert werden. Wir brauchen mehr Gutachter, oft dauert es Jahre, bis ein Gutachten erstellt ist. Wir brauchen so einen Pool von Gutachtern, die sich bereithalten, die auch bezahlt werden dafür, dass sie nur einfach bereit sind, Gutachten zu erstellen. Dann ließe sich da viel bewegen.
Armbrüster: Aber zurzeit haben ja vor allem viele Patienten den Eindruck, wenn sie eine Beschwerde stellen, dann laufen sie sozusagen vor eine Wand. Was ist derzeit so schwierig dabei, einen Arzt für einen Behandlungsfehler haftbar zu machen?
Lauterbach: Die Hürden fangen schon an, dass der Patient in der Regel gar nicht mitbekommt, dass ein Behandlungsfehler passiert ist. Hier muss das Recht geändert werden. Man könnte sich zum Beispiel Folgendes vorstellen: Wenn der Arzt sofort selbst meldet, dass etwas passiert ist, was möglicherweise nicht in Ordnung war, dann ist für ihn die Haftungsfrage, sagen wir einmal, ungefährlicher, als wenn er dies nicht tut. Wir müssen ganz klar Anreize setzen auch für Ärzte, solche möglichen Fehler zu melden, und müssen auch dazu kommen, dass die Verfahren sehr viel schneller ablaufen. Jetzt ist das Hauptproblem, wenn man tatsächlich so einen Fehler dann unterstellt, dann wird das sehr aufwendig geprüft, das ist ein kompliziertes Gerichtsverfahren, Gutachter zu bekommen, dauert ewig, die Gutachten sind dann häufig erst fertig, wenn der Patient fast schon nicht mehr lebt. Das ist keine unzulässige Zuspitzung, viele Fälle erledigen sich im Prinzip durch die reduzierte Lebenserwartung der Patienten. Da ist vieles im Argen, es fehlt an Staatsanwaltschaften, die sich darauf konzentriert haben, und es fehlt auch an unbürokratischen unterschwelligen Möglichkeiten für eine Entschädigung ohne den langen Gerichtsweg.
Armbrüster: Aber machen gerade diese langen Wege, diese gründlichen Prüfungen, machen die nicht Sinn, denn es geht bei solchen Beschwerden wegen Ärztepfusch ja um etwas ganz Elementares in unserer Gesellschaft?
Lauterbach: Es muss tatsächlich für sehr schwere Fälle auch den Rechtsweg geben, das ist klar. Aber das könnte man sich so vorstellen, dass in besonders schweren Fällen der Patient erst mal aus dem Fonds, aus dem Pool entschädigt wird und dann das Klagerecht abtritt an die Kassen, die sich so ein Stück weit refinanzieren, sodass die Kasse dann klagt und nicht der Patient. Sie müssen sich das wie folgt vorstellen: Wenn Sie ein schweres Problem hingenommen haben, die Leiden des Fehlers mit den Konsequenzen, die dramatisch sind, dann haben Sie kein Interesse daran, über Jahre hinweg einen Klageweg zu begehen mit unsicherem Ausgang. Das ist eine Zumutung und somit ist das jetzige System ein schlechtes, weil es führt zu geringer Aufklärung, es ist ein System, was für die betroffenen Patienten nicht gut funktioniert, und es trägt auch wenig zur Vorbeugung solcher Fälle bei.
Armbrüster: Der Mediziner und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach war das, live bei uns hier heute Morgen im Deutschlandfunk. Besten Dank für das Interview, Herr Lauterbach.
Lauterbach: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karl Lauterbach: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Was sagen uns diese ganzen Zahlen? Leben Patienten in Deutschland gefährlich?
Lauterbach: Die Zahlen sind schon beunruhigend, um es so auszudrücken, weil, die Dunkelziffer ist natürlich noch deutlich höher. Wir müssen hier wahrscheinlich von 50.000 bis 100.000 Schadensfällen pro Jahr ausgehen und ich glaube daher, dass dringend etwas gemacht werden muss, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Armbrüster: Sie sagen, 50.000 bis 100.000 Fälle, die sozusagen nicht gemeldet werden, die nicht publik werden.
Lauterbach: Ja, einschließlich der Fälle, die gemeldet werden, muss man von dieser Dunkelziffer ausgehen, wenn man hochrechnet, wie hoch das Verhältnis ist von gemeldeten Fällen zu Dunkelzifferfällen auch aus anderen Ländern und den Studien, die man gemacht hat.
Armbrüster: Was würden Sie denn sagen, was muss geschehen?
Lauterbach: Wir haben drei Probleme. Zum einen: Wir müssen schauen, dass mehr Fälle gemeldet werden. Zum zweiten: Wir müssen die Menschen besser und schneller entschädigen, die hier einen Schaden haben. Und wir müssen in die Vorbeugung investieren. Und am besten kann man das, wenn man den Ärzten auch hilft, einen Schaden, der passiert ist, zu melden. Das muss unbürokratisch und auch ohne großes Risiko für die betroffenen Ärzte gehen. Wir brauchen so einen Entschädigungsfonds, aus dem relativ unbürokratisch und auch schnell der Patient Geld bekommt, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ein Fehler passiert ist, und dann muss man diese Fälle – dann werden ja viel mehr Fälle gemeldet – systematisch auswerten, woran liegt es. Wir kennen einige Ursachen, aber wir wissen noch zu wenig. Wir wissen, ein großes Problem in Deutschland ist das folgende: Der Takt der Medizin hat sich immer mehr beschleunigt. Das heißt, wir machen mehr Untersuchungen und mehr Behandlungen, aber in immer kürzerer Zeit, und dann steigt die Fehlerwahrscheinlichkeit. Das ist genauso, als wenn Sie versuchen, immer schneller zu tippen, dann vertippen Sie sich auch häufiger. Wir müssen daher das System so umstellen, dass wieder etwas weniger gemacht wird, aber jede einzelne Leistung gründlicher gemacht werden kann. Das ist kein Schuldzuspruch oder keine Schuldzuweisung für die betroffenen Ärzte oder Ärztinnen, sondern hier haben wir Systemfehler.
Armbrüster: Herr Lauterbach, Sie haben jetzt auch gesagt, man müsste den Ärzten helfen, solche Fälle zu melden. Warum muss man ihnen helfen? Ist das derzeit noch schwierig?
Lauterbach: Das ist sehr schwierig, weil zum einen ist das für den Arzt, der etwas meldet, häufig das Ende der Karriere, weil wir nach wie vor keine Fehlerkultur haben. Wir suchen die Fehler beim einzelnen, nicht im System. Zum zweiten: Oft sind Ärzte unter Druck, schon alleine wegen der betroffenen Versicherungen und wegen der Arbeitgeber, dass sie angehalten sind, nichts zu melden. Und zum dritten: Wenn es keine richtige Entschädigung für den Patienten gibt, dann sieht der Arzt auch nur den langen Klageweg vor sich, und das will er weder sich noch dem Patienten oft zumuten. Somit: Das gesamte System ist nicht gut durchdacht, es muss entkriminalisiert werden, entschleunigt, praktiziert werden. Wir brauchen mehr Gutachter, oft dauert es Jahre, bis ein Gutachten erstellt ist. Wir brauchen so einen Pool von Gutachtern, die sich bereithalten, die auch bezahlt werden dafür, dass sie nur einfach bereit sind, Gutachten zu erstellen. Dann ließe sich da viel bewegen.
Armbrüster: Aber zurzeit haben ja vor allem viele Patienten den Eindruck, wenn sie eine Beschwerde stellen, dann laufen sie sozusagen vor eine Wand. Was ist derzeit so schwierig dabei, einen Arzt für einen Behandlungsfehler haftbar zu machen?
Lauterbach: Die Hürden fangen schon an, dass der Patient in der Regel gar nicht mitbekommt, dass ein Behandlungsfehler passiert ist. Hier muss das Recht geändert werden. Man könnte sich zum Beispiel Folgendes vorstellen: Wenn der Arzt sofort selbst meldet, dass etwas passiert ist, was möglicherweise nicht in Ordnung war, dann ist für ihn die Haftungsfrage, sagen wir einmal, ungefährlicher, als wenn er dies nicht tut. Wir müssen ganz klar Anreize setzen auch für Ärzte, solche möglichen Fehler zu melden, und müssen auch dazu kommen, dass die Verfahren sehr viel schneller ablaufen. Jetzt ist das Hauptproblem, wenn man tatsächlich so einen Fehler dann unterstellt, dann wird das sehr aufwendig geprüft, das ist ein kompliziertes Gerichtsverfahren, Gutachter zu bekommen, dauert ewig, die Gutachten sind dann häufig erst fertig, wenn der Patient fast schon nicht mehr lebt. Das ist keine unzulässige Zuspitzung, viele Fälle erledigen sich im Prinzip durch die reduzierte Lebenserwartung der Patienten. Da ist vieles im Argen, es fehlt an Staatsanwaltschaften, die sich darauf konzentriert haben, und es fehlt auch an unbürokratischen unterschwelligen Möglichkeiten für eine Entschädigung ohne den langen Gerichtsweg.
Armbrüster: Aber machen gerade diese langen Wege, diese gründlichen Prüfungen, machen die nicht Sinn, denn es geht bei solchen Beschwerden wegen Ärztepfusch ja um etwas ganz Elementares in unserer Gesellschaft?
Lauterbach: Es muss tatsächlich für sehr schwere Fälle auch den Rechtsweg geben, das ist klar. Aber das könnte man sich so vorstellen, dass in besonders schweren Fällen der Patient erst mal aus dem Fonds, aus dem Pool entschädigt wird und dann das Klagerecht abtritt an die Kassen, die sich so ein Stück weit refinanzieren, sodass die Kasse dann klagt und nicht der Patient. Sie müssen sich das wie folgt vorstellen: Wenn Sie ein schweres Problem hingenommen haben, die Leiden des Fehlers mit den Konsequenzen, die dramatisch sind, dann haben Sie kein Interesse daran, über Jahre hinweg einen Klageweg zu begehen mit unsicherem Ausgang. Das ist eine Zumutung und somit ist das jetzige System ein schlechtes, weil es führt zu geringer Aufklärung, es ist ein System, was für die betroffenen Patienten nicht gut funktioniert, und es trägt auch wenig zur Vorbeugung solcher Fälle bei.
Armbrüster: Der Mediziner und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach war das, live bei uns hier heute Morgen im Deutschlandfunk. Besten Dank für das Interview, Herr Lauterbach.
Lauterbach: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.