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Lauterbach (SPD) zu Corona-Maßnahmen
"Es reicht bei Weitem nicht"

Nur Appelle, aber keine verbindlichen neuen Corona-Regeln - so ist der Stand nach den Beratungen der Minister mit Kanzlerin Angela Merkel. Für den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach ist das viel zu wenig. Damit habe man im Kampf gegen die Pandemie nun wichtige Zeit verloren, sagte er im Dlf.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Der SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach bei einem Pressestatement.
Der SPD-Gesundheitspolitiker und Epidemiologe Karl Lauterbach (imago images / Reiner Zensen)
Bund und Länder haben ihre Entscheidung über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie auf die kommende Woche verschoben. Kanzlerin Angela Merkel sagte am Abend (16. November) nach einer mehrere Stunden dauernden Video-Konferenz, die Länder hätten sich mehrheitlich gegen zusätzliche Rechtsänderungen zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen. Sie selbst hätte sich dagegen durchaus weitere Maßnahmen bezüglich der Kontakte vorstellen können, fügte Merkel hinzu.
Nach Ansicht von SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach war die Beschlussvorlage vielversprechend. Davon sei nur leider das meiste nicht beschlossen worden, kritisierte er im Dlf. Man habe zwei Problembereiche, die aus der Kontrolle geraten: Zum einen die Schulen und zum anderen der private Bereich. Zwar komme man durch die Anfang November beschlossenen Maßnahmen aus dem exponentiellen Wachstum heraus, das reiche aber bei weitem nicht aus.
In Bussen, Bahnen und Zügen in NRW sowie auf Gleisen wie am Kölner Hauptbahnhof herrscht wegen der Coronakrise derzeit Maskenpflicht und Reisende erscheinen nur noch maskiert. Köln, 27.04.2020 | Verwendung weltweit
"Lockdown light hat Abkühlung des Infektionsgeschehens gebracht"
Der Teil-Lockdown sei statistisch spürbar, aber weitere Kontaktbeschränkungen wären sinnvoll, sagte der Professor für klinische Pharmazie, Thorsten Lehr, im Dlf. Er hat einen COVID-Simulator programmiert, der das Infektionsgeschehen in Deutschland modelliert und Prognosen erlaubt.
"Die Zeit läuft uns davon"
Lauterbach sieht die Verhandlungen als verlorenen Gelegenheit. Die beschlossenen Apelle werden seiner Meinung nach in den nächsten Tagen keine zusätzliche Wirkung entfalten. Damit verspiele man in der Bekämpfung der Pandemie wichtige Zeit. Nach den nächsten Beratungen in der nächsten Woche rechnet Lauterbach deshalb mit starken Einschränkungen. "Die Zeit läuft uns davon."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Heinemann: Herr Lauterbach, fünf Stunden Verhandlungen und anschließend lautet die Botschaft, die Lage ist ernst. Reicht das?
Lauterbach: Nein, das reicht natürlich nicht. Wir verlieren Zeit. Die Beschlüsse von gestern sind weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das muss man ehrlich einräumen. Die Vorlage war vielversprechend, aber davon ist das Allermeiste nicht beschlossen worden. Wir haben zwei Problembereiche, die im Moment aus der Kontrolle heraus geraten sind, und zwar in den Schulen. Da haben wir wirklich keine gute Kontrolle der Situation und auch in den Privatkontakten. Somit stabilisiert sich der R-Wert. Wir kommen etwas aus dem exponentiellen Wachstum heraus. Aber es reicht bei weitem nicht, was wir derzeit sehen.
Heinemann: Warum geht es nicht voran?
Lauterbach: Die Länder waren offenbar nicht ausreichend genug einbezogen in ihrer Einschätzung. Ich bin auch nicht ganz sicher, ob die Länder eigene Vorschläge mitgebracht haben. Aber es war gestern auf jeden Fall eine verlorene Gelegenheit, weil ich glaube nicht, dass das, was gestern beschlossen wurde, jetzt in den nächsten Tagen noch mal zusätzliche Wirkung entfalten wird. Ich mag mich da täuschen. Somit verlören wir dann gut eine Woche, anderthalb Wochen, und das ist für die Pandemie-Bekämpfung eine sehr lange Zeit. Wir hatten ja einen Vorsprung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und wir drohen, den jetzt zunehmend zu verlieren.
"Ich rechne mit Verschärfungen in der nächsten Woche"
Heinemann: Welche Botschaft geht davon aus, dass Bund und Länder sich offenbar nicht einig sind?
Lauterbach: Ja, zweierlei. Zum einen geht die Botschaft aus, zum jetzigen Zeitpunkt muss nicht mehr gemacht werden. Sonst hätte der Bund ja entsprechend beschlossen. Aber zum zweiten geht davon auch aus, dass man in der nächsten Woche mit starken Einschränkungen rechnen muss, weil die Zeit läuft uns ja davon. Man muss sich das wie folgt vorstellen: Beim jetzigen Tempo, so wie der Shutdown derzeit läuft, würde es mehr als sieben Wochen dauern, bis man auf diesen Zielwert von 50 käme. Das kann natürlich niemand wollen, so lange zu warten. Daher rechne ich mit Verschärfungen in der nächsten Woche.
Maskenpflicht in der Schule
"Für den hybriden Unterricht ist Deutschland noch nicht vorbereitet“
Die Folgen des ersten Lockdowns seien für einzelne Schüler wirklich dramatisch, sagte Bildungsforscher Andreas Schleicher im Dlf. Bei der Digitalisierung sei noch viel zu tun. Präsenzunterricht sei alternativlos.
Heinemann: Was wissen wir denn am Mittwoch der kommenden Woche, was wir heute noch nicht wüssten?
Lauterbach: Nichts! Die Probleme kennen wir ja. Es muss nur Einigkeit bei den Lösungen herbeigeführt werden. – Wir wissen zum Beispiel, dass die Schulen derzeit ein Risikobereich sind. Gestern kam eine sehr wichtige Studie aus den Vereinigten Staaten, die wahrscheinlich auch im Großen und Ganzen übertragbar ist auf Deutschland, dass sich 30 bis 50 Prozent der Eltern von infizierten Kindern auch anstecken. Das heißt, wir müssen die Infektionen auch bei Kindern, bei zehn bis 19jährigen in den Griff bekommen. Die sind derzeit um ein Vielfaches höher in dieser Altersgruppe, als das in der ersten Welle im März und April der Fall gewesen ist.
"Ich bin für eine Aufteilung des Unterrichts in Gruppen"
Heinemann: Wie wollen Sie die in den Griff bekommen?
Lauterbach: Ich selbst fand die Vorschläge, die vorlagen, richtig. Ich bin für eine Aufteilung des Unterrichts in Gruppen. Das ist schwer durchzuführen. Da brauchen die Schulen auch entsprechende Freiräume. Aber ich glaube nicht, dass man einen vollen Klassenraum unterrichten kann bei einer so starken Aerosol-Übertragung, wie sie SARS-COV hat. Ich finde auch die Maskenpflicht angemessen für die Schüler in dieser Notlage. Es hat sich nicht gezeigt, dass der Unterricht damit wesentlich schlechter wäre als ohne Maske. Somit hätte ich das richtig gefunden. Wir hätten auch dringend Maßnahmen gebraucht im privaten Umfeld. Die jetzigen Empfehlungen sind nicht schlecht, aber es sind nur Soll-Empfehlungen. Ich glaube nicht, dass die sehr viel Umsetzung sehen.
Heinemann: Herr Lauterbach, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, auch sie fordert diesen Wechselunterricht. Nur wenn man Klassen halbiert, dann benötigt man doppelt so viele Lehrerinnen und Lehrer. Wo sind die?
Lauterbach: Na ja. Man kann natürlich auch sehr viel an Home Schooling mittlerweile beifüttern.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Heinemann: Das hat ja in der ersten Welle nicht wirklich gut geklappt.
Lauterbach: Ja, das stimmt. Die liegt aber jetzt Monate zurück und wir hatten ja sehr viel Zeit, das vorzubereiten. Wir haben ja gesehen, dass die Universitäten, auch die Fachhochschulen das geschafft haben. Dort ist ja, sagen wir mal, der Präsenzunterricht quasi abgeschafft und das ist auch sehr vielen Ländern um uns herum gelungen. Ich habe ein bisschen Mühe, mir vorzustellen, dass in Deutschland in der Schule nicht geht, was in unseren Fachhochschulen gut funktioniert, oder an den Hochschulen und auch in den Nachbarländern. Ich glaube schon, da ist mehr drin.
In Schulen mehr mit Luftfilteranlagen arbeiten
Heinemann: Realität in deutschen Schulklassen ist, dass die Belüftung nach wie vor auf vorindustriellem Niveau geregelt ist.
Lauterbach: Ja, auch bei der Belüftung ist es aus meiner Sicht falsch, darauf zu setzen, dass man das durch Lüften allein in den Griff bekommt. Hier muss auch erwogen werden, zumindest in den Schulklassen, die klein sind – es gibt Klassenräume, die sind klein, die man so gut nicht lüften kann – mit Luftfilteranlagen zu arbeiten. Luftfilteranlagen, mobile Luftfilteranlagen können da eine Lücke schließen, die wir sonst offen lassen.
Schülerinnen und Schüler mit Masken sitzen an ihren Tischen im Klassenraum und lesen im Unterricht in Marktoberdorf im 27. April 2020.
Luftfilter können Virenlast halbieren
Mobile Raumluftreiniger können die Aerosol-Konzentration in geschlossenen Räumen deutlich verringern. Das haben Forscher der Uni der Bundeswehr in München herausgefunden. Allerdings hängt der Erfolg von der Platzierung im Raum ab.
Heinemann: Könnten! – Es gibt sie halt nicht.
Lauterbach: Die können beschafft werden. Die sind im deutschen Markt zu haben. Das ist auch keine Hexerei, diese herzustellen. Das ist jetzt nichts, was produziert werden muss, was schwer zu beschaffen wäre. Die deutschen Mittelstandsunternehmen können mobile Lüftungsanlagen in kurzer Zeit produzieren. Ich glaube, das ist auch eine Sache des politischen Willens und der Dynamik.
Heinemann: Herr Lauterbach, die Zahlen zeigen, dass etwa bei Schülerinnen und Schülern sich 0,17 Prozent anstecken, bei Lehrerinnen und Lehrern etwa 0,4 Prozent. Sie haben jetzt gefordert, dass bei einem Infektionsfall in einer Klasse alle Mitschülerinnen und Mitschüler und deren Eltern für fünf Tage in Quarantäne gehen sollen, bis ein Negativtest vorliegt. Ist das angemessen?
Lauterbach: Der Vorschlag basiert auf folgender Überlegung. Zunächst: Wir haben eine große Dunkelziffer derzeit. Wir haben ja derzeit zu wenig Tests. Jeder, der jetzt einen Test haben will, wird sehr schnell sehen, wie schwer es ist, einen Test zu bekommen. Asymptomatische werden gar nicht getestet, zurecht, weil wir zu wenige Tests haben. Das heißt, Schüler sind in der Regel asymptomatisch. Wir können daher gar nicht sagen, wie viele Schüler derzeit infiziert sind. Da haben wir gar keine Daten zu.
Wir wissen aber, dass die Zahl der infizierten Schüler, gemessen an den Tests, die wir hatten, schon besorgniserregend hoch ist. Somit müssen wir davon ausgehen, im Moment ist in den Schulen ein hohes Infektionsgeschehen unterwegs, und wenn wir dies eine Zeit lang laufen lassen, dann verlieren wir in den Schulen das, was wir in den geschlossenen Gaststätten, Fitness-Clubs und in den Restaurants gewinnen. Somit kann man sich auf die Zahlen, die wir jetzt haben, nicht wirklich verlassen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass wir in den Schulen die Ansteckungsketten auch nur nachverfolgen können.
"Deutschland ist durch die erste Welle sehr gut gekommen"
Heinemann: Herr Lauterbach, wir wollen uns anhören, was Dietmar Bartsch gestern bei uns im Deutschlandfunk gesagt hat, der Fraktionschef der Linkspartei.
O-Ton Dietmar Bartsch: "Erstens keine Vorbereitung in der Sommerpause, viel zu wenig ist getan worden. Dann völlig unterschiedliche Maßstäbe, wo quer durchs Land gefahren wird, bei Fußball-Länderspielen quer durch Europa gefahren wird, Ikea offen ist und volle Hütte ist, teilweise der öffentliche Nahverkehr voll ist, viel zu wenig kontrolliert wird das, was an Maßnahmen beschlossen wird, und auf der anderen Seite knallharte Maßnahmen gegen Menschen, die sehr, sehr viel investiert haben. Das ist das, was ich kritisiere."
19.06.2020, Berlin: Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke, spricht während der 167. Sitzung des deutschen Bundestages bei einer aktuellen Stunde zum Thema Lobbyismus. Foto: Christoph Soeder/dpa | Verwendung weltweit
Bartsch - "Jetzige Strategie wird Vertrauen zerstören"
Dietmar Bartsch (Die Linke), hält verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für richtig, doch der Weg dahin sei nicht transparent. Es könne nicht sein, dass weiter nur "von oben regiert werde."
Heinemann: Bedarf es da einer grundsätzlichen Flurbereinigung in der Corona-Politik?
Lauterbach: Nein, das sehe ich nicht so. Wir haben sehr viel richtig gemacht. Gestern, das war kein großer Erfolg. Das muss man einräumen. Aber Deutschland ist durch die erste Welle sehr gut gekommen, hat gute Beschlüsse gefasst. Und übrigens auch dieser Wellenbrecher-Shutdown, den wir gemacht haben vor 14 Tagen, der hat Wirkung gezeigt. Sonst wären wir voll im exponentiellen Wachstum. Da hat Deutschland sehr viel schneller reagiert als andere europäische Länder. Daher ist es uns gelungen, die Überfüllung der Intensivkapazitäten derzeit zu verhindern. Wir sind aus dem exponentiellen Wachstum herausgekommen. Somit haben wir im Großen und Ganzen relativ rasch reagiert und die Einschätzung von Dietmar Bartsch teile ich hier nicht.
Heinemann: In dem Infektionsschutzgesetz, über das der Bundestag morgen entscheiden wird, wird vorgeschrieben, dass beim Erlass von Verordnungen nicht allein der Gesundheitsschutz eine Rolle spielen darf, sondern dass auch soziale und wirtschaftliche Aspekte abzuwägen sind. Was bedeutet das für die Gastronomie?
"Das neue Infektionsschutzgesetz beschreibt im Prinzip mehr die Praxis"
Lauterbach: Das bedeutet, dass wir die Gastronomie nur dann geschlossen halten können, wenn es wissenschaftlich gut belegt ist, dass das einen Beitrag bietet.
Heinemann: Ist es das?
Lauterbach: Und nur solange, wie das notwendig ist. – Beides ist gegeben. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir: Wir haben ja jetzt schon größte Schwierigkeiten, die Überfüllung der Intensivkapazitäten zu verhindern. Würden wir bei offenen Schulen die Restaurants, die Gaststätten, Kneipen und Bars wieder öffnen, dann hätten wir nach Vorlage großer Studien, insbesondere einer wichtigen Studie der Stanford-Universität aus der letzten Woche, zu erwarten, dass wir sofort wieder ins exponentielle Wachstum zurückkehren und innerhalb von wenigen Tagen verlieren, was wir jetzt mühsam aufgebaut haben. Somit: Die wirtschaftlichen Aspekte müssen berücksichtigt werden. Aber das tun wir auch. Das neue Infektionsschutzgesetz beschreibt im Prinzip mehr die Praxis. Das ist keine Abkehr von dem, was wir derzeit tun. Von daher ist das Gesetz zwar richtig, aber beschreibt nicht etwas, was wir bisher vernachlässigt hätten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.