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Le Clézio mit Literaturnobelpreis 2008 ausgezeichnet

Mit Jean-Marie Gustave Le Clézio hat nach 23 Jahren wieder ein Franzose den Literaturnobelpreis erhalten. Le Clézio ist ein großer Reisender zwischen Thailand, Mexiko, Panama und natürlich Afrika - wo sein Vater einst Tropenarzt im Dienst des britischen Kolonialreichs war. Fremd, aber frei von jeder Exotik, so will Le Clézio seinen Lesern Afrika nahe bringen. In über 40 Büchern beschreibt er immer wieder auch die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück der Kindheit.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Katja Lückert | 09.10.2008
    Katja Lückert: Vor 15 Jahren, als man davon ausgehen konnte, dass ein anderer französischer Schriftsteller, nämlich Michelle Tournier zumindest zu den hoch gehandelten Anwärtern auf den Nobelpreis gehörte, während man Le Clézio als eher unter ferner liefen eingereiht hätte, wagte derselbe Michelle Tournier den Versuch einer literarischen Verortung von Le Clézio:

    "Es gibt einige Geschichten der heutigen französischen Literatur. Und da gibt es eine Familie, und zu dieser Familie gehören zuallererst Marguerite Yourcenar, dann Jean-Marie Le Clézio, vielleicht Julien Gracq als Vater, und ich bin der Sohn, und Jean-Marie Le Clézio ist der jüngere Bruder."

    Lückert: Soweit Michelle Tournier. Jean Marie-Gustave Le Clézio ist 1940 in Nizza geboren. Er ist also 68 Jahre alt. Er kam nach dem Zweiten Weltkrieg als Achtjähriger zum ersten Mal nach Nigeria und lernte dort seinen Vater kennen, einen verbitterten Mann ob der langen Trennung von Frau und Kindern. Vor zwei Jahren erschien in der Übersetzung von Uli Wittmann seinen Roman "Der Afrikaner", ein literarischer Annäherungsversuch an die afrikanische Vergangenheit seines Vaters. Der Mythos vom Anfang, als noch alles gut war, das Universum indianischer Kulturen erzählt Clézio in seinen frühen Werken, später ist Afrika der Hallraum eines Traums vom verlorenen, naturnahen, glücklichen Leben. Le Clézio bekam schon mit 23 Jahren für seinen ersten Roman "Le Procès-verbal", den Prix Renaudot, später den Prix Paul-Morand und schon 1994 wurde er zum größten lebenden französischen Dichter gewählt. Jürgen Ritte, welche Rolle spielt Le Clézio im französischen Literaturbetrieb? Michelle Tournier sprach von einer Familie. Ist er ein viel und gern gelesener Autor, auch im französischen Bildungssystem?

    Jürgen Ritte: Er ist ein viel und gern gelesener Autor in Frankreich, in gewisser Weise auch im französischen Bildungssystem, auch in den Universitäten. Das war er sogar auch mal in Deutschland nach seinen Anfängen. Sie haben ja eben gesagt, er hat 1963 debütiert mit einem Roman "Das Protokoll", der auch gleich einen großen Literaturpreis bekommen hat, den Renaudot. Und damals galt er noch mit Autoren wie Butor oder Robbe-Grillet, also all denen, die zum Nouveau Roman gehörten, zu den großen Neueren und Experimentatoren der französischen Literatursprache. Das hat sich dann geändert im Laufe der 70er Jahre, wo er zunehmend auf Geschichten gestoßen ist, Geschichten erzählt hat, die andere Hintergründe haben, die Sie eben auch schon genannt haben, wo er sich um andere Zivilisationen und Kulturen kümmert als die europäische. Und das sehr oft am Leitfaden seiner eigenen Familiengeschichte. "Der Afrikaner", das war die Vatergeschichte. Dann, von der großväterlichen Seite aus, mütterlich, hat er früher schon einen Roman vorgelegt, der auch in Deutsch übersetzt ist, "Die Quarantäne". Und pünktlich zum Nobelpreis, kann man sagen, ist hier vor einer Woche sein neuester Roman erschienen, "Ritournelle de la faim", "Das Lied vom Hunger" könnte man das nennen. Und da steht im Mittelpunkt seine Mutter in Paris, das erste Mal, dass er sich um Paris kümmert literarisch, der 30er und 40er Jahre.

    Lückert: Man hat Clézio als zivilisationsmüden, gewissermaßen fast als grünen, im Sinne vom umweltbewegten Schriftsteller abgestempelt. Was ist davon zu halten?

    Ritte: Na, da ist nur bedingt was von zu halten. Grün war er wahrscheinlich schon, bevor wir von den Grünen gesprochen haben, als er im Zuge seiner Reisen, seiner ausgedehnten Reisen nach Asien, er war lange Zeit auch in Thailand, bevor er sich definitiv in Neumexiko niederließ, wo er auch lehrt übrigens an einer amerikanischen Universität, bevor er sich auch mehr um mexikanische Mythologien und solche Dinge kümmerte. Und es war in der Tat eine Literatur, die sich um Zivilisation kümmert, die versucht zu erzählen, oft in Novellen, die einen ganz anderen Umgang mit der Natur haben, in einem ganz anderen Verhältnis zur Literatur leben.

    Lückert: Er liebt die Grenzen. Als Sohn einer Französin, wir haben es erwähnt, und eines Engländers empfindet er sich permanent als Exilant. Aber die französische Sprache sei sein wahres Heimatland, so Clézio. Warum war die Sprache in dieser kontinuierlichen Heimatlosigkeit so bedeutsam?

    Ritte: Ja, das war das Einzige, was er als Gepäck immer mitnehmen konnte. Die Mutter stammt eben aus einer bretonischen Familie, die sich auf der Insel Mauritius niedergelassen hatte. Dort ist er in der französischen Kultur, in der französischen Sprache groß geworden, und er hat dann auch in Nizza seine Schulzeit absolviert, bevor er Frankreich dann wieder verließ und lange Zeit in England lebte, dem Land seines Vaters. Er ist insofern ein sehr moderner Schriftsteller, der in die zeitgenössischen Diskussionen um die Literatur passt, als er einer von diesen migrierenden Schriftstellern ist. Die Sprache bleibt, aber er migriert zwischen den Kulturen, und darüber wird ja in letzter Zeit sehr viel gesprochen.

    Lückert: Le Clézio hat mit acht Jahren angefangen zu schreiben auf jener Schiffsreise mit seiner Mutter nach Afrika. Die Entdeckung Afrikas also, zugleich des unbekannten Vaters, sei eine radikale Erfahrung gewesen. Warum?

    Ritte: Ja, den Vater im Alter von acht Jahren erst kennenzulernen, ist, glaube ich, immer eine schockhafte und radikale Erfahrung. Und die andere radikale Erfahrung ist natürlich der Zivilisationswechsel, den er dann schon als Kind durchgemacht hat, von der Insel Mauritius, die im indischen Ozean liegt ins schwarzafrikanische Nigeria. Ich glaube, das hat ihn sensibilisiert und auch sein Interesse geweckt am Fremden, am ganz anderen, dass er wie gesagt eigentlich weltumspannt erforscht hat. Er hat auch wissenschaftliche Arbeiten geschrieben zur indischen Mythologie, aber auch eben zur mexikanischen, die der dann zum Teil überführt hat in Erzählungen.

    Lückert: Er war auch als Essayist bekannt geworden, sogar als Kinderbuchautor?

    Ritte: Ja, das sind kleine Novellen, die es auch auf Deutsch zu lesen gibt, "Mondo" heißt eine. Das sind kleine Novellen, die aus der Kinderperspektive erzählen. Das gehört auch zu seinen frühen Themen eigentlich noch. Ich hatte ja eben gesagt, er war zu Anfang im Grunde genommen ein Hätschelkind der französischen Universität und der deutschen auch, als man glaubte, man könne ihn verorten bei den Experimentatoren. Diese ersten Romane haben in der Tat sehr häufig den Wahnsinn zum Thema, das Reisen, das Entwurzeln, aber eben bei all dem auch die Perspektive der Kinder, den staunenden Blick der Kinder auf die etwas kuriose Welt.

    Lückert: Der Literaturkritiker Jürgen Ritte über Jean-Marie Gustave Le Clézio, der heute mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Verlag Das Wunderhorn wird sein neues Buch "Raga - Besuch auf einem unsichtbaren Kontinent" schon in diesem Herbst vorgezogen erscheinen, wie der Verlag gerade meldet.