Warum es sich für Leser lohnt, rund 400 klein bedruckte Suhrkamp-Seiten zu lesen – das bringt Lea Haller zur Sicherheit direkt am Anfang auf den Punkt:
"Dieses Buch beleuchtet den Aufstieg des Welthandels. Es untersucht den Wandel des Geschäfts im Zuge technologischer Entwicklungen und politischer Krisen. Und es erzählt die Geschichte einer kapitalistischen Wirtschaft, in der Verkäufer und Käufer nicht auf wundersame Weise im wertfreien Raum eines sich selbst regulierenden Marktes zueinander finden, sondern erst durch Vermittlung überhaupt in Erscheinung treten."
Die Geschichte dieser kapitalistischen Wirtschaft erzählt die Historikerin am Beispiel der Schweiz, einem kleinen Land ohne Meereszugang oder viele Rohstoffe, dessen Bewohner dennoch einen Weg fanden, eindeutig zu Gewinnern der Globalisierung zu werden: den sogenannten Transithandel. Schon seit über 150 Jahren kaufen Schweizer Händler Güter auf der ganzen Welt ein und verkaufen sie andernorts – ohne dass diese je Schweizer Grund berühren:
"Erst wenn man nicht nur den Warenströmen, sondern auch den Kapitalströmen folgt, und wenn man die Rolle des Vermittlers in den Blick nimmt, der aus einem Drittstaat heraus globale Geschäfte tätigt, rückt ein gigantischer Sektor der globalen Wirtschaft in den Blick, der sonst unsichtbar bleibt: der Dienstleistungsexport."
Wie der professionelle Außenhandel entstand
Die Entwicklung dieses Transithandels hat Haller anhand von Firmenarchiven, Handelsstatistiken und Augenzeugenberichten akribisch bis zur Moderne nachvollzogen. Sie beschreibt, wie Schweizer Kaufleute zuerst mit Söldnerdiensten, dann, im 16. und 17. Jahrhundert, mit dem Überseehandel von Luxusgütern und später im Sklavenhandel kühl kalkulierend ihr Kapital vermehrten – bis im Zuge der Industrialisierung die ersten professionellen Transithandelsgesellschaften entstanden:
"Im Unterschied zu den Handelsdynastien des 18. Jahrhunderts kauften sie nicht mehr nur bei anderen Kaufleuten ein, sondern begannen, durch Zweigniederlassungen, Einkaufs- und Verkaufsorganisationen im Landesinneren die ganze Warenkette zu kontrollieren."
Im Kern war es also – zumindest in der Schweiz – eine überschaubare Zahl an Kaufmannsfamilien aus einer bürgerlichen Elite, die nach und nach ein weltumspannendes Handelsnetz aufbaute. Das wiederum verlangte nach Standardisierung: Die internationalen Kaufleute einigten sich der Einfachheit halber auf Formalia wie Lagerscheine und Charterverträge im Frachtgeschäft, und sie führten Schiedsgerichte ein, um internationale Streitigkeiten zu klären.
Die Rolle von Technologie und Politik
Dabei führten technologische Neuerungen immer wieder zu starken Veränderungen ihrer Geschäftstätigkeit – etwa die Telegrafie:
"Bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatten die Kaufleute im Auftrag ihrer europäischen Käufer gegen eine Kommissionsgebühr von rund fünf Prozent Waren at the best possible eingekauft, also auf Vertrauensbasis in bestmöglicher Qualität. […] Mit der Telegrafenverbindung nach Europa, die eine unmittelbare Preistransparenz ermöglichte, wurde es allerdings zunehmend schwierig, Banksicherheiten zu bekommen für Waren, die in unabsehbarer Qualität erst in einem halben Jahr geliefert wurden. […] Sukzessive wurde der ganze Handel von der Nachfrage- auf die Angebotsseite umgestellt."
Vor allem aber zeigt Hallers Buch, wie die Firmen immer wieder auf politische Verwerfungen reagieren. Sie belegt, wie die Händler durch Pragmatismus und Opportunismus selbst über die Weltkriege hinweg hohe Profite generierten – etwa, indem sie Holding-Strukturen aufbauten, um Kapital und Management-Kompetenzen flexibel verschieben zu können.
Zugute kam den Unternehmen dabei die Strategie der Schweizer Institutionen, die einerseits auf politische Neutralität, andererseits auf hohe wirtschaftliche Verflechtung setzten. So verschweigt Haller zum Beispiel nicht, dass die Schweizerische Nationalbank im Zweiten Weltkrieg in großem Umfang deutsches Raubgold aufkaufte. All das führt Haller schließlich zu ihrer zentralen Erkenntnis:
"Die Geschichte des Schweizer Transithandels zeigt, dass der Handlungsspielraum größer ist, als wir gemeinhin annehmen. […] Es war eines der größten Missverständnisse der ökonomischen und politischen Theorie, dass man sich vorgestellt hat, man müsste nur alle politischen Restriktionen und Hemmnisse aushebeln, damit ein reiner Raum des Wirtschaftens zum Vorschein komme – ein System, das sich selbst erzeugt und sich selbst reguliert. Ein solches, von allem menschlichen Tun und allen institutionellen Voraussetzungen losgelöstes Wirtschaften […] gibt es nicht. Auch in einer Zeit größtmöglichen Freihandels sind die wirtschaftlichen Bedingungen menschengemacht."
Hallers Buch ist gut recherchiert und detailreich geschrieben – ein hohes Grundinteresse an Wirtschaftsgeschichte sollte beim Leser also auf jeden Fall Voraussetzung sein. Auch wer Vorwissen über Finanzinstrumente wie Terminkontrakte oder Hedging-Geschäfte mitbringt, tut sich bei der Lektüre wohl zumindest stellenweise leichter. Dann aber ist Hallers Buch auf jeden Fall eine Bereicherung. Wie in den ersten Sätzen versprochen, vermittelt es tiefe Einblicke in die Entstehung des Welthandels und macht klar: Die Globalisierung ist eben kein ungesteuerter Prozess, dem wir automatisch ausgesetzt sind. Sie wurde von transnational denkenden Geschäftsleuten erschaffen und wird von ihnen vorangetrieben – und zwar bis heute. Will man diesen nicht freie Hand gewähren, braucht es Politiker, die ebenfalls über den Nationalstaat hinaus denken und handeln – und das deutlich konsequenter, als es bisher meist der Fall ist.
Lea Haller: "Transithandel. Geld- und Warenströme im globalen Kaptalismus",
Suhrkamp, 512 Seiten, 20 Euro
Suhrkamp, 512 Seiten, 20 Euro