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Lea ist Leo
Über Transidentität bei Kindern

Beratungsstellen registrieren immer mehr und immer jüngere Kinder, die sich nicht ihrem natürlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Wie schnell sollen Eltern reagieren, vor allem mit irreversiblen Eingriffen? Ungeklärt ist noch: Handelt es sich bei Transidentität um eine Krankheit, eine Störung oder einfach um eine normale Variante geschlechtlicher Entwicklung?

Von Lydia Heller |
    Die Geschlechterstereotype werden schon Babys aufgedrängt: Der rosa Schnuller ist für das Mädchen, der blaue für den Jungen. Doch was ist, wenn sich das Kind nicht mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht identifiziert?
    Die Geschlechterstereotype werden schon Babys aufgedrängt: Der rosa Schnuller ist für das Mädchen, der blaue für den Jungen. Doch was ist, wenn sich das Kind nicht mit dem ihm zugewiesenen Geschlecht identifiziert? (Patrik Pleul/dpa picture alliance)
    "…hier sieht man auch: Es ist ein Junge…"
    Statistik der Geburten, Deutschland, 2015. Lebendgeborene: 737.630
    "Ein Junge! Oh!"
    Davon männlich: 378.503
    Christian Meyer: "Wir wussten dann schon im Vorfeld, dass es ein Junge werden wird. Wir haben uns auf einen Jungen gefreut und haben auch einen Jungen großgezogen, vier Jahre lang." Und dann? "Also war dann einfach nicht. Emma. Emma hieß vorher Vincent."
    Davon weiblich: 359.127
    "Die ersten Jahre hab ich mit Jessica verbracht." - Aber? - "Ich bin Cosmo. Das Pronomen, was ich verwende, ist 'er'."
    Timo Nieder: "Die Ärzte und Psychologen haben Angst, die Eltern haben Angst. Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Aber sonst haben alle Angst. Was Falsches zu machen."
    Autorin: "Und du? Als wer wurdest du geboren?"
    Alex: "Naja, ich wurde als Mensch geboren. Und meinen Geburtsnamen erwähne ich nicht."
    Es beginnt spätestens kurz nach der Geburt: Ärzte oder Hebammen werfen einen Blick auf die Genitalien eines Kindes und weisen ihm ein Geschlecht zu: Kind mit Penis männlich, Kind mit Vagina weiblich. Fast immer ist diese Zuordnung mit Erwartungen verbunden.
    "Ich freute mich aufs Zöpfe flechten, Kleider kaufen", heißt es in einem Bericht der Familie eines Trans*Jungen, aufgeschrieben für den Verein Trans-Kinder-Netz. "Als Greta zwei Jahre alt war, bekam sie einen Puppenwagen. Ein Mädchen braucht einen Puppenwagen."
    "Philipp freut sich, dass er einen Bruder bekommt", schreibt die Mutter eines Trans*Mädchens. "Bei uns wird in Zukunft sicher viel Fußball gespielt."
    Die Mehrheit der Kinder empfindet sich als Mädchen oder Junge. Übereinstimmend mit ihrem Körper und dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Und die meisten verhalten sich auch so, mehr oder weniger, wie Eltern und Freunde, Verwandte und andere Bezugspersonen es erwarten - von einem Mädchen oder einem Jungen.
    Die meisten. Aber nicht alle.
    "Bei meiner Tochter war es so, dass die dann, in den Kindergarten gehend, Mädchen-Kleidung anziehen wollte, also klassische Mädchenkleidung, die wir als solche bezeichnen", berichtet Christian Meyer, Vater von Emma. Die nach der Geburt als männlich bestimmt wurde:
    "Der Nachteil ist dann unser liberales Milieu, da ist's egal ob Mädchen- oder Jungskleider oder so. Bis man kapiert: Diese klare Zuschreibung ist das, was sie eigentlich will."
    Seit dem Jahr 2000 werden immer mehr Kinder wegen Fragen der Geschlechtsidentität vorstellig
    Lachendes kleines Mädchen, Juni 2014
    "Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst" (picture alliance / dpa / ZB / Patrick Pleul)
    Trans-Menschen empfinden einen Widerspruch - zwischen dem Geschlecht, in dem sie sich selbst erleben - und dem Geschlecht, das ihnen aufgrund ihrer Körpermerkmale zugewiesen wurde. Erleben sie sich klar dem sogenannten "Gegengeschlecht" angehörig, spricht man auch von transidenten Personen, oder - ein wenig veraltet - von Transsexuellen.
    "Und das sagen auch kleine Kinder schon, wenn sie fähig sind, sich sprachlich zu äußern, also mit drei, vier. Sätze wie: Ein Mädchen sein, das fühlt sich einfach besser an, das da unten, das gehört nicht zu mir, das soll ab - fällt es irgendwann noch ab?", sagt Karoline Haufe vom Verein Trans-Kinder-Netz:
    "Und es kommen manchmal solche Wünsche: Warum kann ich denn nicht nochmal geboren werden, dann möchte ich gleich als Mädchen geboren werden und warum ist denn das so?"
    Wie viele Kinder und Jugendliche diesen Konflikt erleben, dazu gibt es in Deutschland keine repräsentativen Zahlen. Etwa seit Anfang 2000 beobachten Ärzte und Psychologen jedoch, dass immer mehr Kinder mit Fragen zu ihrer Geschlechtsidentität bei ihnen vorgestellt werden. In der Spezial-Sprechstunde des Universitätsklinikums Frankfurt/Main etwa suchten im Zeitraum von 1987 bis 2000 insgesamt 49 Minderjährige Rat. Inzwischen ist ihre Zahl auf etwa 640 gestiegen - jede Woche kommen vier neue dazu.
    Die Kinder stehen im Zentrum einer aufgeladenen Kontroverse. Im Kern geht es um die Frage, wer sie überhaupt sind. Gibt es als Jungen geborene Kinder, die tatsächlich Mädchen sind - und umgekehrt? Und wenn ja: wie unterstützt man sie dann am besten darin, ihre Identität zu leben? Oder: ist es Ausdruck einer Störung, wenn als Jungen oder Mädchen geborene Kinder sich transident äußern? Muss man ihnen dann nicht eher helfen, die Folgen dieser Störung zu lindern?
    "Ich hab auch früher eher mit Matchbox gespielt statt mit Barbies. Und ich hab mich - die meisten würden das jetzt als männlich betrachten - angezogen", schildert Cosmo. "Und dann haben auch die Mädchen versucht mich zu schminken oder mir einzureden, ich müsste mich anders anziehen. Und da hab ich dann gemerkt, dass das einfach nicht ich bin. Ich fand das nicht nur körperlich unbequem, ich hab mich gefühlt, als würde ich irgendein, auch wirklich hässliches, Kostüm tragen. Ich hab mich wie so ein Clown gefühlt. Der da einfach nicht reinpasst."
    "Lea spielte hin und wieder Prinz und Prinzessin, aber nur, wenn sie der Prinz sein durfte", berichtet die Familie von Leo. "Mit fünf Jahren begann der Schwimmkurs. Lea weigerte sich, das Bikinioberteil anzuziehen, weil Jungs sowas nicht haben. Sie lief auch sonst beim Baden in die Jungenumkleide und auf das Jungenklo."
    Einige Studien zeigen, das Geschlechtsidentitätsstörungen mit der Pubertät meist vergehen ...
    Hartmut Bosinski: "Einzelne Symptome rechtfertigen keinesfalls die Vergabe einer Diagnose - der Junge, der lieber Klavier als Fußball spielt, das Mädchen, das lieber auf Bäume klettert als mit Barbie spielt, hat keine Störung. Es hat eine zu tolerierende Varianz des geschlechtlichen Verhaltens."
    Bis zu fünf Prozent aller Kinder unter zwölf Jahren zeigen im Laufe ihrer Kindheit sogenanntes "geschlechts-atypisches Verhalten". Phasen, in denen sie von den Normen abweichen, die in der Gesellschaft für Mädchen und Jungen gelten.
    "Dagegen ist die Geschlechtsdysphorie, also eine Vielzahl dieser Merkmale verbunden mit Leidensdruck, äußerst selten. Wir gehen von einer Häufigkeit von unter 0,1 Prozent aus."
    Hartmut Bosinski ist Professor für Sexualmedizin in Kiel. Er ist einer der ersten Wissenschaftler in Deutschland, die zur Geschlechtsidentität von Kindern und Jugendlichen geforscht haben.
    In den meisten Fällen - so zeigen Studien aus den Niederlanden und Kanada - vergeht die Störung wieder. Ein Großteil der Kinder mit Geschlechtsdysphorie arrangiert sich im Laufe der Adoleszenz mit dem eigenen Körper und entwickelt eine homosexuelle Orientierung, so Bosinski:
    "Es ist in der Tat wichtig für das weitere Schicksal des Kindes, festzustellen, dass 80 Prozent der Kinder mit dem Vollbild der Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter nach der Pubertät dieses Problem nicht mehr haben. Nur bei 20 Prozent bleibt die Störung über die Pubertät hinaus bestehen. Das sind die persistierenden Verläufe, die dann auch im Jugendalter die Diagnose einer Transsexualität erfüllen und denen dann nur mit medizinischen Maßnahmen zu helfen ist."
    ... doch die Methoden und Ergebnisse dieser Studien werden infrage gestellt
    Die Studien sind methodisch hochumstritten: Zu wenige Kinder seien einbezogen worden und auch solche, die nur leicht geschlechtsdysphorisch gewesen seien. Nicht alle seien über die Gesamtdauer der Studien beobachtet worden. Und bei denen, die am Ende nicht mehr dabei waren, sei man einfach davon ausgegangen, dass sie sich mit ihrem Geburtsgeschlecht arrangiert hätten.
    Trotz aller Schwächen verweisen die Arbeiten aber auf einen entscheidenden Punkt: Bisher kann die Forschung keine gesicherten Aussagen darüber liefern, wie ein betroffenes Kind sich nach der Diagnose ins Erwachsenenleben hinein weiterentwickeln wird.
    "Ich war auch relativ untypisch so als Kind. Ich hab auch mit Jungs Fußball gespielt und so."
    Alex. Als Mädchen geboren und aufgewachsen.
    "Aber ich hab mich nie als Mädchen gefühlt. Am Anfang hab ich sehr versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass ich kein Mädchen bin. Weil ich nicht wusste, dass es auch Menschen gibt, die keins von den zwei Geschlechtern haben. Ich dachte: ‚Okay, wenn ich kein Mädchen bin, muss ich ja wohl das Gegenteil sein. Und ja, jetzt bin ich so wie ich bin."
    Alex bezeichnet sich heute als agender - weder "sie" noch "er":
    "Weil ich mich nicht auf dem binären Spektrum, also Mann und Frau, identifiziere."
    Sollte die kindliche Entwicklung der Geschlechtsidentität psychologisch beeinflusst werden?
    Zu sehen ist ein Junge mit seinem Teddy auf dem Arm
    Wenn Jungen mit Puppen spielen, gilt das schnell als "geschlechts-atypisches Verhalten", ... (dpa picture alliance / Jens Wolf)
    Geschlechtsdysphorie - schon um die Diagnose toben Grabenkämpfe. Kenneth Zucker, Psychologe und einer der ersten überhaupt, die dieses Phänomen als Störung beschrieben haben, musste Ende 2015 seinen Hut nehmen. Die Child Youth and Family Gender Identity Clinic in Toronto, die seit 1975 geschlechtsdysphorische Kindern betreut hatte und deren Leiter er lange Jahre war, wurde geschlossen. Der Vorwurf: Die Klinik ziele auf eine Umerziehung von Trans*-Kindern ab und zwinge sie unnötig lange dazu, im falschen Geschlecht zu leben.
    Wer die Ansicht teilt, dass Kinder mit Geschlechtsdysphorie unter einer Störung leiden, die wahrscheinlich mit der Pubertät verschwindet - der ist zurückhaltend mit allen Maßnahmen, die das Kind früh darin bestärken, in der Rolle des als richtig empfundenen Geschlechts zu leben. Dessen Fokus liegt eher darauf, mögliche Rollen-Konfusionen aufzudecken und aufzulösen.
    Bosinski: "Wir sehen beispielsweise wesentlich mehr Jungen, die vorgestellt werden, im Kindesalter, als Mädchen. Warum? Ein Junge, der mit Puppen spielt, wird stärker in die Optik genommen als ein Mädchen, weil sie lieber Hosen trägt, was eher ein Wildfang ist. Das hat weniger Probleme. Wir können daran sehen, wie stark die Rolle der kulturellen Bewertung fürs Verhalten eines Kindes ist. Ein Junge, der gerne pinke Sachen trägt, muss deswegen nicht zum Mädchen werden. Ein Mädchen, was lieber Fußball spielt, muss nicht zum Jungen gemacht werden."
    Stattdessen sollten Psychotherapeuten die Kinder ermuntern, eine Vielzahl von Möglichkeiten auszuloten, in denen sie ihr Geburtsgeschlecht ausdrücken und in ihm leben können. Die Fokussierung auf das Gegengeschlecht solle aufgebrochen - letztlich auf eine Aussöhnung mit dem eigenen Körper hingewirkt werden.
    Der Ansatz basiert auf der Annahme, dass das Umfeld eines Kindes die Entwicklung seiner Geschlechtsidentität wesentlich beeinflusst. Es ist nicht unmöglich, sagen dessen Vertreter, dass - zum Beispiel - ein Junge im Kleinkindalter mitbekommt, dass die neugeborene Schwester mehr Aufmerksamkeit von den Eltern erhält. Und er daraufhin beginnt, die Rolle eines Mädchens einzunehmen, um die gleiche Aufmerksamkeit zu bekommen. Solche Konflikte müssten entdeckt und aufgelöst werden, um die Störung zu beheben.
    Eine Gruppe Mädchen spielt Fußball
    ... während fußballspielende Mädchen gesellschaftlich inzwischen viel akzeptierter sind (picture-alliance / dpa / Tobias Hase)
    Doch gerade das, warnt die Gegenseite, verursacht Leid:
    Karoline Haufe: "Da gibt es viele Beobachtungen von Eltern, dass sie sagen: mein Kind ist traurig aber auch aggressiv und ich weiß gar nicht, was das ist. Und nach dem Coming Out beobachten viele Eltern, dass die Kinder aufblühen, wenn man sie so leben lässt, wie sie das wollen."
    "Nach einem Dreivierteljahr des Probierens zu Hause wechselte Karl die Rolle komplett ins weibliche, also auch in der Kita. Sie hieß nun Lisa", so der Bericht der Mutter eines Trans*Mädchens für den Verein Trans-Kinder-Netz: "Auf Bemerkungen von mir wie: 'Es könnte sein, dass nicht alle verstehen, dass du Mädchenkleidung trägst', Lisa ganz selbstsicher: 'Keiner schafft es mich zu verändern'. Da war sie fünf Jahre alt. Sie wirkte auf einmal so stark. So kannte ich mein Kind gar nicht."
    Christian Meyer: "Der eigentliche Wow-Effekt war dann, wo der Name geändert wurde, das Schulzeugnis geändert wurde, das war dann sozusagen ein neuer Geburtstag. Ab dem Tag ging sie als Mädchen in die Schule, alles war gut. Ist ein anderes Kind dadurch. Ein noch glücklicheres."
    Oder sollte man Trans*-Kinder darin bestärken, so zu leben, wie sie wollen?
    Etwa seit den frühen 2000er Jahren vollzieht sich ein Paradigmenwechsel - in der Sicht auf Trans*-Kinder und in der Art, sie zu begleiten. Unterstützt von Eltern-Initiativen, erwachsenen Trans-Personen und Aktivisten vertritt eine Reihe von Forschern inzwischen einen "gender-affirmativen Ansatz".
    Er geht davon aus, dass man Kinder mit einer Trans-Identität als solche identifizieren kann - und dass man ihnen früh den Weg in ein Leben mit dem richtigen Geschlecht ebnen sollte.
    "Wir wissen inzwischen eine Menge darüber, was man in Therapien machen kann, um Kinder in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität zu beeinflussen. Über den anderen Weg wissen wir dagegen noch gar nichts: Was passiert, wenn man ihnen sagt: Okay, Du kannst so leben, wie Du willst. Ich werde Dich darin unterstützen."
    Die Psychologin Kristina Olson von der University of Washington in Seattle untersucht seit 2014 die Entwicklung der Geschlechtsidentität von US-amerikanischen und kanadischen Kindern zwischen drei und zwölf Jahren - die sich als transgeschlechtlich identifizieren und von ihren Eltern unterstützt werden. Vergangenes Jahr präsentierte sie erste Ergebnisse von Tests mit 32 dieser Kinder, die sie mit anderen Gleichaltrigen verglichen hatte:
    "Eine Frage, die ja immer wieder gestellt wird, ist: 'Sind diese Kinder wirklich transident? Vielleicht tun sie ja nur so!' Deshalb haben wir die Kinder unter anderem einem Assoziations-Test unterzogen. Dabei müssen sie Bilder von Kindern zuordnen zu Begriffen wie 'weiblich' oder 'männlich', 'ich' oder 'nicht ich' - und ein Computer misst, wie schnell sie diese Verbindungen herstellen.
    Je klarer sich jemand identifiziert, desto schneller ist er, es ist sehr schwer, sich dabei zu verstellen. Und: Aus den Antworten lässt sich letztlich nicht erkennen, ob sie von einem Mädchen oder einem Trans-Mädchen kommen. Aber man kann - in dem Fall - sicher sagen, dass sie nicht von einem Jungen kommen."
    Trans*-Kinder, die in ihrem als richtig empfundenen Geschlecht leben dürfen, sind den ersten Ergebnissen zufolge psychisch kaum belasteter als andere Kinder. Und - so fand Olson: Auch in der Art, wie Trans*-Kinder ihre Geschlechtsidentität ausdrücken, unterscheiden sie sich nicht: Auch sie durchlaufen Phasen, in denen sie sich mehr oder weniger explizit als Junge oder Mädchen verhalten.
    Ob sich auf Basis solcher Tests sagen lässt, ob die damit identifizierten Kinder sich auch als Erwachsene noch transgeschlechtlich erleben - dazu lassen sich frühestens in zehn Jahren Aussagen treffen. Zwar liefern Biologen und Neurowissenschaftler mehr und mehr Hinweise, dass Geschlechtsdysphorie oder Transidentität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal ist. Das sich früh zeigen kann und erhalten bleibt. Ausreichend belegt ist das aber nicht.
    Ist eine frühzeitige "soziale Transition" unter Umständen problematisch?
    Kein Test, kein Marker, kein Blutwert kann eine Transidentität bisher eindeutig identifizieren. Und trotzdem: Dass Kinder schon als Vier- oder Fünfjährige komplett die Rolle wechseln - von Haarschnitt und Kleidung bis hin zur Änderung von Vornamen und Pronomen - das setzt sich mehr und mehr durch. Zahlen der Amsterdamer Gender Identity Clinic zufolge waren es zwischen den Jahren 2000 und 2004 rund drei Prozent der dort vorgestellten Kinder, die so eine vollständige soziale Transition vollzogen hatten. Zwischen 2005 und 2009 waren es fast 9 Prozent.
    "Grundsätzlich spricht nichts dagegen, das Kind in der Rolle leben zu lassen, wie das Kind es wünscht."
    Timo Nieder. Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat der Psychologe 2013 zusammen mit Kolleginnen das erste interdisziplinäre Transgender-Versorgungszentrum Deutschlands gegründet, eine Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche gehört dazu. Wird ein früher umfassender Rollenwechsel professionell begleitet, so die Erfahrung dort, dann kann er einem Kind helfen, zu wachsen und sich zu entwickeln:
    "Es gibt aber auch Fälle, in denen eine soziale Transition früh unterstützt wurde und alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, damit das Kind entsprechend leben kann. Und das Kind aber im Zuge der Pubertät sich doch anders entschieden hat. Und dann Ängste hatte, dass dem Kind vielleicht nicht geglaubt werden könnte, wenn es doch wieder in die ursprüngliche Rolle zurückkehren möchte. Das darf passieren. Es ist nicht dramatisch, wenn ich mal für ein paar Jahre in der einen Rolle und andere Jahre in der andern Rolle gelebt habe."
    Eine Rück-Transition könne mit Leiden verbunden sein, das möglicherweise größer ist als das, das entsteht, wenn man Kindern eine frühe soziale Transition verwehrt. Argumentieren dagegen Thomas Steensma und Peggy Cohen-Kettenis. Die Forscher hatten 2011 am University Medical Center in Amsterdam junge Erwachsene befragt, die als Kinder sozial transitioniert waren und später wieder in ihrem Geburtsgeschlecht leben wollten. Zwei Mädchen berichteten von einer langen Phase voller Scham darüber, erklären zu müssen, dass sie mit ihrem kindlichen Empfinden falsch gelegen hatten.
    Hartmut Bosinski: "Eine zu frühe soziale Transition legt das Kind frühzeitig fest! Und es spricht alles dafür, dass eine zu frühe Transition den Weg in eine hormonelle und chirurgische Transformations-Behandlung bahnt. Und das ist kein Spaziergang, sondern ein komplexer, schwerwiegender, komplikationsbelasteter und lebenslanger Eingriff in den gesamtkörperlichen Haushalt."
    Durch GnRH-Analoga kann die Entwicklung einer "falschen Pubertät" unterdrückt werden
    Ein Piktogramm für Männer- und Frauen-Toiletten
    Mit GnRH-Analoga kann die Entwicklung der Pubertät unterdrückt werden, bis sich das Kind über seine Geschlechtsidentität besser im Klaren ist. Ob das den Leidensdruck verringert oder sogar erhöht, ist umstritten. (picture alliance / dpa/ Jens Kalaene)
    Karoline Haufe: "Diese sogenannte 'soziale Transition' ist nicht mehr ausreichend, wenn körperliche Veränderungen in der Pubertät bevorstehen. Also: der Bart soll nicht wachsen, gibt's da Tabletten dagegen? Das sind ganz klare Reaktionen, die Kinder haben."
    "Ja. Ich ekel mich halt immer noch davor. Vor den Brüsten", sagt Cosmo. "Ich erinnere mich noch, wie ich das meiner Mutter gesagt hab, welches Mädchen sagt schon mit zwölf Jahren: Ich würde mir am liebsten die Brüste abhacken! Alle anderen haben sich gefreut: Jetzt kann ich einen BH tragen! Und ich wollte die am liebsten gar nicht haben."
    Haufe: "Und dann sind die Familien damit konfrontiert: Nehmen wir medizinische Behandlungen in Anspruch? Dann geht es darum, Blocker zu geben oder im nächsten Schritt dann gegengeschlechtliche Hormone oder auch geschlechtsangleichende Operationen."
    Bei vielen älteren Kindern steigt der Leidensdruck massiv, sobald sich die sekundären Geschlechtsmerkmale zu entwickeln beginnen. Um dem zu begegnen, gibt es seit rund zwanzig Jahren die Möglichkeit, pubertäts-unterdrückende Hormone zu geben - sogenannte GnRH-Analoga, synthetische Varianten des Neurohormons Gonadotropin-Release-Hormon. Sie blockieren den GnRH-Rezeptor im Gehirn und unterdrücken dadurch die Produktion der Sexualhormone Testosteron oder Östrogen. Brüste oder Bart wachsen nicht, Menstruation oder Stimmbruch setzen nicht ein.
    Haufe: "Für ganz viele ist das ein ersparter Leidensweg. Es verhindert die falsche Pubertät."
    "Bei manchen Leuten, die hier herkommen, die muss man erstmal beglückwünschen, dass sie noch am Leben sind", berichtet Mari Günther. Die Therapeutin betreut rund 30 Trans*-Kinder und Jugendliche im Berliner Verein queer leben.
    Alex: "Weil ich so sehr unzufrieden war mit meinem Körper. Ich hatte Essstörungen, ich wollte mich umbringen, ich habe mich selbst verletzt, ich konnte nicht in den Spiegel kucken und irgendwas sehen, was ich mag. Also, die Pubertät war wirklich schwer für mich."
    Cosmo: "Ja, also ich war auch sehr frustriert immer und aggressiv. Und ich hatte wirklich diesen schrägen Gedanken, dass ich vielleicht doch noch zum Jungen werde. Oder so."
    Alex: "Ich hätte mir tatsächlich gewünscht, dass sich gar nichts verändert hätte. Also, bevor die Pubertät passiert ist, so wie ich davor war, wenn ich das hätte einfrieren können. Ja, das wär' gut gewesen."
    Wird durch eine pubertätsunterdrückende Hormonbehandlung eine altersgerechte sexuelle Entwicklung behindert?
    Ein verliebtes Paar genießt in Mainz am Rheinufer das sonnige Wetter und küssen sich auf der Uferpromenade.
    Kritiker meinen, dass die Hormonbehandlung altersgerechte sexuelle Erfahrungen, die für die Festigung der Geschlechtsidentität wesentlich sind, unterdrücke (Picture Alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    Sind sekundäre Geschlechtsmerkmale erstmal entwickelt, ist es kaum möglich, dies rückgängig zu machen. Werden die als falsch empfundenen Körpermerkmale jedoch gar nicht erst vollständig ausgeprägt, sind viele langwierige Behandlungen später nicht nötig.
    In erster Linie ist die Pubertätssuppression aber eine Art Moratorium. Sie verschafft den Kindern und Jugendlichen zwei bis drei Jahre Zeit, um mehr Klarheit zu gewinnen. Unter psychotherapeutischer Begleitung wird der individuell passendste Weg gesucht, mit der Identität, dem Körper, dem Umfeld zurechtzukommen - vielleicht auch außerhalb der herrschenden zweigeschlechtlichen Lebensentwürfe. Allerdings, so Timo Nieder:
    "Mir ist kein Fall bekannt, in dem nach einer pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung nicht die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung gefolgt ist. So dass ich schon den Eindruck habe, mit Beginn der pubertätsunterdrückenden Hormonbehandlung wird ein Track geschaffen, der dann eine Eigendynamik entwickelt."
    Bosinski: "Es scheint so zu sein: wenn der Weg einmal gebahnt ist, scheint er irreversibel in Richtung Transsexualität zu gehen. Das zweite, was man sagen muss: Diese GnRH-Analoga, die für die Pubertäts-Blockade genutzt werden, sind in ihren Langzeitwirkungen nach der Anwendung im Kinder- und Jugendalter noch völlig unzureichend untersucht. Es ist durchaus anzunehmen, dass die Hirnreifung, die noch nicht abgeschlossen ist in der Kindheit, dadurch beeinflusst wird. Es ist zu fragen, wie es sich auf den Knochenstoffwechsel auswirkt etc."
    Neurobiologen weisen seit einigen Jahren daraufhin, dass es in der Pubertät zu einer grundlegenden Reorganisation des Gehirns kommt. Es wird sensibler und flexibler, unter anderem entwickeln sich die Fähigkeiten zur Empathie und komplexem Denken. Welche Rolle die Sexualhormone dabei spielen, ist unklar. Klar ist aber: die hormonellen Umstellungen in der Pubertät verändern nicht nur den Körper. Sie erst ermöglichen Erfahrungen, die wesentlich für die Festigung der Geschlechtsidentität sind.
    Bosinski: "..dass es nun zum Auftauchen sexueller Fantasien kommt. In der Pubertät erfährt der Jugendliche, wie er seine sexuellen Wünsche in Übereinstimmung bringen kann mit seinen körperlichen Gegebenheiten. Ob es ihm möglich ist, seine Körperlichkeit lustvoll zu erleben und auch lustvoll beispielsweise auf Angehörige des eigenen Geschlechts einzubringen."
    Wird die Pubertät blockiert, fürchten Kritiker der Behandlung, bleibt die Auseinandersetzung mit sexuellen Fantasien aus. Auch andere altersgerechte, psycho-sexuelle Erfahrungen blieben den Jugendlichen verwehrt - und wie sie sich unter dem Einfluss der Hormone ihres Geburtsgeschlechts entwickelt hätten, ist nicht mehr herauszufinden. Letztlich sei nicht auszuschließen, dass ein anhaltendes Zugehörigkeitsgefühl zum Gegengeschlecht erst durch die Blockade hervorgerufen - oder zumindest verfestigt wird.
    Die klinische Erfahrung zeigt bisher, dass behandelte Kinder keine emotionalen, sozialen oder kognitiven Auffälligkeiten aufweisen - die Behandlung wird seit Mitte der 2000er Jahre mehr und mehr akzeptiert. Denn auch das Nicht-Eingreifen in die natürliche Pubertät kann bei transidenten Jugendlichen einen gesunden Reifeprozess verhindern.
    Über die richtige Herangehensweise scheiden sich nach wie vor die Geister
    "Wir wissen, dass der Leidensdruck, der häufig geäußert wird zu Beginn der Pubertät, aufgrund der sich entwickelnden Körpermerkmale, dass der dazu führt, dass diese Jugendlichen häufig mehr psycho-soziale Probleme haben oder beeinträchtigt sind in ihrem Leben und in ihrer psychischen Entwicklung."
    So berichtet Inga Becker, wissenschaftliche Betreuerin der Spezialsprechstunde für Kinder und Jugendliche am Transgender-Versorgungszentrum Hamburg-Eppendorf. Ihre Erfahrung: Aus Scham und Unsicherheit gehen viele Trans-Jugendliche keine Freundschaften ein und verzichten auf sexuelle Kontakte:
    "Und das heißt, dass diese medizinischen Maßnahmen, wenn sie dann diesen Leidensdruck reduzieren, erst einmal ermöglichen, dass überhaupt all diese Erfahrungen möglich sind."
    Therapeutin Mari Günther: "Erst wenn sie das Gefühl haben: 'Okay, mein Körper, der lässt mich jetzt mal ein Weilchen in Ruhe', kann man auch über andere wichtige Themen reden: 'Wie kann das in der Schule gehen, wie stelle ich mir das in meinem Beziehungsleben vor, hab ich Kinderwunsch' - und all diese Sachen. Die natürlich in diesem Alter nicht oben auf liegen, die aber in einer solchen Situation wichtig zu besprechen sind."
    Eine Hormonbehandlung ist vertretbar, schreibt die britische Medizin-Ethikerin Simona Giordano, wenn die vermuteten langfristigen Folgen einer Nicht-Behandlung schwerwiegender sind als die vermuteten langfristigen Folgen einer Behandlung.
    Konkreter wird kaum jemand derzeit, in der Debatte um Kinder mit Geschlechtsdysphorie.
    Timo Nieder: "Die Ärzte und Psychologen haben Angst, die Eltern haben Angst. Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Aber sonst haben alle Angst. Was Falsches zu machen."
    Hartmut Bosinski: "Das sollte uns aber nicht Anlass dazu sein, nun schwerwiegende körperliche Eingriffe vorzunehmen. Zunächst einmal wäre es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir in der Gesellschaft eine wesentlich größere Toleranz brauchen gegenüber geschlechts-atypischen Verhaltensweisen, wie wir sie kulturell festgelegt haben."
    Inga Becker: "Zum aktuellen Zeitpunkt ist es so, dass man mit einer sozialen oder körperlichen Transition erst ab dem Jugendalter anfangen würde. Und da kann man schon sehen, dass die Jugendlichen ein besseres psycho-soziales Funktionsniveau aufweisen als jene, die erst später, also nach der abgeschlossenen Pubertät, behandelt werden.
    Deswegen ist eine Behandlung, sei es psycho-sozial als auch körpermedizinisch, auch ethisch vertretbar aus meiner Sicht. Ab wann man damit beginnt, das ist immer noch die Frage - und da gibt's auch kaum wissenschaftliche Erkenntnisse dazu."
    Karoline Haufe: "Kindern wird ganz oft die Fähigkeit abgesprochen, die Tragweite einer Entscheidung abschätzen zu können. Aber, sofern sie nicht ungeoutet leben, erfahren sie ja jeden Tag, dass sie vermeintlich anders sind als die anderen. Und diesen Weg geht kein Kind dauerhaft freiwillig. Und insofern können Kinder sehr wohl diese Entscheidung über ihr Selbst treffen."
    Nieder: "Wahrscheinlich haben die Kinder am allerwenigsten Angst. Muss man mal sagen."
    Alex: "Ich denke, dass man Kinder auf jeden Fall ernst nehmen sollte. Wenn sie über ihre Gefühle sprechen. Und selbst, wenn sie nur rumexperimentieren - man sollte sie es machen lassen."
    Es sprachen: Janina Sachau, Stefko Hanushevsky, Gerd Daaßen, Anja Gawlick
    Ton und Technik: Stephanie Brück
    Regie: Claudia Kattanek
    Redaktion: Christiane Knoll
    Produktion: Deutschlandfunk 2016