Die doppelte Lücke wird jetzt durch zwei gleichzeitig erschienene Biographien geschlossen. Ulrike Bergmann legt eine wohlinformierte, aus den primären Quellen gearbeitete Biographie vor, die Einfühlung mit kritischer Distanz verbindet. Der kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Hintergrund ist vorzüglich präsent. Das Buch von Gabriele Büch über Adele, das sich entgegen der Marketing-Verheißung des Titels mit einem nichts weniger als traumhaften Leben befasst, darf als biographische Pionierleistung gelten. Wie bei Bergmann folgt die Darstellung so weit wie möglich den primären Quellen. Auch als Autorin wird Adele so eingehend wie bisher noch nie gewürdigt.
Überblickt man die Geschichte der Schopenhauers im Zusammenhang, so stellt sie sich wie eine Illustration jenes berühmten "Verfalls einer Familie" dar, den ein großer - auch an Missverständnissen großer - Leser Arthur Schopenhauers beschrieben hat: Thomas Mann in seinen Buddenbrooks.
"Verfall einer Familie" - auf allen Ebenen: Der Vater tötet sich. Sein Handelshaus wird liquidiert. Die Mutter verschwendet tunlichst, wie es scheint, das Erbe der Kinder. Mutter und Sohn zerstreiten sich hoffnungslos. Bei dem Bankrott eines Danziger Großschuldners gehen beträchtliche Teile des Familienvermögens verloren. Im Anschluss daran zerreißen die familiären Restbindungen fast ganz. Die Mutter verarmt, verliert auch den Glanz des Goethe-Kreises, in dem sie sich etliche Jahre sonnen konnte. Adele liebt sich unglücklich durch ihr enttäuschtes Leben. Nur Arthur bleibt übrig; aber auf welchem familiären Ruinenfeld! Das Nichts, das er am grandiosen Schluss seines Hauptwerkes als nur relatives beschwört, scheint sich familiär zum absoluten auszuwachsen. Kurzum: Nicht nur "Verfall einer Familie", sondern sogar Zerfall.
Gleichzeitig ist freilich ein unerhörter schöpferischer Steigerungsprozess zu beobachten, auch das wieder anklingend an ein Syndrom Thomas Manns. Und dieser Steigerungsprozess hängt zusammen mit dem Geist einer Familie, die nichts weniger als eine Heilige Familie war und eben daraus außergewöhnliche Befreiungsgrade gewann.
Als Johana sich im Herbst 1806 in Weimar niederlässt, da wird ihr so etwas wie die Gnade einer historisch doppelt günstigen Ankunft zuteil. Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt kann sie sich als geistesgegenwärtige, couragierte, welterfahrene und großzügig hilfsbereite Frau profilieren. Gleichzeitig zieht der seinen "Bettschatz" ehelichende Geheime Rat Goethe, der gegenüber bourgeoisen wie bourgeoisen Philistern die Unterstützung einer unverbiesterten Liberalen wie Johana gebrauchen kann, als Dauergast in ihre bald berühmten Teegesellschaften ein: "Ich denke wenn Göthe ihr seinen Namen giebt können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben." So Johana über Goethes "alte geliebte Vulpius".
Vielleicht noch bemerkenswerter Johannas Freimut, als der mit ihrer Hilfe von seiner Kaufmannsfron befreite Arthur auf Distanz zu halten ist, weil er als Nachfolgepatriarch des tyrannischen Mannes ihre Lebensführung bedroht: " Es ist zu meinem Glücke nothwendig zu wissen, daß Du glücklich bist, aber nicht ein Zeuge davon zu sein." Die Gluckenrolle hat sie nicht im Repertoire.
Und das befähigt sie schließlich auch zu jener zitierenswertesten aller familiären Maximen, als es zwischen ihr und dem Sohn über ihren Hausfreund und wohl auch Geliebten Müller von Gerstenbergk zu unlösbaren Differenzen kommt: "Wir beide sind Zwei das Wort habe ich zu oft von Dir gehört als daß ichs nicht behalten haben sollte."
Ganz anders freilich, trauriger, bitterer scheint es um Adele zu stehen. Ist sie nicht zwischen den Willenspotenzen von Mutter und Bruder zerrieben worden? Die Literatur hat lange Zeit diesen Eindruck vermittelt - und im übrigen gerne das Bild einer zwar talentierten, aber nun einmal potthässlichen, vor der Zeit alt und altklug gewordenen Jungfer der Schönen Künste entworfen. Die Karikatur Thomas Manns in "Lotte in Weimar" gibt die "Demoiselle Schopenhauer", die "Adelmuse", eine Art Donna Quichotta des Weimarer Musenvereins gnadenlos dem Gelächter preis.
Tatsächlich geben Adeles Tagebücher und Briefe diesem Bild einige Nahrung. Wir sehen sie als immer verliebtes, meist beliebtes, nie richtig geliebtes altes Mädchen, das exaltiert seine überhitzte Gefühlskultur pflegt, ohne jemals mit der Realität in die Wochen zu kommen; dessen Innenleben stets in dem Maße ins Kraut schießt, wie es jede unmissverständliche Äußerung vermeidet.
Doch bei näherem Zusehen entdeckt man eine eindrucksvolle Frau mit einem bewegenden Geschick. Adeles Beziehung zu Johanna ist von tiefer Zwiespältigkeit geprägt. Illusionsloser, härter kann eine Tochter ihre Mutter nicht sehen; Adele ist nichts weniger als naiv; sie feiert keine Opferteste angeblicher Selbstlosigkeit. Allerdings hat sich Adele nie von ihrer Mutter wirklich gelöst. So gerät sie nach dem Bruch zwischen Johanna und Arthur zwischen die Fronten.
Gleichwohl bewahrt sie beiden eine erstaunliche Loyalität. Sie sucht zu vermitteln und wenigstens etwas Wärme in die zerrütteten Familienverhältnisse zu bringen. Die Beziehung zu Arthur nimmt sie ohne Wissen der Mutter wieder auf. Zugleich widerspricht sie seinen Invektiven und verteidigt sogar Johannas Rang als Autorin gegen seine Frauenfeindlichkeit. Am Ende wirbt sie, wenn nicht um Verständnis, so doch um Mitleid für "die alte Frau". Kurz: Auch Adele verfügt im Konfliktfall - und in dieser Familie, gibt es fast nur Konfliktfalle - über die Widerstandskraft, die das gemeinsame charakterologische Erbteil der Schopenhauers ist.
Ihre eigene Lebenslinie freilich endet bis auf die Beziehungen, die ihr Freundschaftsgenie pflegt, in Düsternis. Von der "glänzlichen Schutz- und Rathlosigkeit" der Halbwaisen bis zur Grenzsituation zwischen Wahnsinn und Selbsttötung reichen die Extreme ihres Lebenslaufs. Sie ist zutiefst mit der "Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens" In einem bewegenden Brief an den Bruder findet sich ihr ungeschöntes Selbstporträt: "Ich suchte mir zu helfen und fand Mittel aus, das Leben zu ertragen, ohne Freude, aber doch ohne Klagen, und mein Körper blieb länger krank als meine Seele (...) Ich lebe ungern, scheue das Alter, scheue die mir gewiß bestimmte Lebenseinsamkeit (...) Ich bin stark genug um diese Öde zu ertragen, aber ich wäre der Cholera herzlich dankbar, wenn sie mich ohne heftige Schmerzen der ganzen Historie enthöbe. (...) trifft es mich - eh bien! einmal endigt es mir gleich viel wann (...) Doch bin ich nicht menschenscheu. Du glaubst die menschliche Natur zu kennen, ich manchmal auch, manchmal bescheide ich mich, und glaube, daß ich anfange mich zu kennen".
Am 25. August 1849 stirbt sie, bis zum Tode von ihrer Bonner Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen gepflegt, an Unterleibskrebs.