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Leben als Literatur

Franz Kafka gilt heute als einer der größten deutschsprachigen Schriftsteller überhaupt. Seine Werke sind in der ganzen Welt verbreitet und zählen überall zur Schullektüre. Wenige Monate nach seinem Tod, am 26. April 1925, heute vor achtzig Jahren, erschien der Roman "Der Prozess" - obwohl Kafka seinem Freund geboten hatte, seine Schriften nach seinem Tod restlos zu verbrennen. Es war der erste kleine Schritt zum Weltruhm.

Von Helmut Böttiger |
    Als der Roman "Der Prozess" von Franz Kafka zum ersten Mal erschien, ahnte kaum jemand, dass hier ein Urmythos des zwanzigsten Jahrhunderts Gestalt angenommen hatte. Der Autor aus Prag war ein knappes Jahr zuvor, am 3. Juni 1924, nach einer langjährigen Tuberkuloseerkrankung im Alter von 41 Jahren gestorben. In seinem Nachlass fand sich ein handgeschriebener Zettel für den Freund Max Brod, dass dieser alles vernichten sollte, was es an schriftlichen Zeugnissen Kafkas noch gäbe. Zu Kafkas Lebzeiten waren nur wenige kleine Bände mit meist kurzen Prosastücken erschienen. Max Brod aber, der um das widersprüchliche Wesen Kafkas wusste, hatte sich von ihm in einem günstigen Moment die ungeordneten Manuskriptblätter für den Prozess-Roman schon im Jahre 1920 geben lassen. Am 26. April 1925 kam dann das spätexpressionistisch aufgemachte Buch im kleinen Berliner Verlag "Die Schmiede" heraus, der nur wenige Jahre bestand, und damit auch die ersten Sätze, die zu den berühmtesten der Weltliteratur gehören:

    "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen."

    Der Nachlassverwalter Max Brod besaß von diesem Roman 161 lose Blätter, von denen die meisten auf beiden Seiten beschrieben und aus verschiedenen Heften herausgerissen waren. Es gab offenkundig einige abgeschlossene Kapitel, aber es war nicht klar, in welcher Reihenfolge sie stehen sollten, und vieles war Fragment geblieben; der Roman war ein Rätsel. Kafka hatte den größten Teil genau bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben, in den Monaten von August bis Oktober 1914, aber davon war im Text scheinbar nichts zu spüren. Da erfährt Josef K., der Prokurist einer Bank, dass gegen ihn ein Prozess geführt wird, doch niemand kann ihm sagen, warum. All seine Versuche, Näheres zu erfahren, scheitern. Zum Schluss wird er von zwei Henkern umgebracht. Doch eine Inhaltsangabe wird dem Roman niemals gerecht, das ist von den ersten Sätzen an klar. Kafka hat alles vorausgeahnt, was es an Entfremdung in der Industriegesellschaft und an totalitären staatlichen Strukturen in den nächsten Jahrzehnten geben würde.

    "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne."

    Es kann kein Zufall sein, dass Kafka diese große Parabel vom modernen Menschen gerade zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschrieben hat. Über den Zusammenhang von großen gesellschaftlichen Umwälzungen und höchst privaten Erschütterungen in seinem Werk haben sich mittlerweile Myriaden von Wissenschaftlern und Literaturliebhabern den Kopf zerbrochen. Denn frappierend ist noch etwas anderes: Joseph K. wird "am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstags" umgebracht. Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstags aber fuhr Kafka nach Berlin, um dort sein Verlöbnis mit der Büroangestellten Felice Bauer zu lösen. Unmerklich hat Kafka sein gesamtes Leben in Literatur verwandelt, und zwar in der radikalsten Form, die sich denken lässt.

    Franz Kafka schrieb nicht für die Nachwelt, sondern nur für sich selbst. Seine konkrete Person, sein konkreter Alltag ist in die heutige Wahrnehmung überhaupt nicht mehr zu übersetzen. Aber Max Brod hat etwas geahnt. Die erstaunten Ausrufe herausragender Kritiker nach dem Erscheinen des Prozess-Romans ließen aufmerken: Kurt Tucholsky wusste nicht, wie ihm geschah, Siegfried Kracauer erkannte das literarisch Besondere, und Walter Benjamin analysierte blendend. 1935 konnte, noch in Berlin, die erste provisorische Gesamtausgabe Kafkas erscheinen, und nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Ruhm bereits ungeheuer – ein seltsamer Widerspruch zu dem Selbstbild des Autors.

    Es war, als sollte die Scham ihn überleben.