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Leben am Gazastreifen
"Man sieht hier am Horizont keine Lösung"

Kriegslärm, Feuer, Brandgeruch: Vera Tal schilderte im Dlf ihr Leben im Kibbuz Magen an der Grenze zum Gazastreifen in Zeiten des Konflikts. Die Angst vor einem neuen Gazakrieg sei bei den Kibbuz-Bewohnern allgegenwärtig. Auf beiden Seiten des Konfliktes seien die Menschen hoffnungslos und ratlos.

Vera Tal im Gespräch mit Christine Heuer |
    Die von der Israelischen Feuer- und Rettungsbehörde zur Verfügung gestellte Aufnahme zeigt einen Mann, der vor einem brennenden Getreidefeld entlangläuft. Im Hintergrund brennt ein Feuer, das von brennenden Drachen aus dem Gazastreifen ausgelöst wurden.
    Palästinenser senden aus dem Gazastreifen Drachen mit brennenden Stofffetzen nach Israel, die dort Brände auslösen - so auch im Kibbuz Magen (picture alliance / Israel Fire and Rescue Authority / dpa)
    Christine Heuer: Droht ein neuer Gazakrieg? - Seit vielen Wochen heizt sich der Konflikt zwischen den Palästinensern im Gazastreifen und dem israelischen Militär wieder auf. Es gibt Angriffe aus Gaza, Brandsätze, die die Palästinenser mit Ballons und Flugdrachen über die Grenze schicken. Die Israelis schießen auf Demonstranten hinter dem Grenzzaun, sie fliegen Angriffe. 2.200 Menschen haben in Gaza ihr Leben gelassen in diesem jüngsten Konflikt, und auf der anderen Seite des Zauns, in der Wüstenregion, in Sichtweite zu Gaza, da machen sie sich Sorgen, die Israelis, die dort leben. Vera Tal gehört zu diesen Menschen. Sie ist 1946 in Wien geboren, Tochter von Holocaust-Überlebenden. 1965 ist sie ins Kibbuz Magen gezogen, hat dort zwei Kinder aufgezogen, als Hochschullehrerin gearbeitet, und jetzt ist sie in ihrem Kibbuz am Telefon mit uns verbunden. Guten Morgen, Vera Tal!
    Vera Tal: Guten Morgen.
    Heuer: Wie friedlich ist es heute Morgen im Kibbuz Magen?
    Tal: Einstweilen ist es noch ganz ruhig. So war es auch in den letzten zwei Tagen. Vorher war es viel, viel lauter. Wir haben den Lärm die ganze Zeit gehört. Kriegsereignisse machen einen enormen Lärm.
    Heuer: Was hören Sie da, Vera Tal?
    Tal: Was wir hören?
    Heuer: Ja.
    "Wir spüren den Geruch des Brandes die ganze Zeit"
    Tal: Erstens die verschiedenen Schussraketen vom Gazastreifen. Auch wenn sie uns nicht erreichen, unseren Kibbuz selbst, so hören wir sie doch in der ganzen Umgebung. Dann hören wir von unserem Militär zuerst einmal die Kampfflugzeuge, die ununterbrochen fliegen, und die Helikopter, die unterwegs sind und schauen, was los ist. Dann hören wir natürlich auch ununterbrochen den Kriegslärm von Ägypten aus, Nordägypten um die Stadt Raphia herum gegen den IS, den sie dort führen. Das ist nur 20 Kilometer entfernt und wir hören das.
    Heuer: Sieht man auch viel mehr Militär als sonst?
    Tal: Eigentlich weniger. Aber das ist nicht deswegen, dass das Militär nicht anwesend ist. Es ist sehr anwesend. Aber man sitzt heute in Bunkern und überwacht die Grenze über Monitore. Eigentlich sieht man sehr wenig, obwohl ich weiß, dass ganz in der Nähe eine ganze Division aufgestellt ist.
    Heuer: Was ist mit den Brandballons und Drachen, die aus dem Gazastreifen geschickt werden? Sehen Sie die?
    Tal: Ich habe zwei gesehen bei einer Fahrt. Wir sind in ein Neben-Kibbuz gefahren und während der Fahrt haben wir sie gesehen. Es ist ein solcher Ballon auf eines unserer Felder gefallen und hat dort die Ernte angezündet. Wir haben Freiwillige aus dem Kibbuz, die die ganze Zeit dabei sind, diese Brände zu löschen.
    Heuer: Alle passen auf.
    Tal: Aber was wir sehen, ununterbrochen, außer in den zwei letzten Tagen - da ist es hier zu einem Abkommen gekommen -, die ganzen letzten Wochen lag Rauch in der Luft. Es war immer diesig und wir spürten den Rauch, den Geruch des Rauchs die ganze Zeit.
    Heuer: Hat es einen Alarm gegeben für die Bewohner von Kibbuz Magen?
    Tal: Ja, einige Male, obwohl nichts getroffen wurde im Kibbuz selbst. Aber der Alarm selber ist hier natürlich auch nicht gerade angenehm.
    Heuer: Was passiert dann, wenn Alarm ist?
    Tal: Wir haben Sicherheitsräume in jeder Wohnung. In jedem Haus gibt es einen Sicherheitsraum. Dann muss man sich dort zurückziehen und wenigstens eine Minute warten. Wir haben Zeit. Vom Alarm bis ins Sicherheitszimmer haben wir 15 Sekunden Zeit. So lange braucht so eine Rakete, bis sie niederfällt und explodiert.
    "Die Kinder sind sehr erschreckt"
    Heuer: Wieviel Angst ist im Kibbuz Magen im Moment?
    Tal: Ich selber habe keine Angst. Oder jedenfalls habe ich die Illusion, dass ich mich nicht fürchte, obwohl der Lärm mir entsetzlich auf die Nerven fällt. Aber die Kinder sind sehr erschreckt und sie bekommen ununterbrochen psychologische Behandlung und werden begleitet. Sie können nicht alleine herumlaufen. Ein Kibbuz ist ein Dorf. Kinder in jedem Dorf können alleine herumlaufen. Jetzt geht das nicht. Sie werden bewacht, sollte es zu irgendeinem Angriff kommen, dass sie sofort in die Sicherheitsräume dirigiert werden können.
    Heuer: Vera Tal, Sie leben so lange in diesem Kibbuz Magen in der Region. Sie haben viel erlebt in den vergangenen Jahrzehnten. Fürchten Sie, glauben Sie, dass das der Beginn eines neuen Gazakrieges ist?
    Tal: Wir haben immer die Angst davor, weil es genügt, dass irgendjemand auf beiden Seiten den Kopf verliert und losballert, und dann kommen die großen Politiker und sagen, ja, jetzt müssen wir sie zum Schweigen bringen. Das ist alles umsonst. Das ist immer so wie ein Glücksrad, das sich immer wieder dreht.
    "Immer extremer, immer inhumaner"
    Heuer: Wieso?
    Tal: Wir wissen eigentlich, dass es doch irgendwann einmal noch zu so einem Scharmützel kommen wird zwischen dem Gazastreifen und Israel, weil ja keine Hoffnung ist. Man sieht hier am Horizont keine Lösung und die Leute auf beiden Seiten, die Menschen auf beiden Seiten sind hoffnungslos eigentlich und ratlos, was gemacht werden sollte. In dieser Situation wird man immer extremer und immer inhumaner.
    Heuer: Vera Tal, mit Ihrer vielen Erfahrung, was ist Ihre Empfehlung? Wie löst man das?
    Tal: Ich habe auch keine Ahnung. Ich bin nicht gescheiter als andere Leute auch. Aber mir ist klar, dass man zu einem wenn nicht Friedensabkommen, dann wenigstens zu einem Status quo kommen könnte, wo man den Palästinensern größte Freiheiten in diesem Rahmen geben könnte, einen Hafen, einen Flugplatz, eine freie Aus- und Einwanderung, nicht überwacht, aber trotzdem, und bessere Bedingungen, die Grenze zu Israel und zur Arbeit damit zu schaffen.
    Heuer: Vera Tal, Bewohnerin des Kibbuz Magen in Israel. Wir haben mit ihr gesprochen über die neue Eskalation in der Region, in der sie seit Jahrzehnten lebt. Vera Tal, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute.
    Tal: Ich danke Ihnen vielmals.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.