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Leben im Postkartenmotiv

Die Journalistin Angelika Overath erzählt in der Form eines Tagebuchs von ihrer neuen Heimat, dem Dorf Sent im Engadin. Besucher sind ein bisschen erschrocken, wie abgelegen das Nest ist, doch Overath Beobachtungen sind niemals ungerecht, sondern von allen Seiten reflektiert.

Von Sabine Peters |
    Im Unterengadin wird ein neuer Gemeindepräsident vereidigt; ein Dorfchor singt. Zur Feier des Tages tragen die Frauen rosa und hellblaue Blusen, die Männer weinrote Hemden. Vielleicht muss man ein Ethnologe sein, um das gleichmütig zu sehen, ohne Begeisterung und ohne Spott. Begeisterung bricht allerdings immer wieder angesichts der Natur aus: In dieser Gegend sind die Wiesen im Mai derartig schön, dass sie so wirken "wie ein plausibler Gottesbeweis".

    Angelika Overath, Jahrgang 1957, Autorin und Journalistin, zog 2007 von Tübingen aus nach Sent ins Unterengadin. Jahrelang machte sie mit ihrer Familie dort Ferien. Jetzt soll aus dem Ausnahmezustand Alltag werden, jetzt soll das Dorf ihr Hauptwohnsitz werden. Wie kann ein fremder Ort zur Heimat werden? Davon erzählt Overaths neues Buch "Alle Farben des Schnees". Es ist in der Form eines Tagebuchs geschrieben und umfasst ein Jahr - eine gute Gelegenheit, sich hingebungsvoll mit dem Wandel der Landschaft, mit Witterungs- und Lichtverhältnissen zu beschäftigen. Im Dezember liegen die Temperaturen abends oft bei minus 25 Grad. Die Erzählerin läuft mit dem Hund, sieht in den Sternenhimmel auf, sieht die Lichterkette des Dorfs. Sie denkt "Postkarte", und dann denkt sie, dass sie "Postkarte" denkt.

    Was hat ein solch skeptisches Bewusstsein auf dem Land verloren? Die Autorin sucht zunächst das, was jeder andere Tourist in einer solch entlegenen Gegend sucht. Man sucht paradoxerweise nach dem, was es nicht gibt: Hier gibt es keine Disko, kein Nagelstudio, keine Sushibar. Etwas Anderes, teils schwer Fassbares, wird erfahrbar - etwa die Farben des Schnees. Und doch: Warum will sie bei allem Genuss an der stillen Natur gleich fest aufs Land ziehen, in ein mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer erreichbares kleines Nest? "Dorf" steht traditionell für Enge, für die Wiederholung des immer gleichen, für den buchstäblich beschränkten Horizont. Aber Overaths Beruf erfordert immer wieder Reisen. Sie gibt Schreibkurse in den USA, hält Lesungen, arbeitet an einer Reportage über eine Radtour von Passau nach Wien. Daher ist sie nicht so eng an den Ort gebunden wie vielleicht der Dorfgeistliche. Viele ihrer Nachbarn pendeln ähnlich wie sie; die meisten sind in der globalisierten Welt zwangläufig und vielleicht auch ganz gern mobil geworden.

    Sent ist allerdings auch selbst ein offenes Dorf. Schon vor Generationen brachten die Zuckerbäcker neue Einflüsse aus dem Ausland zurück, bauten die italienischen Palazzi. Die besten Skipisten im Unterengadin ziehen heute mehr Urlauber an als, beispielsweise, die verschwiegene Schönheit der schlammtriefenden Wiesen Ostfrieslands. Und wer auf die Internetseite des Dorfs Sent geht, findet nicht nur den Hinweis auf einen Fußballverein, sondern auch den auf zahlreiche ansässige Künstler, Musiker und Schriftsteller.

    Der Niederländer Geert Mak hat in seiner großen literarischen Untersuchung "Wie Gott verschwand aus Jorwed" exemplarisch den Untergang eines europäischen Dorfs am Ende des 20. Jahrhunderts geschildert. Überalterung, Schließung von Schulen, verlassene Bauernhöfe, das Ende des örtlichen Posaunenchors - das sind Phänomene, von denen Sent offenbar kaum betroffen ist. Overath zeigt, wie hier nach Mittelwegen zwischen Altem und Neuem gesucht wird. Man braucht die Touristen, baut Ferienwohnungen für sie aus. Die Einwohner trennen nicht sehr streng zwischen "uns" und "euch", denn viele Gäste sind längst bekannt, manche möchte Overath sogar "in Seidenpapier wickeln". Und doch gibt es gelegentlich Ärger, wenn ein Teil der Dorfbewohner nach der Skisaison den Dreck von den Pisten sammelt; dann heißt es: Ein Dorf ist kein Sportgerät.

    Manchmal wünscht man sich bei der Lektüre mehr von solchen Bemerkungen, mehr Ungerechtigkeit in welche Richtung auch immer: Denn Anlass, auch im Dorf über das Dorf, oder über die von draußen zu spötteln, gibt es immer. Aber die Ausgewogenheit des Buchs macht schließlich auch seine Qualität aus: Es gibt kaum eine Beobachtung oder Empfindung, die nicht von allen Seiten reflektiert wird. Wenn besorgte, von außerhalb angereiste Freunde sich beispielsweise fragen, was denn aus dem kleinen Sohn werden soll, der nun nicht mehr im akademisch geprägten Tübingen optimal gefördert aufwächst, sagt sich die Autorin: Man soll doch nicht vergessen, dass ein Kind nicht nur was werden soll, sondern immer schon etwas ist.

    Noch einmal: Wie kann ein fremder entlegener Ort zur Heimat werden? Was ist das, Heimat? Da ist die rätoromanische Sprache, mit der sich die Autorin abmüht - ihr kleiner Sohn spricht sie bald schon besser als seine Mutter. Die älteste Tochter, die studiert und nur sporadisch vorbeikommt, sagt, ihre Heimat sei das Handy. In Overaths Tagebuch wird immer wieder darüber nachgedacht, was Heimat ist. Neben dem Austausch mit den Nachbarn spielen Gewohnheiten und Rituale eine wichtige Rolle. Das Heimischwerden ist ein langsamer, kaum wahrnehmbarer Prozess, den man zwar teilweise selbst "machen" kann, der einem aber auch geschenkt wird. Heimat ist vielleicht, so heißt es einmal, "die körperhafte Gewissheit, nun könne einem nichts mehr geschehen." Zumal, wenn man wieder fortgehen kann.

    Immer wieder umkreist Overaths Buch die Motive von Verwurzelung und Entwurzelung, Enge und Weite, Begrenzung und Entgrenzung. Die Autorin macht die im Deutschen übliche strenge Trennung zwischen Reportage und Literatur nicht mit. Ihr Tagebuch verbindet den journalistisch, ethnologisch geschulten Blick auf den sozialen Mikrokosmos Dorf mit poetischen Darstellungen und Vergleichen. Als es endlich draußen warm wird, freut sich Angelika Overath an den frisch sprießenden Kräutern. Die Aussaat sieht so aus wie "Schönschreibübungen in Grün."

    Es sind gerade solche Details, die bei der Lektüre überraschen und faszinieren. Ein behutsam geschriebenes Buch, in dem man gern herumwandert.

    Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch. Luchterhand-Verlag, 160 Seiten, 16,95 Euro.