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Leben in der digitalisierten Welt
Das Überwachungs-Netz - Die geplatzte Illusion von der freien digitalen Welt

Dass Geheimdienste das Internet in großem Stil abhorchen, ist eine bittere Pille für die Netzgemeinde. Der Publizist und Blogger Sascha Lobo bezeichnete die Überwachung im DLF-Interview als eine "Kränkung der Menschheit". Doch das sei nur ein Teil des Problems: "Die ganze Realität lautet, dass die Welt mithilfe des Internets überwacht wird."

Karin Fischer im Gespräch mit Sascha Lobo | 07.08.2014
    Der Blogger und Journalist Sascha Lobo spricht auf der Internetkonferenz Republica in Berlin.
    "Das Internet ist kaputt", schrieb der Blogger und Journalist Sascha Lobo in einem "FAS"-Artikel (Britta Pedersen, dpa picture-alliance)
    Karin Fischer: Es gibt Nerds und die "digital natives", es gibt die Netztheoretiker und die Netzgemeinde, die Internet-Euphoriker und die Bewohner der Cloud, und unter all jenen, deren Heimat das Internet war und ist, sind die frühen Blogger vermutlich die Gläubigsten. Einer von ihnen ist der Journalist, Publizist und Blogger Sascha Lobo, der vor Kurzem erst die Welt daran teilhaben ließ, wie groß seine Enttäuschung war, als klar wurde, dass das Internet zu einem Instrument der totalen Überwachung geworden war.
    Im Januar war eine Art Aufschrei von Sascha Lobo in der "FAZ am Sonntag" zu lesen. Schon die Überschrift enthielt das ganze Bekenntnis: "Ich glaubte, das Internet sei das perfekte Medium der Demokratie, der Emanzipation, der Selbstbefreiung. Der Spähskandal und der Kontrollwahn der Konzerne haben alles geändert. Das Internet ist kaputt." Für unsere Sommerreihe "Leben in der digitalisierten Welt" wollten wir das noch genauer hören, Sascha Lobo, Sie sprachen damals von einer "vierten Kränkung der Menschheit". Worin genau bestand die für Sie?
    Sascha Lobo: Es gibt ja dieses Modell von Freud, die ersten drei Kränkungen der Menschheit, die er ausgemacht hat, zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei oder ist. Ich habe das natürlich als metaphorische Annäherung gemeint, aber tatsächlich ist spätestens mit dem Snowden-Skandal, der nicht nur ein Skandal ist, sondern eine Zeitenwende, klar geworden, dass das Internet, dass die digitale Vernetzung, dass natürlich inzwischen weite Teile der Öffentlichkeit weltweit prägt, wenn nicht beherrscht, dass das massiv missbraucht wird, geplant missbraucht wird, und dass seit dem Aufbau des Internets darauf geachtet wurde, unter anderem von Geheimdiensten, von Behörden, dass man mit dem Netz so gut wie möglich die Bevölkerung überwachen kann.
    Und diese Einsicht, die in kleinen Teilen vorher schon da gewesen sein mag, aber die uns Snowden dann auch noch mal ganz faktisch gebracht hat in Form von Beweisen, diese Einsicht, die habe ich als Kränkung empfunden.
    Der Hase umgeben von Igeln
    Fischer: Sie haben den Moment beschrieben, als Barack Obama angefangen hat zu twittern, als eine Art schöne Bestätigung, als Netzgemeinde doch zur Avantgarde zu gehören. Nur, damals schon, hat vermutlich die NSA solche Twitter auch schon abgefangen. Spielen wir ein Hase- und Igel-Spiel, in dem die Rollen schon immer klar verteilt sind?
    Lobo: Ich fürchte, das ist noch zu positiv gesagt für das, was im Moment los ist. Hase und Igel, da glaubt man ja, es ginge um ein Wettrennen. Tatsächlich scheint es sehr stark so zu sein, als wäre bei der digitalen Vernetzung von Anfang an auch massiver Einfluss von US-amerikanischen und anderen Behörden spürbar gewesen. Das ist ja auch kein großes Geheimnis, dass das Internet entstanden ist auf der Basis der Entwicklung militärischer Netze.
    Aber es ist tatsächlich so, dass diese Unverschämtheit und diese Chuzpe, mit der da vorgegangen wird und mit der jedes Grundrecht beiseite gewischt wird, die war überraschend. Wenn man unbedingt ein Bild haben möchte, ist es tatsächlich eher so, dass, wenn man sich selbst als Hase begreifen würde, dass überall Igel sind, und nicht nur am Start und am Ziel.
    "Die ganze Realität lautet, dass die Welt mithilfe des Internets überwacht wird"
    Fischer: Trotzdem, Sascha Lobo, hat man sich doch schon gewundert, dass speziell auch der Aufschrei aus der Bevölkerung, jetzt jenseits der Netzgemeinde, komplett ausgeblieben ist. Und das hat viel damit zu tun, dass die Leute sehr wenig bereit sind, im Alltag ihr Verhalten zu ändern. Und sie sind ja nun mal im Netz und auf Facebook. Sie haben gerade das Wort Zeitenwende verwendet, und das ist ein großes Wort. Die Menschen im Alltag spüren das aber nicht so. Wie groß ist denn unsere Schizophrenie in Bezug auf das Internet?
    Lobo: Ich würde da, was die normale Bevölkerung angeht, nicht von einer Schizophrenie sprechen. Zum einen ist natürlich schwierig zu durchblicken, wie tief diese Überwachung tatsächlich geht. Wenn man davon sprechen möchte, dass das Internet überwacht wird, dann ist das nur ein Teil der Realität. Die ganze Realität lautet, dass die Welt mithilfe des Internets überwacht wird.
    Ich glaube, man muss erst mal sehen, dass zumindest, wenn man in Deutschland wohnt, dass dann irgendwelche Nachrichtendienste, NSA, Verfassungsschutz - die können halt 40 Millionen Datensätze durchscannen, und man kann am Nachmittag trotzdem noch ein Bier trinken gehen und sich dabei ganz entspannt im Biergarten zurücklehnen.
    Mitten in der Überwachungsgesellschaft
    Es ist schwierig spürbar, und ich glaube, dass es deswegen wichtig ist zu sagen, dass wir nicht auf eine Überwachungsgesellschaft hinsteuern, sondern dass wir uns mitten in einer Überwachungsgesellschaft befinden, wo tatsächlich fast kein Schritt, den ich mache, fast kein Wort, das ich sage oder schreibe, unüberwacht bleibt. Und die Wirkung, die wird, glaube ich, uns noch früh genug leidtun, auch wenn die eigentlich heute eher eine ist, die man nicht sofort spürt.
    Fischer: Vielleicht ist das, was man spürt, und das, was das Thema Internetüberwachung, NSA, Terrorbekämpfung mit unserem Alltag verbindet, das Thema der Großkonzerne. Die Welt ist ja, seit Snowden mit seinen Enthüllungen ankam, nicht besser geworden. Die Abhöraffäre hat sich auf absurde Art und Weise weiter gedreht. Wo stehen wir denn heute, auch mit diesem Glauben oder dem neuen Unglauben ans Netz? Vor der Totalkapitulation vor den Großkonzernen und deren Marktinteressen? Das ist ja das, was wir spüren.
    Lobo: Ja, tatsächlich ist das, was die Internetkonzerne tun im Netz, viel deutlicher spürbar, und deswegen für einige Menschen auch eher als Bedrohung zu interpretieren. Hier möchte ich aber sehr deutlich einen Unterschied machen. Behörden und Staaten haben ein Gewaltmonopol. Und dieses Gewaltmonopol ist im Zweifel sehr, sehr viel schärfer und schwerwiegender, wenn das missbraucht wird, wie das meiner Meinung nach mit der Überwachung passiert, als das, was private Konzerne tun.
    Überwachungskameras am Bundesverteidigungsministerium in Berlin.
    Sascha Lobo: "Behören und Staaten haben ein Gewaltmonopol." (picture alliance / dpa / dpa)
    Das heißt aber nicht, dass diese Konzerne nun auf einmal ganz harmlos sind und irgendwie nur Sandkastenspiele veranstalten. Tatsächlich erleben wir gerade eine Digitalisierung und Vernetzung der Gesellschaft. Wir haben eine digitale Gesellschaft, auf die wir zusteuern. Wir haben schon den ersten Schritt da hinein getan, vielleicht sogar schon den zweiten. Und jetzt folgt eine ganze Reihe weiterer Schritte. Und diese Schritte, die werden maßgeblich von den großen Internetunternehmen geprägt. Da hinkt zum Teil die Gesetzgebung hinterher, da hinkt zum Teil auch die Gesellschaft selbst hinterher. Da stellen sich völlig neue Fragen, die man, sagen wir mal, in der nicht-digitalen Welt schon längst geklärt glaubte und die jetzt auf der digitalen Ebene einfach irgendwie passieren, weil dort wenig Regulierung und wenig Kontrolle stattfindet. Und da einen richtigen Weg zu finden, auch so ein bisschen einen Weg zu finden, der es erlaubt, dass die Gesellschaft darüber mitentscheidet, was im Digitalen passiert, das ist die große Herausforderung.
    Fischer: Wie müssen wir der begegnen, Sascha Lobo?
    Lobo: Ich glaube, dass wir da politisch dagegen agieren müssen. Der Einzelne und die Einzelne, die sind dazu aufgerufen, ihre politischen Instrumente zu benutzen. Bei der Wahl da mitzuentscheiden, auch zur Politik zu gehen und dort Druck aufzubauen. In das Büro des Bundestagsabgeordneten hineinzugehen und zu sagen: Ich bin damit nicht einverstanden, unternehmen Sie etwas dagegen, dass Grundrechte permanent gebrochen werden, zum Beispiel durch Geheimdienste.
    Fischer: Noch mal zum Netzalltag. Interessant fand ich, dass Sie im Gegensatz zu mir, die ich immer noch unterscheide zwischen Menschen, die sich wie der Fisch im Wasser im Netz bewegen, und denen, die sich vielleicht sogar was zugutehalten, noch analog zu funktionieren, dass für Sie diese Trennung gar nicht mehr existiert, dass wir nur noch und überhaupt eine Netzgesellschaft sind - warum?
    Lobo: Das hängt damit zusammen, dass die meisten Leute noch nicht voll begriffen haben, und das meine ich jetzt gar nicht böse, weil es sehr schwer zu begreifen ist, wie tief das Internet in diesen wenigen Jahren, in denen es existiert, schon die Gesellschaft verändert hat. Tatsächlich sind heute praktisch alle Daten, mit denen Staat und Institutionen operieren, irgendwie digital in Datenbanken und meistens auch im Internet. Nicht verfügbar für jeden, aber über das Internet zugänglich. Ob das jetzt Patientenakten sind, ob das irgendwas rund um mein Auto ist. Ob das die Daten sind über meinen Ausweis, die Melde- und Registrierungsdaten, die im Bürgeramt vorhanden sind. Das alles ist Teil der digitalen Vernetzung und kann mein Leben sehr unmittelbar beeinflussen.
    "Es geht nicht darum, den Fortschritt abzuschaffen, sondern gemeinsam die Richtung zu bestimmen."
    Fischer: Nun fordern Sie einen neuen Internet-Optimismus, eine positive Digitalerzählung, die diese Kränkung, von der Sie anfangs sprachen, abfedern kann. Wie soll die denn aussehen?
    Lobo: Ich glaube, da muss man erst mal gegenüberstellen, wie sie bisher aussah. Bisher waren das Leute, zu denen auch ich gehört habe, Menschen, die dachten, die Welt wird besser mit dem Internet, und jetzt lasst uns alle digital werden und vernetzt werden. Und da haben sich natürlich ein Teil der Gesellschaft, vielleicht sogar der Großteil der Gesellschaft so ein bisschen irritiert angesehen und vielleicht sogar abgewendet. Ich glaube aber, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, als da zu sehen, okay, der Fortschritt geht weiter, wir müssen jetzt gemeinsam die Richtung bestimmen.
    Es geht nicht darum, den Fortschritt abzuschaffen, sondern gemeinsam die Richtung zu bestimmen. Und dafür, glaube ich, ist so ein Internet-Optimismus gut, der auch diejenigen mit einbezieht, die eben jetzt nicht jeden Tag auf Twitter sind oder die rund um die Uhr mit E-Books jonglieren.
    Wir haben im Moment durch diese Überwachung ein sehr negatives Bild vom Internet, und denjenigen, die das haben, denen kann ich das überhaupt nicht verübeln, das ist ganz natürlich. Und da zu überlegen, was sind denn die Segnungen, die da mit hineinspielen, was sind denn die Dinge, wo das Internet einen positiven Beitrag für die Gesellschaft mit leisten kann. Und das deutlicher zu machen und den Leuten nahezubringen, das ist, glaube ich, eine sehr große und wichtige Aufgabe. Und genau das habe ich mit Internet-Optimismus gemeint.
    Fischer: Dann sagen Sie doch zum Schluss, was ist denn für Sie die größte Segnung, die das Internet uns bisher zu bieten hat?
    Lobo: Das ist tatsächlich eine Frage, die jeder für sich beantworten muss. Für mich selbst ist das Beste am Netz, dass ich es erstmals überhaupt geschafft habe, mich überhaupt einigermaßen menschenwürdig zu organisieren. Ich bin vergleichsweise spät zum Internet erst gekommen, 1999 so richtig. Die ganzen 90er-Jahre hindurch war mein Leben eine Art unorganisierte Katastrophe. Von Terminen über Briefe bis hin zu irgendwelchen Akten habe ich nie irgendwo irgendwas gehabt. Und seit ich das alles ins Digitale übertragen habe, wo ich es im Smartphone mit mir rumtragen kann im Zweifel, bin ich ein sehr viel besser organisierter Mensch geworden und kriege sehr viel mehr Dinge einfach hin und muss nicht den ganzen Tag, wie das früher war, irgendwelche Anrufe entgegennehmen, wo ich beschimpft werde, weil ich Termin A, B oder C nicht berücksichtigt habe.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.