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Ein Essay zur gegenwärtigen Krise
Leben in Watte gepackt

Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa blickt auf die gegenwärtige Zeit. Wie schnell Veränderungen möglich sind, wie wir in kürzester Zeit inne halten können, das hat die Coronakrise der ganzen Welt gezeigt.

Von Olga Grjasnowa | 28.11.2021
Ein Porträt der Autorin Olga Grjasnowa ("Gott ist nicht schüchtern") auf der Buchmesse in Leipzig.
Olga Grjasnowa ("Gott ist nicht schüchtern") auf der Buchmesse in Leipzig. (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
2020. Das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland ist in weiten Teilen zum Erliegen gekommen. Von dieser gegenwärtigen, für Viele seltsam anmutenden Zeit erzählt Olga Grjasnowas Essay. Eine literarische Annäherung und ein innerer Dialog in Gedanken darüber, dass uns der Abstand von 1,5 Metern zu unserem Gegenüber nicht retten wird, dass uns vermutlich niemand retten wird.
(Wiederholung vom 19.04.2020 bei Dlf Kultur)
Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig gelang Olga Grjasnowa mit ihrem Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ der literarische Durchbruch. Zuletzt erschien ihr Roman „Gott ist nicht schüchtern“.

Weiblich: Am 16. März 2020 wurden in fast allen deutschen Bundesländern Kindergärten, Schulen, Bordelle und Kneipen geschlossen. Veranstaltungen mit einer Teilnehmerzahl von über 50 Menschen wurden verboten. Nur wenige Tage später folgten weitgehende Kontaktbeschränkungen. Sportanlagen, Einkaufszentren und alle Läden, außer Lebensmittelgeschäfte, Apotheken und Drogerien wurden ebenfalls geschlossen. Spielplatzschließungen folgten.
Männlich: … wobei mein kinderloser Nachbar zum Abschied noch eine Runde alleine Schaukeln war.
Weiblich: Dann kam die Anweisung sich nur noch zu zweit im Freien aufzuhalten.
Seitdem sitzen wir zu Hause und versuchen uns nicht gegenseitig umzubringen.
Männlich: Die ersten Tage waren schön, das Wetter frühlingshaft, die Sonne schien.
Weiblich: Am 30. März fiel Schnee.
Männlich: Als die Ausgangsbeschränkung kam, dachte ich nur: Bitte nicht schon wieder. Ich wurde 1984 in Aserbaidschan geboren. Meine Kindheit fiel zusammen mit der Zeit der Pogrome, des Krieges, der Hyperinflation, der politischen Anarchie, des Zusammenbruchs aller staatlichen Strukturen und auch des Hungers – zumindest für einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung. Auf die Straße ging während dieser Jahre kaum jemand, wenn auch aus völlig anderen Gründen als jetzt. Dennoch überwog in mir augenblicklich ein völlig anderes, lähmendes Gefühl: Die Unlust auf das „Schon-Wieder“.
Weiblich: Ich habe diesem Leben hier ohnehin nicht vertraut. Dabei war es ein wirklich schönes Leben. Wie heißt es so treffend am Ende von Natalia Ginzburgs Erzählung Winter in den Abruzzen: „Damals glaubte ich an eine glückliche und frohe Zukunft, reich an erfüllten Wünschen, an gemeinsamen Erfahrungen und Unternehmungen. Und doch war jene Zeit die beste meines Lebens, und erst jetzt, da sie mir für immer entschwunden ist, erst jetzt weiß ich es“.
Ich habe ein sehr ungesundes Verhältnis zu Geld – ich trau Geld einfach nicht. Für mich, nach einer Kindheit mit einer monatlichen Inflationsrate von 500 Prozent ist es etwas, das möglichst schnell in Güter umgesetzt werden sollte. Das allgegenwärtige Hamstern ist daher etwas, das mir zunächst einleuchtet. In den ersten Tagen der Epidemie, als man noch nicht von einer Pandemie sprach, waren sogar meine Eltern aufgeblüht. Mit leeren Regalen kannten sie sich aus.
Etwas, das ich allerdings nicht verstehe, oder vielleicht eher zu gut verstehe, ist, dass die potentielle Fragilität des Systems in dem wir leben, als Überraschung daherkommt:
Männlich: So stehe ich in der Drogerie vor den leeren Regalen mit dem Toilettenpapier und wundere mich. Anscheinend gehen die Europäer davon aus, dass es selbst während der Apokalypse noch fließendes Wasser geben wird. Diejenigen von uns, die nicht hier aufgewachsen sind, wissen: Fließendes Wasser ist das Erste, was in Krisenzeiten abgestellt wird.
Für Jahre, nicht für Stunden. Zusammen mit Strom und der Müllabfuhr.
Ich versuche mir vorzustellen, was man sonst noch mit Toilettenpapier anstellen könnte, aber meine Vorstellungskraft reicht einfach nicht aus. Ich kaufe ein paar Nudeln mehr und frage mich, wie ich sie ohne Strom kochen soll.
Weiblich: Dennoch habe ich Vorräte angelegt, ich habe vorsorglich Bücher gekauft, so viele, wie ich nach Hause schleppen konnte und Spielzeug, das schon am ersten Tag entgegen meiner Erwartung ausgepackt wurde. Mein Mann, der 2013 aus Syrien nach Deutschland kam, versuchte indessen auf der Berliner Sonnenallee Kichererbsen zu kaufen. Ein älterer Mann saß ratlos vor seinem Laden und erklärte, dass er nichts mehr zu verkaufen habe – die „Ausländer“ hätten alles gekauft. Damit waren die Deutschen gemeint. Sein Laden war tatsächlich besorgniserregend leer.
Männlich: Es weiß niemand, worauf er sich vorbereiten soll.
Weiblich: Einige Politiker, immerhin nicht die deutschen, sprechen von einem Krieg.
Männlich: Donald Trump beschwört einen Krieg, genau wie Emmanuel Macron. Queen Elisabeth II. spricht vom Durchhalten und bezieht sich auf ihre eigene Rede während des Zweiten Weltkrieges.
Aber wir kämpfen nicht. Das tun für uns die Ärzt*innen und notorisch unterbezahlten Pfleger*innen und Krankenschwestern, aber auch die Menschen an den Supermarktkassen und in der Apotheke, die Pakete-Austragenden und Mitarbeitenden der Fast-Food-Ketten.
Es ist irrsinnig, sich um eine Kriegsrhetorik zu bemühen, verbal in den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind zu ziehen, während man die eigenen Gesundheitssysteme marode gespart hat.
Wir tun vorerst nichts anderes als zu Hause zu bleiben und selbst das scheint nicht allzu leicht zu sein: Während der Quarantäne, Selbstisolation, Ausgangssperre oder was auch immer wir gerade praktizieren, wird nicht mit guten Ratschlägen gegeizt.
Meistens geht es darum, wie man die Kinder beschäftigt und den eigenen Tag strukturiert. Als ob die Menschen in diesem Land plötzlich unmündig geworden wären.
Als ob sie noch nie mit ihren Kindern alleine gewesen wären.
Weiblich: Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt habe ich Zeit. Zum ersten Mal seitdem ich Mutter bin, denke ich nicht daran, dass ich nach dem Ausflug in den Park noch arbeiten sollte. Ich habe keine Manuskripte, keine Pläne und keinen Ehrgeiz. Ich schaffe es noch nicht einmal abends, nachdem die Kinder schon im Bett sind, Fernsehen zu schauen oder zu lesen. Ich starre einfach aus dem dunklen Fenster hinaus. Etwas, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan habe. Die Fenster der Nachbarn sind mir nun unheimlich vertraut.
Allerdings ist das eher dem Voyeurismus, als der Pandemie zu verdanken.
Männlich: Meinst du nicht, du könntest dir ein wenig mehr Mühe geben?
Weiblich: Du könntest dir auch ein wenig mehr Mühe geben, meinst du nicht?
Männlich: Wie bitte?
Weiblich: Ich meine, du trägst schon seit einer Woche diese Hose.
Männlich: Meinst du, du siehst besser aus?
Weiblich: Ich habe geduscht.
Männlich: Das war gestern.
Weiblich: Immerhin.
Männlich: Immerhin.
Weiblich: Unterhaltsam sind sie auch – diese Beziehungsratgeber, die noch schnell für die Pandemie geschrieben worden sind.
Männlich: Istanbul, die Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016
Weiblich: Mein Mann, meine Tochter und ich sind gerade in Istanbul, es ist eine ruhige Nacht, das Kind ist gerade eingeschlafen. Ich überlege mir ein Glas Wein einzuschenken, als meine Cousine aus Tel Aviv mir eine Nachricht schickt und fragt, was denn bei uns los sei. Ich antworte, alles bestens. Sie sagt, es gebe einen Putsch. Ich lache. Wer unternimmt denn bitte einen Putschversuch so früh am Abend? Zur besten Sendezeit? Das macht man doch in den letzten Stunden vor der Morgendämmerung, still und ohne viel Aufheben. Dann wachen die Menschen in einer neuen Welt auf und stellen nicht allzu viele Fragen.
Als die Kampfjets über uns hinwegfliegen, überprüfe ich, ob noch Wasser aus der Leitung kommt und ob der Strom noch nicht abgestellt worden ist. Solange die Klimaanlage noch läuft, bin ich sicher. Dennoch schalte ich wieder in den Modus meiner Kindheit, mein Körper weiß, was er zu tun hat, er braucht keine Anweisungen. Ich bin vollkommen ruhig, ich packe unsere Tasche – einen kleinen Koffer, der als Handgepäck auf der Schulter getragen werden kann. Ich suche unsere Dokumente zusammen, alles an Bargeld, was ich finden kann, Wechselunterwäsche, Schnuller und ein paar frische Windeln. Dann setzte ich mich auf das Sofa und warte. Mein Mann weiß ebenfalls, was zu tun ist, auch wenn sein Körper einem anderen Betriebssystem gehorcht. Mein Mann ist Syrer, er beobachtet die Jets und bereitet sich auf den Einschlag vor. Unsere Nachbarn sind Iraner. In ihnen erwacht die Erinnerung an den Golfkrieg. Sie verdunkeln systematisch das ganze Haus.
Männlich: Jeder von uns erledigt gewissenhaft seine Aufgabe.
Wir sprechen nicht, alles läuft automatisch.
Weiblich: Wir sind vollkommen ruhig.
Männlich: Unterschiede werden gerade sichtbarer. Manche Menschen sind gesund, andere erkrankt, viele gehören zu einer der Risikogruppen. Der iranische Politiker Iradsch Harirchi erklärte, Covid-19 sei ein sehr demokratisches Virus. Es unterscheide nicht zwischen arm und reich. Jeder könne es bekommen.
Weiblich: Madonna, während sie in der Badewanne saß, versuchte sich an einer ähnlichen Aussage.
Männlich: Doch eine Pandemie ist nicht demokratisch und Covid-19 ist kein demokratischer Virus. Jeder und jede kann sich zwar anstecken, aber die Folgen sind für alle unterschiedlich: Manche müssen sich um ihre Existenz sorgen, andere arbeiten einfach im Home-Office weiter. Manche wohnen zu fünft in einer Zwei‑Zimmerwohnung, andere haben einen Garten mit einem Swimmingpool und einem Trampolin. Manche Familien winken der Polizei, die auf der Straße die strikten Ausgangsbeschränkungen kontrolliert, fröhlich zu. Andere haben Angst vor der Polizeigewalt, werden aufgrund ihres Aussehens drangsaliert. Menschen, die einen hellen Teint haben, sind auf deutschen Polizeistationen bisher nicht in Flammen aufgegangen.
Weiblich: Autor*innen flüchten sich in ihren Alltag. Beobachtungen von Spaziergängen, Gedankenfetzen aus der Isolation. Leïla Slimani zieht in ihrem Tagebuch für die Le Monde Vergleiche zu Dornröschen und bekommt für ihre wunderschönen Bilder aus ihrem nicht minder schönen Wochenendhaus in der Bretagne, wo sie die Pandemie aussitzt, einen Shit-Storm in den sozialen Medien.
Und doch versuchen viele dem Ganzen einen Sinn zu geben. Der italienische Schriftsteller Paolo Giordano schreibt in seinem Corona-Journal „In Zeiten der Ansteckung“:
„... wir können uns bemühen, der Epidemie einen Sinn zu geben. Wir können diese Zeit besser verwenden, darüber nachdenken, was zu denken die Normalität uns hindert: wie wir bis zu diesem Punkt gekommen sind, wie wir neu starten wollen. Die Tage zählen. Ein weises Herz gewinnen. Nicht zulassen, dass all dieses Leiden umsonst geschieht.“
Männlich: Ich fürchte, nichts davon wird eintreten. Nach der Pandemie werden wir genau dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Falls wir überhaupt mit irgendetwas aufgehört haben.
Weiblich: Doch verkehrt ist es bestimmt nicht zu den Klassikern zu greifen – Die Pest von Albert Camus oder Nemesis von Philip Roth.
Männlich: Doch diese Bücher lehren uns nichts. Denn Kunst lehrt nichts.
Weiblich: Und doch macht sie alles begreifbar.
Männlich: Die Pest hat einen Absatz, an den ich mich seit meinem siebzehnten Lebensjahr erinnere, obwohl ich fast immer alles vergesse.  „Als die Krankheit am schlimmsten wütete, gab es nur einen Fall, in dem die menschlichen Gefühle stärker waren als die Angst vor einen qualvollen Tod. Es ging dabei nicht, wie man hätte erwarten können, um zwei Liebende, die die Liebe über das Leid hinweg zueinander trieb. Es handelte sich dabei nur um den alten Doktor Castel und seine Frau, die seit vielen Jahren verheiratet waren. Madame Castel war einige Tage vor der Epidemie in die benachbarte Stadt gefahren. Es war nicht einmal eine jener Ehen, die der Welt das Bild eines mustergültigen Glücks darbieten, und der Erzähler ist imstande zu sagen, dass diese Eheleute aller Wahrscheinlichkeit nach bis dahin nicht sicher waren, ob ihre Ehe sie zufriedenstellte. Aber diese gewaltsame, anhaltende Trennung hatte ihnen die Gewissheit verschafft, dass sie ohne einander nicht leben konnten und dass neben dieser plötzlich zutage getretenen Wahrheit die Pest belanglos war.“
Weiblich: Aber eigentlich ist gerade niemanden zum Lesen zu Mute. Oder liest du noch?
Männlich: Ich lese nicht.
Weiblich: Nicht mal die Online-Nachrichten?
Männlich: Doch, die schon. Und Gedichte. Lyrik ist gerade nicht so schlecht. Knausgård zur Not. Er ist so schön lang.
Weiblich: Ob nach der Pandemie noch jemand in der Lage sein wird, einen handlungsarmen Roman zu lesen?
Männlich: Schreibst du gerade an einen?
Weiblich: Jetzt, da so viele Oblomov sind?
Männlich: Wir könnten auch eine Reise durch unser Zimmer unternehmen, wie Xavier de Maistre 1790. Nach einem illegalen Duell wurde er zum Hausarrest verurteilt. Oder Ottessa Moshfeghs Roman Mein Jahr der Ruhe und Entspannung.
Weiblich: Lass es bitte nicht ein Jahr lang dauern.
Männlich: Niemand kann sagen, wie und ob sich unsere Welt nach der Pandemie verändern wird oder wann sie zu Ende ist. Das Problem ist eher, dass in all den Jahrzehnten zuvor die Welt auf Abstand gehalten wurde. Es waren fast ausschließlich die Probleme und Ängste der weißen, oft männlichen oberen Mittelschicht, die breit diskutiert wurden. Zugleich ist es eine Absage an all die Themen, die andere, nicht gerade marginalisierte Teile der Gesellschaft betreffen, wie etwa den Rechtsterrorismus.
Weiblich: Der am 19. Februar 2020 in Hanau erfolgte terroristische Anschlag, der Mord eines Rechtsextremen an seiner Mutter und neun Menschen, die ausschließlich wegen ihrer vermeintlichen Nicht-Zugehörigkeit zum deutschen Volkskörper sterben mussten, und der vermeintlich das Land erschüttert hatte, kommt im öffentlichen Diskurs kaum noch vor. Im Berliner Stadtteil Neukölln wurden von Aktivist*innen Plakate aufgehängt, die an die Opfer erinnern sollten, doch viele dieser Plakate wurden bereits abgerissen oder beschmiert.
Männlich: Ich war auf Lesbos 2015. Schon damals war es grässlich. Ich kann mir den heutigen Zustand noch nicht einmal vorstellen. Und Vorstellungskraft ist doch die Grundvoraussetzung für meinen Beruf.
Weiblich: Kaum noch thematisiert wird die Situation der Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen oder etwa die lebensgefährliche und unwürdige Lage der Menschen, die im griechischen Lager Moria auf der Insel Lesbos festgehalten werden. Die Zahl der dort an Covid-19 erkrankten Personen interessiert wenige.
Männlich: Seit 2015 ist es vor allem die Angst vor der AfD, die die deutsche Flüchtlingspolitik diktiert. Dabei wird die Menschlichkeit geopfert, zugleich werden aber auch die Forderungen der AfD erfüllt, ohne dass sie – vorerst – mitregiert. Wobei auch sonst die Menschen, die nicht Gefahr liefen, von den Anhänger*innen der AfD angegriffen zu werden, auch keine wirkliche Angst vor ihr hatten. Es geht um Macht – und darum, dass man wohl doch lieber die Anhänger*innen der AfD ernst genommen hat, als etwa die People of Colour oder die Millionen Menschen, die sich in Deutschland in der Flüchtlingshilfe engagieren.
Weiblich: Wir werden nicht großzügiger.
Männlich: Wir werden nicht solidarischer.
Weiblich: Wir werden nicht menschlicher.
Männlich: Anfang April wird die Nachricht veröffentlicht, Deutschland sei bereit, 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen.
Weiblich: 50.
Männlich: In Lichtenstein sind es 12. Ich glaube, selbst ich wäre in der Lage in meiner Drei‑Zimmer-Wohnung zwölf Kinder aufzunehmen – in Krisenzeit. Und die haben wir doch gerade.
Weiblich: Oder nicht?
Männlich: Lediglich die portugiesische Regierung zeigte Anstand und gewährte allen Migranten und Geflüchteten, die einen Antrag auf Asyl gestellt hatten, den Zugang zum Gesundheitssystem.
Weiblich: Wir leben in einem Land, in dem ein Teil der Bevölkerung in Watte gepackt wird. Wenn schon die Einwanderung von 800.000 Menschen im Jahr 2015 in eines der reichsten und stabilsten Länder dieser Welt als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wurde, wie schafft es solch eine Gesellschaft, mit einer „richtigen“ Krise umzugehen?
Männlich: War der NSU eigentlich keine richtige Krise?
Zahlreiche rechte Terroranschläge, die das Land überzogen haben?
Oder betrafen sie einfach nur die „Anderen“?
Weiblich: In ihrer Fernsehansprache im März 2020 schaffte es die Bundeskanzlerin Angela Merkel bemerkenswerte Worte zu finden: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Und ein wenig später sagte sie in derselben Rede: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.“
Männlich: Wirklich jeder?
Weiblich: Frank Walter Steinmeier mahnte: „Wir spüren miteinander: Unser Einstehen füreinander, unsere Solidarität ist jetzt existenziell wichtig.“
Männlich: Das mit der Solidarität ist so eine Sache.
Weiblich: Dennoch funktionieren die staatlichen Strukturen gut.
Männlich: Wenn nicht sogar ausgezeichnet.
Weiblich: Es gibt keinen Zusammenbruch. Die Menschen halten sich an die Regeln. Ein paar kaufen etwas zu viel ein, aber das ist eine andere Geschichte. Es ist erstaunlich, wie viel unsere Regierung in so kurzer Zeit auf den Weg bringen kann. Wie viel die Gesellschaft mitträgt und wie sehr unser Leben sich in so kurzer Zeit verändert. Nur, weshalb ist diese ausgezeichnete Reaktion, eine Glanzleistung der good governance, ausschließlich auf die Bekämpfung des Covid-19-Virus und nicht etwa auf den Rassismus beschränkt? Ist der Rassismus weniger tödlich?
Aber wenn nun auf einmal so viel in so kurzer Zeit möglich zu sein scheint, worauf haben wir dann vorher gewartet?
Oder waren die anderen Anlässe einfach nicht wichtig genug?
Männlich: Die Journalistin Ferda Ataman schrieb auf Twitter: „Ich habe irgendwie eine Ahnung, welche Bevölkerungsgruppen in den Krankenhäusern zuerst behandelt werden, wenn Beatmungsgeräte knapp werden“ und bekam einen Shit-Strom, bei dem sie unter anderem als „Hasspredigerin“ bezeichnet wurde. Berichte aus den USA zeigen jedoch, dass ihre These gar nicht so weit hergeholt zu sein scheint. Vielleicht darf man unsere mit der amerikanischen Gesellschaft nicht vergleichen, aber wie sicher ist dieses „vielleicht“?
Weiblich: Sebastian Hammelehle beschwört in einem Essay im Spiegel das Ende der Ära des liberalen Denkens und schafft es, die political correctness in der Nähe der Seuche zu platzieren, natürlich ohne sie inhaltlich miteinander zu verknüpfen. Die Nähe ist wohl eher eine räumliche, so wie sie gerade außerhalb der eng bedruckten Spiegel-Seiten untersagt ist. Er schreibt:
Männlich: „Versteht man Social Distancing aber als intellektuellen Akt, steht er für den Rückzug in die Wagenburg der Gleichgesinnten. Diejenigen, die anders denken als man selbst, müssen draußen bleiben, werden stigmatisiert. Als hätten sie das Virus. (...) Identitätspolitik und politische Korrektheit sind erdacht worden im Kampf um gleiche Rechte, im Kampf um Sichtbarkeit für die Marginalisierten. Doch wenn die gedankliche Offenheit dadurch abnimmt und die Konfrontationen zunehmen, dann ersetzt die Regulierung wieder die Deregulierung, die Begrenzung die Entgrenzung. Künstler und Intellektuelle, die dafür sorgen, dass Bilder abgehängt werden, dass Filme abgesetzt werden, dass Musiker nicht auftreten, dass Bücher nicht veröffentlicht werden und Autoren diffamiert, betreiben Social Distancing mit intellektuellen Mitteln.“
Weiblich: Selbst wenn draußen das Virus um sich greift, möchte ich nicht als „Judenschwein“ bezeichnet werden. So viel political correctness hätte ich gerne selbst am Sterbebett und ja, ich würde lieber am Virus sterben, als durch die Hand eines Rechtsterroristen oder eines gemeinen Antisemiten – und damit bin ich nicht alleine.
Männlich: Hammelehles Essay ist symptomatisch für vieles, das sich gerade im öffentlichen Diskurs vermischt – oder gar nicht erst stattfindet.
Krisen finden in Deutschland nicht mehr statt, sie wurden hinter die EU-Außengrenze verlegt und sollen bitte dort bleiben. Die Erfahrungen der Menschen, die es dennoch geschafft haben, zu uns zu kommen, die einem „wahren“ Krieg entkommen sind, die sichtbare, grausame, reale und tödliche Feinde gesehen haben, auf die geschossen wurde, auf die Bomben geworfen wurden, die vergewaltigt und erniedrigt wurden, die auf einem Plastikboot ein Meer überquert haben, deren Kinder vor ihren Augen ertrunken sind, werden nur bedingt zugelassen.
Weiblich: Dabei sagen die Menschen, die an Covid-19 schwer erkrankt waren und beatmet werden mussten, die Krankheit würde sich anfühlen, als ob man ertrinke. Die Lunge fülle sich langsam mit Wasser. Man ertrinkt. Quälend langsam.
Männlich: Wer spricht für wen und wer hört eigentlich zu?
Weiblich: Während überall die Grenzen geschlossen werden, beschwören zahlreiche Politiker*innen in ihren Reden die „Gemeinschaft“. Allerdings ist unsere Gemeinschaft nicht unbedingt solidarisch und die Isolation bringt auch nicht gerade das Beste in den Menschen hervor. Genauso wenig, wie die Abschottung der europäischen Grenzen Europa besser gemacht hätte oder auch nur geeint hätte.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Europäische Union die gegenwärtige Krise überwinden wird.
Tatsächlich sieht es mit der Solidarität nicht wirklich gut aus. Natürlich hängen auch in unserem Treppenhaus die Zettel, auf denen Hilfe angeboten wird. Kaum einer in unserem Haus, ein mittelgroßer Bau in Neukölln, kennt sich.
Männlich: Manchmal nickt man sich im Treppenhaus zu.
Weiblich: Manchmal nimmt man füreinander Pakete an.
Männlich: Manche unserer Nachbarn kennen wir persönlich.
Weiblich: Bei anderen bekommen wir nicht einmal mit, wenn sie ausziehen.
Männlich: Die Anonymität der Großstadt hat auch Vorteile
Weiblich: … nur eben nicht in Krisenzeiten.
Männlich: Die Geschäfte und die Straßen sind dennoch voller älterer Menschen, die nun eigentlich nicht auf der Straße sein sollten. Doch viele von ihnen haben niemanden, der ihnen das Einkaufen abnehmen könnte. Zum größten Teil ist es die Einsamkeit, die sie aus den Wohnungen treibt. Währenddessen gehen die Menschen, die auf einmal ihre Kinder zu Hause betreuen müssen, die Wände hoch. Unser soziales Miteinander, unsere Familienstrukturen sind nicht für diese Krise geschaffen, wahrscheinlich sind sie noch nicht einmal für uns selbst geschaffen. In Berlin waren nach den ersten zwei Wochen der Ausgangsbeschränkung wieder Menschen auf den Spiel- und Bolzplätzen zu sehen – überwiegend Erwachsene.
Weiblich: In Baku halfen die Menschen sich gegenseitig, sie ermordeten auch einander, dennoch war da eine unglaubliche Solidarität – auch während der Pogrome. Mein Mann war verwundert, als Ende Februar die Supermarktregale auf einmal leer waren: Man teilt doch, sagte er, wenn es hart auf hart kommt. In Baku erlebten wir Jahre, in denen es nichts gab außer illegal gefischten Kaviar, kein Strom, kein Wasser, kein Brot und schon gar keine Butter, aber kiloweise Kaviar. Der wurde ohne Wenn und Aber geteilt.
Männlich: Wobei – seit 2015 engagiert sich eine überwältigende Zahl der Deutschen in der Flüchtlingshilfe. Jeder Zehnte ist aktiv. Dennoch wird von manchen das Engagement schlechtgeredet, wird als „Gutmenschentum“ verworfen. Nun ist dies genau das, was von der Gesellschaft gefordert wird.
Weiblich: Große Taten sind nicht gefragt.
Männlich: Wir sollen lediglich geduldig sein und zu Hause bleiben.
Weiblich: Falls man ein Haus hat.
Weiblich: Nicht weniger gefährlich als ein Virus ist die Armut in Deutschland und wenn gerade Unternehmen mit Milliarden subventioniert werden, könnte man doch nachfragen: Müssen sie es? Bezahlen sie ihre Arbeitnehmer*innen fair, arbeiten sie ökologisch nachhaltig? Sollte der Staat seine Kredite und Hilfen an Auflagen binden?
Es gibt Berichte, in denen gemutmaßt wird, dass es Menschen in kleineren Wohnungen während der Ausgangsbeschränkungen nicht besonders gut ergeht, dass die häusliche Gewalt steigt, ist keine Unterstellung, die Berichte aus China und Italien verheißen nichts Gutes.
Viel wird auch über das Homeschooling gesprochen und die sozialen Unterschiede, immer geht es darum, dass es in unserem Schulsystem benachteiligte Kinder gibt, aber die gibt es nicht erst seit dem Ausbruch der Pandemie. Genau wie die häusliche Gewalt, der endlich Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Männlich: Man könnte natürlich auch einfach beschließen nicht jedes Unternehmen zu retten. Sich fragen, ob jeder Milliarden-Kredit gerechtfertigt ist. Vielleicht könnte man stattdessen das Geld den Kindern auszahlen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Jetzt ist die Zeit, die Kinder mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen, ihnen neues Spielzeug zu schenken, Bücher, Knete, Bastelmaterialien, Fahrräder, Roller, Trampoline oder was sie sonst noch so brauchen.
Weiblich: Kinder, in deren Familien nicht Deutsch gesprochen wird, seien nun abgehängt, sagen ein paar Stimmen da draußen. Weshalb kann man nicht sagen, dass auch die „Herkunftssprachen“ nicht stärker werden? Dass die Kinder sich in Arabisch, Türkisch, Russisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Vietnamesisch üben dürfen? Oder liegt es daran, dass Französisch, Englisch und Spanisch kein Problem darstellen?
Weiblich: Zugegeben, auch ich komme damit nicht wirklich klar. Wir sitzen in einer eindeutig zu kleinen Wohnung fest und träumen abwechselnd von einem Reihenhaus mit einem Garten für die Kinder oder auch nur davon, fünf Minuten alleine im Bad zu verbringen. Als der Wohnraum in Berlin immer knapper wurde, haben wir uns damit getröstet, dass wir ohnehin kaum zu Hause sind und dabei arbeite ich in diesen Räumen. Aber die Kinder haben ihren Kindergarten und ihre Hobbys und ich brauchte nicht mehr als einen Schreibtisch irgendwo in der Wohnung.
Männlich: Ich finde es schön, tatsächlich einmal den Wissenschaftler*innen zuzuhören und sich danach zu richten. Ist es nicht auch Teil der „Aufklärung“? Der beschworenen „Leitkultur“?
Weiblich: Und jetzt?
Männlich: Ich weiß nicht.
Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir eigentlich ganz gut regiert werden und unsere Regierung entschlossen handeln kann. Es wäre schön, wenn wir diese Entschlossenheit beibehalten würden und den Begriff der Menschlichkeit wieder auf alle Menschen, alle Untertanen, die gegenwärtigen und die zukünftigen, ausweiten mögen.
Weiblich: Und wenn wir uns eingestehen könnten, dass unser Leben sich eben doch nicht planen lässt. Dass uns der Abstand von 1,5 Metern zu unserem Gegenüber nicht retten wird, dass der Staat uns nicht retten wird, dass uns niemand retten wird.
Doch irgendwann werden wir wieder zum Alltag zurückkehren, und alles wird vergessen sein. Um noch einmal Natalia Ginzburg zu zitieren: „Träume verwirklichen sich nie, und kaum haben sie sich verflüchtigt, erkennen wir jäh, dass wir die größten Freuden unseres Lebens außerhalb der Wirklichkeit zu suchen haben. Kaum haben die Träume sich verflüchtigt, verzehren wir uns vor Sehnsucht nach der Zeit, da sie uns erfüllten.“