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Leben und Werk bei Puschkin

Die Zaren im Kreml kommen und gehen - und werden oft schnell vergessen. Unsterblich sind allein Dichterfürsten. Für keinen gilt das so sehr wie für Alexander Puschkin. Seit die DDR von der Landkarte getilgt wurde, ist es um Puschkin in Deutschland stiller geworden. Grund genug, die jüngste deutsche Puschkin-Biografie vorzustellen. Eine Rezension von Dietrich Möller. Eine Rezension von Dietrich Möller.

    Der Moskau besuchende Reisende wird schon während eines ersten Rundgangs im Zentrum der Stadt fast zwangsläufig auf das Standbild Puschkins an der Twerskaja stoßen. Und wenn es der Zufall will, wird er in eine Demonstration oder in eine Protestkundgebung geraten, die just hier, gleichsam zu Füßen des Dichters, beginnt oder stattfindet. Das hat Tradition; Puschkin gilt seinen Landsleuten ebenso als Patriot wie als Gegner allen autokratischen Herrschaftsgebarens, als Sympathisant jeglicher Äußerung wider Unrecht und Unterdrückung. Freilich, all das lässt sich keineswegs in jener Statue erkennen, Puschkin schaut nur versonnen von seinem Sockel herab. Aber damals, anno 1871, 34 Jahre nach dem Tod des Poeten, als der Beschluss über die Errichtung eines Denkmals gefasst wurde, erging er mit ausdrücklicher Billigung des Zaren und unter Vorsitz eines Mitglieds der kaiserlichen Familie, womit sich von vornherein eine andere als eine zurückhaltende, womöglich gar verlogene Pose verbot. Der Zar mochte und musste den Poeten schätzen. Den kritischen Freigeist indessen betrachtete er kaum weniger misstrauisch wie seine beiden Vorgänger, von denen der eine, Alexander I., Puschkin erst strafend weit in den Süden des Landes versetzt und dann später unter Polizeiaufsicht verbannt hatte.
    Dieser Gegensatz von Persönlichkeit und Denkmalspose findet sich auch in einer anderen Weise.

    "Leben und Werk sind bei Puschkin in widerspruchsvoller Weise aufeinander bezogen. Einem exaltierten, mitunter ins Infantile abgleitenden, stets zu Scherzen, Liebelei und Provokation aufgelegten Lebensstil stehen poetische Werke von erstaunlicher künstlerischer Vollkommenheit gegenüber...",

    ... lesen wir in der Einleitung einer Puschkin-Biographie, die Reinhard Lauer verfasst hat. Und:

    "Puschkins Künstlertum greift ... alle nur denkbaren Themen auf: private, intim-erotische und philosophische, patriotische und politische, historische und mythische. Die immer wieder beglückende Leichtigkeit, ja Virtuosität seines Stils in Vers und Prosa, die Lust an der literarischen Allusion, die poetische Klangfülle, die konzise Dichte seiner Prosa, die gefällige und geistreiche Eleganz seines Ausdrucks - all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Puschkins Werk unablässig Spannungen, Widersprüche, Unvereinbarkeiten herrschen. Was sich gegenseitig auszuschließen scheint - existenzieller Ernst und weltläufige Eleganz -, bei Puschkin tritt es zusammen. Ja, Puschkin ist der Dichter der Aporien, der unüberbrückbaren, unauflöslichen Widersprüche, der über die Abgründe, die er deutlich vor sich sieht, die schönen Schleier der vollkommenen poetischen Form legt."

    Stoffe und Anregungen fand er genug. Die napoleonischen Kriege, die schlimmen Konsequenzen aus der 'Heiligen Allianz' auf Russland und Europa, der polnische Aufstand von 1830 und die Revolten in Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien und allemal die der Dekabristen in Russland nahm er ebenso sensibel auf wie seine unmittelbare - und widerspruchsvolle - Umgebung in Petersburg, Moskau und auf dem Lande, wie die Eindrücke während seiner vielen Reisen. Nach dem Lyzeum als Kollegiensekretär im Außenministerium angestellt, genoss er reichlich Zeit und Freiheit, dem leichten Leben zu frönen, mit gefälligen Damen und beim Glückspiel, natürlich auch mit anregenden Gesprächen und Muße zum Denken und Schreiben. Schon früh nahm er sich dazu die Freiheit, jenes Selbstherrschertum in Frage zu stellen, dem er seine Stellung verdankte:

    "Nur dort wird sich der Völker Leid
    Nicht auf die Fürsten niedersenken,
    Wo mächtige Gesetzlichkeit
    Und heilige Freiheit sich verschränken...

    Ihr Herrscher! Euch gab Thron und Reich
    Das Recht - nicht die Natur - zum Lehen;
    Und mögt ihr überm Volke stehen,
    Das Recht steht ewig über Euch."


    Ein paar Wochen auf dem mütterlichen Gut Michailowskoje ließen den Zwanzigjährigen bewusst das Leben in einem Dorf aufnehmen, die ruhige Schönheit der Landschaft wie auch die Fron der Bauern:

    "Für Tränen blind, für Stöhnen taub,
    Vom Schicksal auserwählt, damit die Menschheit blute,
    Gesetzlos, fühllos nimmt der Gutsherr seinen Raub
    Und stiehlt dem Bauersmann, mit der Gewalt der Knute,
    Die Früchte seiner Müh, sein Eigentum, die Zeit."


    Natürlich, er hoffte wie viele seiner Freunde auf die Befreiung der Bauern aus dem Joch der Leibeigenschaft und dabei - auf Einsicht und Order des Monarchen:

    "O Freunde! Öffnet sich dem Volk der Freiheit Tor,
    Und fällt die Sklaverei auf einen Wink des Zaren,
    Steigt überm Vaterland, nach langen Leidensjahren,
    Das schöne Morgenrot des freien Geists empor?"


    Eine Frage, die lange über den Sturz der Autokratie hinaus ohne Antwort geblieben ist. Die formale Aufhebung der Leibeigenschaft durch Alexander II. im Jahre 1861 erlebte er nicht mehr, und ein wirklich freies Bauerntum sollten auch die Folgezeit und zwei Revolutionen nicht bringen.

    Puschkin wurde damals und auch künftig mit der Dezember-Revolte 1825 gegen die Autokratie und den eben auf den Thron gekommenen Nikolaus I. in Verbindung gebracht, sowohl von seinen zeitgenössischen Gegnern als auch später von jenen, die ihn nur allzu gern für ihre Ideologie und Politik in Anspruch nahmen. Tatsächlich war er - wie Lauer schreibt - ...

    "... in den Umkreis der Offiziersverschwörung geraten, die sich in Geheimgesellschaften oder auch Freimaurerlogen getarnt organisierte. In die ohnehin eher verworrenen Gliederungen der revolutionären Bewegung ... hatte er keinen Einblick. Auch von den politischen Zielen der Verschwörer dürfte er eine eher nur allgemeine Vorstellung besessen haben. Dass es um die Herstellung von Freiheit und Gleichheit, um die Bauernbefreiung, um Parlamentarismus, um die Verkündung einer Konstitution, gar auch um die Beseitigung des Monarchen ging - das wusste er aus den 'unerlaubten' Diskursen, an denen er selbst oft vorlaut beteiligt gewesen war. Doch welcher Handlungsanleitung die Verschwörer folgten, wer wie wann eine Revolte anführen sollte, das konnte sich seine Phantasie schwerlich ausmalen. Vor allem ahnte er nicht, wie nahe er den Akteuren gestanden hatte und noch stand."

    Hätte er sich wie sie engagiert und offenbart? Lauer beschreibt eine aus den Quellen zu rekonstruierende Episode, ein auf Vorladung des Zaren stattgefundenes Gespräch zwischen Nikolaus und Puschkin:

    "Puschkin trat dem Kaiser mit Offenheit entgegen... Und Nikolaus fragte unumwunden: 'Was hättest du getan, wenn du am 14. Dezember in Petersburg gewesen wärst?' 'Ich wäre in die Reihen der Aufständischen getreten', antwortete Puschkin. Der Zar soll Puschkin aufgefordert haben, er solle seine Denkungsart ändern; Puschkin habe das, nach einigem Zögern, zugesagt: Er wolle ein anderer werden. Als Puschkin die Zensur ansprach, habe der Zar Erleichterungen in Aussicht gestellt und versprochen, selbst Puschkins persönlicher Zensor sein zu wollen."

    Nun, die Zensur wurde von Nikolaus bald eher verschärft denn gelockert. Aber die über Puschkin verhängte Verbannung auf das Familiengut immerhin wurde aufgehoben, er konnte künftig wieder in Petersburg und Moskau leben. Nein, seinen Idealen schwor er nicht wirklich ab, aber sie trafen mit seiner patriotisch imperialen Gesinnung zusammen, und die erwies sich als stärker. Nach dem Sieg Russlands über das Osmanische Reich im November 1829 und der damit verbundenen territorialen Beute dichtete er:

    "Und weiter ward das Russenland,
    Das nun im Süden Fahnen hisste,
    Es zog die halbe Schwarzmeerküste
    An seine Brust mit starker Hand."


    Den polnischen Aufstand ein Jahr darauf verstand er nicht als Versuch einer nationalen Befreiung, sondern als Verrat der westslawischen Brüder:

    "Was tobt ihr auf den Rednerbühnen,
    Woher der Groll, mit dem ihr gegen Russland schäumt?"


    Im Februar 1831 heiratete Puschkin, im November wurde er wieder in die Dienste des Außenministeriums übernommen und erhielt Zugang zu den kaiserlichen Archiven. Mit Eifer wandte er sich nun vor allem Persönlichkeit und Wirken Peters des Großen zu.

    "Peter... hatte Russland aus der Rückständigkeit gerissen und dem Land eine Modernisierung aufgezwungen, die es einer permanenten Spannung aussetzte, welche auch hundert Jahre darauf für jeden Russen spürbar blieb. So kann es nicht verwundern, dass Peter ... für Puschkin ein ständiger Anstoß zum Nachdenken war. Über Herrschergewalt und Herrschergröße, über Selbstherrschaft und Wohl des Staates, über Zarenwillkür und Leid der Untertanen."

    Insofern blieb Puschkin immer auch ein Homo politicus; in vielen seiner Werke findet sich ein entsprechender Niederschlag.

    Man mag meinen, die Anstellung im Außenministerium sowie die Honorare aus seiner Dichtung hätten ihm und seiner Familie eine sichere Existenz geboten. Doch weit gefehlt. Puschkin war fast sein Leben lang verschuldet, er spielte allzu gern und

    verspielte allzu viel; und als er am letzten Tag des Jahres 1833 in den Rang eines Kammerjunkers bei Hofe erhoben wurde, verlangte das ein noch aufwendigeres Leben, als er es ohnehin schon führte - abgesehen davon, dass der Titel einer Demütigung gleichkam: Seinem Ansehen als der russische Dichter hätte allemal der Rang eines Kammerherrn entsprochen. In diese Zeit fällt unübersehbar eine Schaffenskrise, die er nicht mehr überwand. Puschkin starb am 29. Januar 1837 an den Folgen eines Duells mit gerade 38 Jahren.

    Es hieße, Reinhard Lauer Unrecht zu tun, wiese man nicht darauf hin, dass seine Biographie natürlich weit mehr auf den Poeten Puschkin denn auf den Homo politicus eingeht. Dabei ist sie keineswegs mit Textanalysen und -interpretationen überfrachtet, sondern eher sparsam versehen - gerade so viel, um Leben und Persönlichkeit dieses großen, nein, des größten russischen Dichters auch aus seinem Werk kennen zu lernen und zu verstehen. Sie ist nicht nur für Spezialisten geschrieben, sie wendet sich - ohne Verrat an der Seriosität ihres Verfassers und seines Renommees - an ein breiteres Publikum. Das freilich hätte es etwas einfacher, wenn man auf die wissenschaftliche Umschrift russischer Namen und Wörter verzichtet hätte, im Text jedenfalls; im Anmerkungsapparat und Literaturverzeichnis ist es eher hilfreich.
    Ein empfehlenswertes Buch.