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Lebensgefährliche Plagiate

Ein unbeschriftetes Plastiktütchen mit losen blauen Pillen, teilweise zerbrochen und ohne Beipackzettel: So sah eine Lieferung aus, die nach einem Probekauf beim Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker einging. Die Tester hatten ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel über das Internet bestellt. Um den Inhalt solcher Sendungen steht es oft nicht viel besser: Mindestens jede zehnte Tablette ist gefälscht, enthält zu wenig oder gar keinen Wirkstoff.

Von Hellmuth Nordwig |
    Es ist schon warm an diesem Morgen im Spätsommer 2007. Eine Frau und drei Männer warten darauf, dass die Apotheke öffnet. Sie sind mit einer dunkelblauen Limousine vorgefahren. Nichts Ungewöhnliches in Durlach, einem der besseren Stadtteile von Karlsruhe. Einer der Männer verschwindet unauffällig zum Hintereingang des Hauses. Sobald der Apotheker den Schlüssel umgedreht und den Rollladen hochgezogen hat, treten die anderen ein. Die Dame legt eine Marke aus Metall auf den Tresen. Darauf die drei Stauferlöwen mit der Krone, das Wappen des Landes Baden-Württemberg. "Kriminalpolizei. Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss für Ihren Betrieb."

    "So, wir haben volles Haus, alle Stühle sind besetzt. Ganz herzlich willkommen zu dieser Pressekonferenz der Gesellschaft für Innere Medizin. Anlass ist das alljährliche Herbstsymposium."

    Wiesbaden, ein Nobelhotel in der Innenstadt. Im nüchternen Konferenzraum drängen sich rund zwei Dutzend Journalisten, auch ein paar Kamerateams sind dabei. Das ist nicht immer so, wenn die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin die Presse einlädt. Doch heute geht es um ein Thema, das viele Medienvertreter anlockt.

    "Gefälschte Medikamente. Mittlerweile sind rund zehn Prozent aller weltweit auf dem Markt befindlichen Medikamente gefälscht. Die meisten dieser Fälschungen tauchen in den Entwicklungsländern auf, weniger in den europäischen Ländern, aber auch hier werden es immer mehr."

    Anne-Katrin Döbler ist die Pressesprecherin der Internisten-Gesellschaft. Sachlich und nüchtern trägt sie die Fakten vor. Einige Journalisten sind gekommen, weil sie einen tragischen Fall aus den USA in Erinnerung haben: Dort starben im Jahr 2007 mehr als 100 Menschen, denen Ärzte den Blutverdünner Heparin gespritzt hatten. Dieses Präparat war in China hergestellt worden. Es war sicher verunreinigt gewesen, vielleicht sogar gefälscht. Eine seltene Ausnahme oder die Spitze eines Eisbergs? Auf der Pressekonferenz sagt dazu Dr. Franz-Josef Wingen vom Pharmahersteller Bayer HealthCare:

    "In Deutschland sieht es Gott sei Dank so aus, dass wir – wenn wir von Medikamenten, die wir über Apotheken beziehen, sprechen – sicher unter ein Prozent an Fälschungen liegen, wahrscheinlich noch deutlich niedriger."

    Einige Pressevertreter werden unruhig. Denn was Franz-Josef Wingen da gesagt hat, würde ja im Klartext bedeuten: Womöglich enthält jede hundertste Schachtel aus der Apotheke nicht das, was draufsteht. Das wäre eine sensationelle Schlagzeile. Doch nach hartnäckigen Fragen der Journalisten müssen die Experten eingestehen: Belege für diese Zahl gibt es nicht. Sie wird von der Weltgesundheitsorganisation kolportiert – doch die hat niemals die Bestände in deutschen Apotheken überprüft.

    Ob nun ein Prozent oder viel weniger: Dass gelegentlich gefälschte Arzneimittel auftauchen, bestreitet niemand. Sonst gäbe es keine Spezialabteilung im Bundeskriminalamt BKA, die in Fällen von Medikamentenfälschungen ermittelt. Auch diese Behörde ist in Wiesbaden angesiedelt.

    Einen Interviewtermin muss man als Journalist allerdings von langer Hand planen. Man kann sich nicht einfach zu einem Experten durchfragen und mit ihm telefonieren, wie es sonst üblich ist. Nein, hier möchte die Presseabteilung erst einmal die genauen Fragen haben, bevor sie dem Ermittler auch nur grünes Licht für ein Hintergrundgespräch gibt. Und einen Interviewtermin gibt es nur, wenn der Reporter vorab sein Geburtsdatum bekannt gibt – wegen der erforderlichen Sicherheitsüberprüfung, sagt die Pressesprecherin. Doch eines Tages ist es soweit: Der Personalausweis ist an der Pforte hinter schusssicherem Panzerglas verschwunden, der Metalldetektor durchschritten und der Rucksack kontrolliert, und schon darf man den zuständigen Kriminalbeamten treffen.

    "Ich heiße Klaus Gronwald und bin bei SO 36 im BKA zuständig für den Bereich Umwelt, Verbraucherschutz und Arzneimittelkriminalität."

    "SO", das Kürzel steht für "schwere und organisierte Kriminalität". So ordnet also die Polizei Arzneimittelfälschungen ein. Klaus Gronwald ist ein unauffälliger Mann: mittelgroß, in mittlerem Alter und auch sonst unscheinbar. Man sieht ihm nicht an, dass gerade er aus der Sicht der Polizei in Deutschland den besten Überblick darüber hat, welches Risiko für Patienten wirklich besteht. Vorausgesetzt, sie kaufen ihre Medikamente über die so genannte "legale Verteilerkette", wie es im Polizeideutsch heißt, also in der Apotheke um die Ecke: Könnte dort wirklich jede hundertste Packung gefälscht sein? Gronwald:

    "Wer in der Apotheke einkauft, kann sehr sicher sein, dass er ordentliche Original-Arzneimittel bekommt. Zu den Zahlen kann ich sagen, dass wir uns im BKA seit 1996 mit diesem Thema intensiv beschäftigen. Wir haben in dieser Zeit 38 Fälle von Arzneimittelfälschungen in der legalen Verteilerkette festgestellt. Davon sind sieben total gefälschte Arzneimittel, also da ist nichts mehr original dran."

    Es tauchen also nur sehr wenige Fälschungen in Apotheken auf. Andererseits kann ein einzelner Kriminal-"Fall" schon mal eine Million Packungen bedeuten. Doch Totalfälschungen, bei denen selbst der Wirkstoff nachgemacht ist oder ganz fehlt: Sie kann man im letzten Jahrzehnt an den Fingern abzählen. Ob Patienten dadurch zu Schaden kamen, ist nicht bekannt. Wie viele Menschen weltweit überhaupt wegen gefälschter Medikamente sterben, das kann auch Klaus Gronwald nicht abschätzen. Schaden entsteht auf jeden Fall den Pharmafirmen, welche die Originale produzieren. Denn jede gefälschte Packung hat zur Folge, dass die Unternehmen eine echte, teure Schachtel weniger verkaufen können. Im Fall eines nachgemachten Aids-Medikaments, das 2002 auch nach Deutschland gelangte, entgingen dem Pharmaunternehmen jeweils etwa 330 Euro. Soviel kostet eine Packung mit 56 Kapseln. 43.000 gefälschte Packungen tauchten damals auf. Sie herzustellen, dürfte nur einen Bruchteil der Summe gekostet haben. Klaus Gronwald:

    "Die kann man wiederum auf Täterseite durch günstigste Beschaffung in asiatischen Ländern, vor allem China und Indien, sehr preisgünstig herstellen und mit Gewinn im Internet verkaufen. Die dabei erzielbaren Gewinnspannen sind durchaus vergleichbar denen des Rauschgifthandels. Ein Täter, der sich so etwas vornimmt, der auch einen Zugang zur legalen Verteilerkette in Deutschland hat, wo auch immer der sitzen mag – der plant so etwas nicht nur für eine Packung oder für 100 Packungen, sondern das ist auf längere Zeit angelegt."

    So wie bei Dr. Richard A. (Richard engl. aussprechen), 72 Jahre alt. US-Staatsbürger mit Wohnsitz Mallorca und Arzt ohne Lizenz, denn die hatte der Bundesstaat New York ihm 1999 aberkannt. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft Saarbrücken soll Dr. A. zwischen April 2002 und November 2004 über eine Firma in St. Wendel in großem Stil gefälschte Medikamente europaweit vertrieben haben. Fünf Mittäter konnten festgenommen und zu mehrjährigen Haft- oder Bewährungsstrafen verurteilt werden. Auch Dr. A. wurde mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Im März 2007 konnten ihn Fahnder in Lyon stellen; A. wurde nach Deutschland ausgeliefert. Im August 2007 erklärte das Landgericht Saarbrücken den Ex-Arzt für nicht verhandlungsfähig und ließ ihn unter Auflagen frei. Was den ermittelnden Staatsanwalt maßlos ärgert. Denn A. nutzte die Gelegenheit und verschwand – bis heute. Den Gesamtumsatz seiner "Firma" schätzt die Staatsanwaltschaft auf zehn Millionen Euro. Ihr Marktplatz war, wie fast in allen Fällen, das Internet.

    In Karlsruhe verstauen die Fahnder einen Umzugskarton mit Ordnern und CD-ROMs in ihrem dunklen Auto. Neben den Geschäftsunterlagen haben die Kriminalbeamten im Labor der Apotheke Medikamente sichergestellt, die sie gerade in eine weitere Kiste packen: Zytostatika, also Krebsmittel, die der Apotheker bei Bedarf selbst zu einer gebrauchsfertigen Lösung anrührt. Auf den Lieferscheinen stehen Adressen von Händlern auf der Isle of Man und in Dänemark. Danach haben die Fahnder gesucht, denn die betreffenden Krebsmedikamente sind in Deutschland nicht zugelassen. Der Apotheker hängt ein Schild an die Ladentür, auf dem steht: Wegen Trauerfall geschlossen.

    Wer seine Medikamente aus dem Urlaub in Sharm-el-Sheikh oder Goa mitbringt, weil sie dort viel billiger sind, der kann kaum darauf vertrauen, dass er dort Originale bekommt. Und wer Arzneien im Internet bestellt, erst recht nicht. Zwar gibt es auch seriöse Online-Anbieter, aber diese weißen Schafe sind nicht immer eindeutig zu erkennen. Für die Apotheken um die Ecke ist das ein willkommenes Argument gegen den Versand aus dem Netz. Denn auch der ist für sie unliebsame Konkurrenz, selbst wenn er ganz legal erfolgt. So deutlich sagen das die Apothekerkammern zwar nicht, aber sie differenzieren auch nicht gerade. So ist zum Beispiel aus München zu hören: "Die Apotheken in Bayern sind Garant für die Arzneimittelsicherheit." Man könnte auch sagen: Wer seinen gesunden Menschenverstand gebraucht, kann sich leicht vor falschen Pillen schützen. Das würde eigentlich als Botschaft genügen. Und doch macht die Pharmaindustrie immer wieder einen ziemlichen Wirbel um gefälschte Arzneien. Steht für sie doch mehr auf dem Spiel als entgangener Umsatz? Bei der Firma Bayer HealthCare in Leverkusen antwortet der Jurist Dr. Claus Moritz Trube auf solche Fragen.

    "Gefälschte Arzneien gefährden die Gesundheit, möglicherweise sogar das Leben ahnungsloser Patienten. Und wir möchten unsere Patienten vor diesen Gefahren schützen und natürlich zugleich auch verhindern, dass Kriminelle den guten Ruf unseres Unternehmens und unserer Originalprodukte beschädigen."

    Auch dieses Interview hat eine Vorgeschichte. Die Pharmaindustrie ist nämlich ausgesprochen zugeknöpft, wenn es um das Thema Arzneimittelfälschungen geht. Nur auf Fachtagungen ist etwas mehr zu erfahren. Auf einer davon hatte im November 2008 ein Dr. Stephan Schwarze von Bayer HealthCare einen aufschlussreichen Vortrag gehalten. Die Konferenzteilnehmer erfuhren, dass es in seinem Unternehmen eine Datenbank gibt, in der mögliche und tatsächliche Fälschungen der Produkte festgehalten werden. Und Bayer unterhalte sogar eine eigene Task Force, die sich mit Fälschungen befasst, berichtete Stephan Schwarze. Nur: Ein Interview darf er nicht geben, an Ort und Stelle schon gar nicht. Das sei unternehmensintern so geregelt, bedauert er. Also müssen wieder einmal Fragen an die Pressestelle geschickt werden, damit Claus Moritz Trube eine Woche Zeit hat, seine Antworten sorgfältig abzuwägen und abzustimmen. Sicher hatte er auch Gelegenheit, die firmeninterne Datenbank zu konsultieren und mit der Task Force zu sprechen. Und doch sagt er auf die Frage nach der Zahl von Fälschungen, die seinem Unternehmen bekannt geworden sind, nur:

    "Da gibt es schon einige Fälle, die wir sehen, aber ich denke, dass die genaue Anzahl der Fälle gar nicht sooo relevant ist. Wir wissen ja gar nicht, wie viele Fälschungen auf welchen Märkten in Umlauf sind, und ... deswegen ... ich warne auch vor falscher Zahlengläubigkeit. Wir müssen das Problem ernsthaft angehen, egal, wie viele Fälle es gibt. Jeder Fall ist einer zu viel."

    Das konkurrierende Unternehmen Pfizer in Berlin ist auskunftsfreudiger: Im Jahr 2006 seien in Europa sieben Millionen falsche Tabletten Sildenafil sichergestellt worden, besser bekannt unter dem Handelsnamen Viagra, erklärt ein Pfizer-Sprecher auf Anfrage. 2007 waren es doppelt so viele. Und 2008 dürfte noch einmal ein deutlich erfolgreicheres Jahr gewesen sein. So ging den Zollfahndern am Frankfurter Flughafen im November eine vier Zentner schwere Frachtsendung ins Netz. Allein sie enthielt 600.000 gefälschte Viagra-Pillen, die auf dem Weg von Indien nach Chile waren. Dort sollten sie vermutlich für den europäischen Markt umgepackt werden. Insgesamt beschlagnahmt der deutsche Zoll jedes Jahr gefälschte Medikamente im Wert von mehreren Millionen Euro, Tendenz steigend.

    Da wäre es aufschlussreich gewesen, zu erfahren, wie hoch der Schaden ist, der Bayer HealthCare durch Fälschungen entsteht. Auch diese Frage stand bereits in der Email an die Pressestelle. Man muss dennoch ziemlich hartnäckig sein, um Claus Moritz Trube eine Antwort zu entlocken. Die enttäuscht allerdings.

    "Nun, die genauen Zahlen betrachten wir als Geschäftsgeheimnis."

    Auch andere große Pharmaunternehmen geben keine Zahlen preis. Merck, GlaxoSmithKline und Sanofi-Aventis antworten überhaupt nicht auf eine entsprechende Anfrage. Zwei Unternehmen geben immerhin zu, von Fälschungen betroffen zu sein: MSD Sharp & Dohme, der Hersteller eines Haarwuchsmittels, und Lilly Deutschland, ein Unternehmen, das wie Pfizer und Bayer ein Potenzmittel anbietet. Doch über den wirtschaftlichen Schaden ist auch dort nichts zu erfahren. Bei Lilly immerhin soviel: Wenn Patienten zu Schaden kommen, ist das für uns viel schlimmer als Umsatzeinbußen.

    Dass auch der Ruf der Firma auf dem Spiel steht, spielt sicher ebenfalls eine Rolle. Deshalb versuchen die Hersteller schon seit geraumer Zeit, den Fälschern das Leben schwer zu machen. Sie versehen immer mehr Medikamenten-Verpackungen mit Sicherheitsmerkmalen, die man auch von Geldscheinen kennt: Zum Beispiel mit Hologrammen oder Aufdrucken mit fluoreszierender Tinte. Sie sollen es unmöglich machen, eine Verpackung einfach einzuscannen und nachzudrucken. Zusätzlich will die Industrie in Europa ein neues Konzept umsetzen.

    Davon war auch auf dem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin in Wiesbaden die Rede. Michael Dammann vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller erklärte dazu:

    "Wir wollen ein System entwickeln und im Jahr 2009 in Deutschland testen, welches als ein Kernelement vorsieht, dass jede Arzneimittelpackung einen individuellen Code bekommt, einen so genannten Datamatrix-Code. Das ist das, was Sie von Ihren Boardingcards kennen."

    Hier zeigt Michael Dammann sein Flugticket, auf dem ein so genannter zweidimensionaler Barcode aufgedruckt ist. Solche Felder mit einem Muster schwarzer Vierecke kennt man auch von den Online-Tickets der Bahn oder von elektronischen Briefmarken. Nun sollen also Medikamente folgen. Die Software, mit der solche Muster erzeugt werden, gibt es allerdings frei zugänglich im Internet. Es wäre also für einen Fälscher kein Problem, eine Arzneimittelschachtel zu bedrucken, einschließlich der individuellen Nummer, die jede Packung zukünftig tragen soll. Ähnlich wie bei der Fahrkartenkontrolle sollen Fälschungen aber auffliegen, sobald der Apotheker beim Kauf des Medikaments den Barcode scannt. Dammann:

    "Der Apotheker greift auf eine Datenbank zu, in welcher all die Seriennummern hinterlegt sind zu allen Packungen. Und er kann dann durch den Abgleich mit dieser Datenbank überprüfen: Gibt es diese Seriennummer, ist sie echt, oder gibt es sie nicht? Wenn es sie nicht gibt, weiß der Apotheker, hier ist etwas falsch, denn diese Nummer wurde laut Datenbank niemals vergeben."

    Das gleiche gilt, wenn eine Packung mit derselben Nummer bereits irgendwo verkauft wurde. Ein Fälscher kann also bestenfalls eine Schachtel eines Medikaments in Umlauf bringen, und das dürfte sich nicht lohnen, hofft der Pharmaverband. Teurer als heute sollen die Arzneien in den codierten Verpackungen nicht werden; die Apotheken müssen allerdings gut 100 Euro für das Lesegerät investieren. Ob sich die Hoffnungen in das System erfüllen, wird der Pilotversuch zeigen, der bald beginnen soll.

    Der laue Morgen im September 2007 ist ein voller Erfolg für die Fahnder der Kriminalpolizei, nicht nur in Baden-Württemberg. So ähnlich wie dem Karlsruher Apotheker geht es an diesem Tag rund 100 seiner Kollegen in acht Bundesländern und im Schweizer Kanton Basel. Fast überall beschlagnahmen die Ermittler Unterlagen und Medikamente. Auch zwei Betriebe von Pharmahändlern werden von Polizisten durchsucht. Dort tauchen ebenfalls nicht zugelassene Krebsmedikamente aus dem Ausland auf. Einige der sichergestellten Lieferungen sind nicht originalverpackt, manche in arabischer Schrift etikettiert, die Beipackzettel fehlen fast überall. Die Medikamente werden zur Laboruntersuchung ins Landeskriminalamt in Stuttgart gebracht.

    Im Gewerbegebiet von Eschborn bei Frankfurt. Zwischen Schuh-Großmarkt und Tankstelle ein nüchterner Bürobau aus Beton, Sitz des "Zentrallaboratoriums Deutscher Apotheker". Im ersten Stock sichtet die stellvertretende wissenschaftliche Leiterin, Dr. Mona Tawab, den Posteingang.

    "Im Rahmen eines Testkaufs des Zentrallaboratoriums haben wir überprüft, inwiefern wir verschreibungspflichtige Medikamente ohne Rezept bekommen können. Wir haben uns auf Wirkstoffe konzentriert, die ein sehr hohes Suchtpotenzial haben. Es kommen die Sendungen manchmal aus Indien, auch aus Argentinien haben wir Sendungen erhalten, aus Nordafrika. Wir haben jetzt hier eine kleine Plastiktüte aus einem Briefumschlag ausgepackt. Darin befinden sich blaue Tabletten, zum Teil zerbrochen. Diese Tabletten sind nicht gekennzeichnet. Es ist keine Chargennummer genannt, und es ist auch kein Beipackzettel beigefügt. Das heißt, der Empfänger dieser Medikamente weiß letztlich nicht, was er da zu sich nimmt und hat auch gar keine Vorgabe, in welcher Dosierung, welcher Menge er das zu sich nehmen muss. Wenn man die falsche Menge einnimmt, wenn man diese Tabletten auch mit anderen Medikamenten zusammen einnimmt, die sich nicht vertragen, spielt der Verbraucher bei Bestellungen aus dem Internet mit seinem Leben Russisches Roulette."

    In Eschborn passiert mit den Pillen aus den Testkäufen das gleiche, was die Chemiker der Landeskriminalämter mit beschlagnahmter Ware tun: Hier überprüft der Doktorand Jan Hüsch gerade, wie viel von der angeblichen Substanz wirklich in den blauen Pillen steckt.

    "Die Tabletten kommen und müssen zunächst zerkleinert werden. Das macht man mit einem Mörser und einem Pistill. Die Hausfrau kennt das aus der Küche. Nachdem man das gemacht hat, muss man die Menge einwiegen. Es ist sehr wichtig, dass man das möglichst genau macht. Wir haben jetzt 123 Milligramm eingewogen, und jetzt füllen wir den Kolben auf, so dass wir eine bestimmte Konzentration bekommen. Und dann kommt man zur eigentlichen Analytik. Das war ja bisher die Probenaufarbeitung. Man gibt das in einen so genannten Autosampler. Das heißt, hier sind die Proben zunächst geparkt und werden dann von einer Nadel aufgenommen und durch eine Säule geschickt. Das ist der eigentliche Trennungsprozess."

    Den Rest erledigt die Maschine, ein Blechkasten so groß wie ein Umzugskarton. Im Laborjargon heißt der Apparat HPLC: Hochleistungs-Flüssigkeits-Chromatographie. Sie funktioniert so ähnlich wie Löschpapier, auf dem ein Tropfen Farbe aus einem Filzstift auseinander fließt. Dabei sieht man nach einiger Zeit, dass tatsächlich mehrere Farbstoffe enthalten sind. Manche breiten sich schneller auf dem Papier aus, andere wandern kaum. So ist es auch hier: Die HPLC-Maschine trennt die Stoffe aus der Probe auf. Jan Hüsch sieht das auf dem Bildschirm: Nach und nach taucht dort eine Kurve auf, deren Umrisse an eine Gebirgssilhouette erinnern. Das verrät dem Fachmann, ob die blauen Pillen wirklich das enthalten, was drin sein sollte. Ein Stockwerk höher, in ihrem Büro, fasst Mona Tawab die bisherigen Ergebnisse der Testkäufe zusammen: Bei Potenz- und Haarwuchsmitteln aus dem Internet enthielt jede zweite Tablette zu wenig Wirkstoff, viele sogar gar keinen. Und über die jüngst bestellten, süchtig machenden Schmerz- und Schlafmittel sagt sie:

    "Was den Inhalt betrifft, so war in den meisten Fällen der Wirkstoff enthalten wie deklariert. Wir haben aber auch hier Präparate gefunden, wo der deklarierte Gehalt nicht nachgewiesen werden konnte, sondern wir weniger Wirkstoff gefunden haben."

    Monate nach der bundesweiten Apotheken-Razzia ist die Laboruntersuchung am Landeskriminalamt in Stuttgart abgeschlossen. Das Ergebnis: Die beschlagnahmten Chargen der Krebsmedikamente enthielten den richtigen Wirkstoff. Nur bei einer Probe war zu wenig davon vorhanden. Der ursprüngliche Verdacht der Ermittler, über die ausländischen Lieferanten seien auch komplett gefälschte Substanzen nach Deutschland gelangt, hat sich damit nicht erhärtet. Die Fahndung hatte bundesweit Schlagzeilen gemacht, viele besorgte Krebskranke und Angehörige hatten sich bei einer eigens eingerichteten Hotline gemeldet. Doch letztlich muss offen bleiben, ob Patienten Gesundheitsschäden davongetragen haben, weil sie Medikamente erhielten, die nicht zugelassen waren. Der Verdacht von Körperverletzungen habe sich jedenfalls nach dem derzeitigen Stand nicht bestätigt, teilt die Staatsanwaltschaft Mannheim auf Anfrage mit.

    Sicherheitsmerkmale und Kontrollen: Ihnen haben wir es zu verdanken, dass Fälschungen in deutschen Apotheken extrem selten auftauchen. Das Problem liegt woanders: In den Schwellenländern. Dort sind Fälschungen weit häufiger, und es sterben Menschen daran. Wie viele, dazu gehen die Schätzungen stark auseinander. Die Folgen der Globalisierung könnten uns aber auch in den Apotheken hier zu Lande einholen. Denn 80 Prozent der Wirkstoffe, die in unseren Medikamenten stecken, werden in China und Indien hergestellt. Und was von dort kommt, entspricht bei weitem nicht immer den hiesigen Qualitätsstandards, selbst wenn es sich nicht um Fälschungen handelt. Größere Pharmaunternehmen versuchen immerhin, ihre Rohstoffe aus zuverlässigen Quellen zu beziehen, sagt Claus Moritz Trube:

    "Ich kann Ihnen sagen, dass Bayer HealthCare seine Zulieferer auditiert und überwacht, und das permanent, und natürlich auch die von dort gelieferten Stoffe. Also wir gewährleisten, dass jedes Produkt, das aus unserem Haus kommt, höchste Qualität hat. Ich möchte aber betonen - das ist mir wichtig - dass man hier nicht zwei Themenfelder vermengen sollte: Wir haben einmal die Problematik nicht qualitätsgerechter Stoffe, die von einem Unternehmen zu einem Produkt verarbeitet werden. Und zum anderen die Problematik der Arzneimittelfälschungen."

    Halten wir also auseinander: Was gefälscht wird, darauf hat der Hersteller keinen Einfluss. Pharmakritische Organisationen wie die BUKO-Pharma-Kampagne sagen allerdings: So ganz stimmt das nicht, denn die Preispolitik der Unternehmen ist mit verantwortlich dafür, dass Fälschen attraktiv ist. Wären etwa Aids-Medikamente bei uns so billig wie in Afrika, würde es sich nicht lohnen, ganze Containerlieferungen umzuetikettieren. - Der andere Aspekt sind verunreinigte Rohstoffe, und dafür ist ein Pharmaunternehmen sehr wohl verantwortlich. Was beides verbindet, sind die Verhältnisse in manchen Schwellenländern: Kontrollen reichen nicht aus oder sie sind durch Bestechung zu umgehen – und das macht beiden, Fälschern und Schlampern, das Leben leicht. Claus Moritz Trube hat es erwähnt: Die Industrie versucht, dem Problem durch Audits zu begegnen, also durch Inspektionen der Zulieferbetriebe vor Ort. Karl Metzger vom Verband der Europäischen Chemikalienhändler ist einer dieser Auditoren.

    "Eine der befremdlichsten Geschichten, die ich mal erlebt habe, ist, dass versucht wurde, mir eine Firma zu zeigen, die das Produkt gar nicht herstellte, das sie vorgab herzustellen. Die ganzen Herstellungseinrichtungen waren vorhanden, aber was eben nicht vorhanden war, waren Ausgangsstoffe, die man eigentlich bräuchte, um das Produkt herzustellen. Außerdem – dieser Fall spielte in China – waren die Zeichen der Firma andere als die der Firma, die das Produkt in Verkehr gebracht hat."

    Und das dürfte seinen Grund gehabt haben: Vermutlich war der eigentliche Lieferant eine dubioses Hinterhof-Labor. Rohstoffe aus solchen Klitschen gelangen auch in unsere Medikamente. Denn nicht alle Firmen überwachen die lange Lieferkette so sorgfältig, wie es Bayer HealthCare und andere große Hersteller immerhin versuchen. Für einige Unternehmen ist diese Kontrolle offensichtlich unmöglich. Darunter sind Hersteller von so genannten Generika, also kostengünstigen Nachahmerpräparaten. So kommt es, dass unsaubere Rohstoffe auch in Industrieländern für Todesfälle sorgen. Auch die rund 100 US-amerikanischen Heparin-Opfer des Jahres 2007 gehören dazu. Möglicherweise hatte damals beim chinesischen Lieferanten niemand absichtlich den tödlichen Dreck zugemischt – es waren also "nur" kriminelle Schlamper am Werk, die dank fehlender Kontrollen leichtes Spiel hatten. Karl Metzger:

    "Nichtsdestotrotz ist es im weiteren Sinn eine Arzneimittelfälschung, weil es eben nicht dem zugelassenen Arzneimittel entspricht. Es gibt verschiedene Generika-Hersteller – ich möchte sie nicht alle über einen Kamm scheren – aber es werden Produkte aus Quellen eingesetzt, die nicht die Quellen sind, die man in der Zulassung angegeben hat. Solche Fälle sind konkret bekannt."

    Als auch in Deutschland beinahe Patienten wegen verunreinigten Heparins ums Leben gekommen wären, zog der Hersteller, ein Unternehmen namens Rotexmedica, sein Produkt zurück. Zugleich wies die Firma darauf hin, sie und andere Unternehmen seien aus finanziellen Gründen gezwungen, ihre Wirkstoffe weiterhin in China zu bestellen.

    In Karlsruhe-Durlach und 100 anderen Orten werden die Apotheken auch morgen wieder öffnen. Die Durchsuchungen liegen eineinhalb Jahre zurück. Fest steht heute soviel: Die sicher gestellten Krebsmedikamente waren im Ausland hergestellt worden, wahrscheinlich außerhalb Europas. Hierzulande hätten sie keinesfalls verkauft werden dürfen, auch wenn ihre Qualität der des Originals recht nahe kam. Die ursprüngliche Befürchtung, es seien auch wirkungslose Fälschungen darunter gewesen, hat sich nicht bestätigt. Doch den Krankenkassen soll ein Schaden von mehreren Millionen Euro entstanden sein. Die Staatsanwälte ermitteln - immer noch - wegen Betrugs und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz. Bis heute, Frühjahr 2009, wurde keine Anklage erhoben. Und ihren Betrieb - den dürfen die Apotheker bis zu einer möglichen Verurteilung weiterführen.