Jeweils geht es um die Schaffung homogener Gebilde. Nationalstolz und Leitkultur klingen harmlos und doch bereiten sie rechtem Extremismus den Boden. Der Mythos von der kulturellen Identität ist die hässliche Fratze der Aufklärung.
Was aber heißt es, diesen Mythos zu überwinden? Oder liegt genau darin die zivilisatorische Aufgabe: auszuhalten, dass Kultur auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen ist?
Das komplette Manuskript:
Beim Bier hört der Spaß auf. Jedenfalls in Deutschland. Dafür sorgt nicht zuletzt der Deutsche Brauer-Bund. Damit deutsches Bier angemessen ernst genommen wird, ernennt er jährlich die "Botschafter des Bieres". Im Jahr 2015 erhielt diese Auszeichnung der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt. Mochte dieser Vorgang nicht weiter überraschen, war umso bemerkenswerter, was in den einzelnen Stellungnahmen formuliert wurde. Der Minister etwa gab bekannt:
"Ich freue mich sehr, dass ich jetzt auch zum diplomatischen Corps des edlen Gersten- und Weizensaftes zähle. Und dies nicht zuletzt im Hinblick auf das Jahr 2016, in dem ganz Deutschland den 500. Geburtstag des Reinheitsgebotes feiern wird."
Weiter stellte Schmidt fest, dass das deutsche Bier nicht nur ein hochwertiges Lebens- und Genussmittel sei, sondern auch ein identitätsstiftendes Kulturgut, das die jeweilige Region verkörpere. Hans‑Georg Eils, Präsident des Brauer-Bundes, hob denn auch Schmidts Eignung hervor, indem er an dessen Herkunft erinnerte: Als gebürtiger Franke sei der Minister doch "eigentlich von Geburt an ein Botschafter des Bieres."
Die Verbindung von Ernährung und Identität
Spätestens an dieser Stelle lohnt es sich, in die bierselige Stimmung des Deutschen Brauertages etwas genauer hineinzuhören. Denn was hier zur Sprache kommt, ist nichts anderes als die Vermischung von Reinheitsgebot, kultureller Identität und Abstammung.
Das reine deutsche Bier verkörpere die Identität bestimmter deutscher Regionen und sei gerade aus diesem Grund durch eine Person aus einer ebensolchen Region zu repräsentieren. Wie bei solchen Anlässen üblich dürften die Einlassungen in das Gewand ironischer Reden gekleidet worden sein.
Aber gerade dies zeigt: Solche Überblendungen sind nicht zufällig, sie kommen nicht von ungefähr. Denn ein solches Reden arbeitet mit einer suggestiven Kombination aus Vorstellungen zu kulturellen Eigenschaften. Konkret geht es um die Verbindung von Ernährung und Identität. Noch immer scheint zu gelten, was der französische Schriftsteller und Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin im Jahr 1825 prägnant formulierte: "Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, wer Du bist."
Die Gretchenfrage unserer aktuellen Integrationsdebatten
Essen und Trinken, so die Idee, heißt einverleiben, heißt eins werden mit dem Zu-sich-Genommenen, heißt also auch, ein Initiationsritual zu durchlaufen. Die typischen Speisen einer Region zu verschmähen, bedeutet umgekehrt, fremd und außenstehend zu bleiben: Wer die Mahlzeit des Gastgebers ablehnt, macht sich unmöglich. Es wird mit Sicherheit die letzte Einladung gewesen sein.
An der Form der Ernährung und deren Aufnahme entzündet sich die Gretchenfrage unserer aktuellen Integrationsdebatten: Sag, wie hast Du’s mit dem Fremden? Bleibst Du standhaft? Tischst Du auch weiterhin auf, was deutsche Heimat verkörpert? Oder lässt Du Dich entfremden und unterwirfst Deinen Speiseplan einer Selbstzensur?
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich ausgerechnet das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft als Flaggschiff deutscher Identität präsentiert. Minister Christian Schmidt verweist gern darauf, dass Flüchtlinge die hiesige "Leitkultur" zu respektieren hätten. Er könne nicht verstehen, so der Minister wörtlich:
"Weshalb man einen Muslim provoziert, der sich getreu der islamischen Vorgaben ernährt, wenn es neben ihm Menschen gibt, die Würstchen essen, die aus Schwein gemacht sind."
Mit anderen Worten: Über den Verzehr eines Schweinefleischwürstchens lässt sich deutsche Leitkultur inkorporieren. Erneut erscheint das Essen als Akt der Assimilation.
Der Eindruck täuscht also nicht: War man einst der Meinung, Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigen zu müssen, geht es heute darum, Deutschlands Leitkultur in der Küche zu schützen. Die militärische und die kulinarische Vergewisserung nationaler Gestaltungskraft gehen Hand in Hand. Was außenpolitisch mit Waffengewalt gesichert werde, sei im Innern durch Koch- und Brauereikunst zu festigen.
Dass nunmehr Bier und Schwein zu den Insignien deutscher Leitkultur gehören, sagt vor allem etwas über die Dehnbarkeit des Begriffs der Leitkultur. Ohnehin nichts weiter als eine Chiffre reaktionären Denkens, dient sie regelmäßig als letzter Strohhalm: Zur Leitkultur wird immer dann gegriffen, wenn es keinen Wert mehr zu geben scheint, der den Status der Absolutheit genießt. Exemplarisch fasste dies der ehemalige "Zeit"‑Herausgeber Theo Sommer, als er 1998 als einer der ersten den Begriff populär machte:
"Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte."
Damit war die Formel vervollständigt: Integration gelingt, wenn sich Fremde durch Assimilation als Fremde unkenntlich machen. Dies vollziehen sie im besten Fall, indem sie sich den Gepflogenheiten deutscher Leitkultur unterwerfen. Die Leitkultur wiederum ist ihrem Wesen nach unveränderlich, ihr Herzstück bilden die sogenannten "Kernwerte". An ihnen zu rütteln würde bedeuten, das Wesen der Kultur zu zerstören.
Kulturgut von nationaler Bedeutung
Wie tief sich die Vorstellung von der Existenz einer kulturellen Identität in das öffentliche Bewusstsein gegraben hat, lässt sich an vielen Beispielen ablesen. So ist die anhaltende Debatte um das deutsche Kulturgutschutzgesetz ein Vorzeigeprojekt des identitären Denkens. Laut Bundesregierung geht es dabei:
"Um Kulturgut, das für die Bundesrepublik von nationaler Bedeutung ist",
…und demzufolge vor den Kräften des Marktes geschützt werden müsse. Was aber ist als national bedeutungsvoll einzustufen? Und wer entscheidet mit welcher Berechtigung darüber, welche Kunst für die Bundesrepublik von nationaler Bedeutung sein soll? Und warum soll gerade Kunst von nationaler Bedeutung sein? In einer klugen Polemik hat der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller die Absurdität dieses Gesetzes aufgezeigt:
"Ein glaubwürdiges Gesetz müsste somit nicht das gemeindeutsche Interesse an der Kultur schützen, sondern eher die Kultur vor dem Gemeindeutschen."
Anders formuliert: Die Idee, ein Kulturgut trüge die DNA eines Landes in sich, weil es Wesentliches von dem verkörpere, was das Land im Innersten zusammenhält, ist entweder eine erkenntnistheoretische Naivität - oder aber Ausdruck nationalistischen Denkens.
Ein weiteres Beispiel liefert die inzwischen notorische Debatte um die Verwurzelung deutscher Fußballnationalmannschaften. Es kann schon erheitern, mit welcher Euphorie ein paar kickende Männer zu role models einer kulturellen Identität verklärt werden. Dabei verläuft die Argumentation über Bande: Nicht das reine Deutschsein, sondern die gelungene Integration von angeblich Fremden dient als Blaupause für die inländische Selbstvergewisserung. Eine Flanke von Jérôme Boateng auf Mesut Özil gilt dann schon mal als Dokument gelungener Integration. Pilgert allerdings Özil nach Mekka oder wird Boateng als Nachbar vorgestellt, gerät der Integrationswille an Grenzen.
Und singen all die Boatengözils eigentlich die Nationalhymne mit? Die Nationalmannschaft dient als moderner Ablasshandel: Wer akzeptiert, dass Fremde unter deutscher Flagge auflaufen, hat sich eine Handvoll rassistischer Ausfälle wahrlich verdient. Deutlich wird: Die Debatte um die Existenz einer Leitkultur ist der Struktur nach ein Streit um die Frage nach den verbindlichen Werten einer Kultur. Und dieser Streit um Werte befeuert nahezu jede politische Debatte.
Werte gibt es überhaupt nicht
Linke wie Rechte, Progressive wie Konservative, Pragmatisten wie Idealisten appellieren immerzu und allenthalben an die gemeinsamen Werte unserer Kultur. Doch liegt genau darin das Problem: Wie der Philosoph Andreas Urs Sommer gezeigt hat, gibt es Werte überhaupt nicht - jedenfalls nicht in einem allgemeingültigen und allseits verbindlichen Sinne.
Werte sind gerade keine essentiellen Eigenschaften von Menschen, Gemeinschaften, politischen Systemen oder kulturellen Ordnungen. Werte sind nie universell. Wären sie es, könnten Werte kein Gegenstand von Auseinandersetzungen sein. Aber genau das sind sie: Bestandteil von Kommunikation, von Streit, von Zweifeln. Werte sind eine Frage der Perspektive und damit relative Größen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass uns Werte gleichgültig sein dürfen, sagt Andreas Urs Sommer. Ganz im Gegenteil: Gerade durch ihre semantische Beweglichkeit gewinnen Werte an Bedeutung. Der Wert von Werten, so die Folgerung, liegt in der Möglichkeit, sie ständig von anderer Warte aus betrachten zu können. Um Werte zu ringen, sie immer wieder neu zu befragen bedeutet letztlich, einen verfeinerten Blick auf die Wirklichkeit zu entwickeln. Dies aber setzt ein distanziertes und entsprechend gelassenes Verhältnis zu den eigenen Wertevorlieben voraus. Nur wer seinen eigenen Wertevorstellungen misstrauen kann und bereit ist, andere Werteauffassungen gleichberechtigt zuzulassen, ist in der Lage, einen Pluralismus an Werten auszuhalten.
Das ist, zugegeben, viel leichter gesagt als tatsächlich getan. Denn oftmals halten wir besonders erbittert an bestimmten Werten fest, weil wir diese Werte mit unserer persönlichen Geschichte in Verbindung bringen. Zugespitzt könnte man sagen: Dem Ruf des Politikers nach einer werteorientierten Kultur geht der Ruf des Pädagogen nach einer werteorientierten Erziehung voraus. Theo Sommer spricht in diesem Zusammenhang davon, dass nahezu jeder von uns durch irgendwelche Werte "imprägniert" sei. Und in der Tat dürfte es zu den größten Herausforderungen gehören, gegenüber der eigenen Sozialisation und ihrer Wertevermittlung ein souveränes Verhältnis aufzubauen.
Was aber liegt einem solchen Verhältnis zugrunde? Einerseits, so die Folgerung, zugetragene Werte nicht einfach nur zu übernehmen oder gar als Norm vorauszusetzen. Andererseits erfordert ein souveräner Umgang mit der eigenen Geschichte aber auch, vermittelte Werte nicht grundsätzlich abzulehnen oder bloße Gegenwerte zu etablieren. Die mühsame Entfaltung einer unvoreingenommenen Haltung wäre demnach der goldene Mittelweg - und ein wahrlich aufklärerischer Akt!
Wer nicht bereit ist, Werte zu hinterfragen, macht sich zum Wertemonotheisten. Wertemonotheisten gehen davon aus, dass es Werte an sich gebe, die es nur noch durchzusetzen gelte. Sie übersehen erneut, dass Werte keine eigene Substanz besitzen, sondern immer nur auszuhandeln sind. Menschen können sich auf Werte einigen, weil sie keine andere Möglichkeit haben, als ihre Werte selbst zu entwerfen.
Wer dies ausblendet, strebt nach einer totalitären Gesellschaft. In ihr dienen vermeintliche Kernwerte einem imperialistischen Interesse: Werte werden aus ihrer kommunikativen Funktion herausgelöst und, beispielsweise, zu den Wesenseigenschaften einer Gruppe von Menschen erklärt. Nach dieser Vorstellung sind Deutsche pünktlich, Chinesen höflich und Afrikaner impulsiv. So kommt Ordnung in die Welt, alle verkörpern irgendeinen Wert, und es bleibt nur noch die Frage, welcher dieser Werte am wertvollsten ist. Die Einverleibung von Werten in den kollektiven Volkskörper ist ein Mittel des Rassismus.
Die Besonnenen unter den deutschen Spitzenpolitikern haben die komplizierte Stellung von Werten erkannt. In einem jüngst veröffentlichten Meinungsbeitrag nimmt Bundestagspräsident Norbert Lammert zu der Frage Stellung, welche Möglichkeiten moderne Gesellschaften abseits rassistischer Reflexe überhaupt haben, um sich ihrer selbst zu vergewissern:
"Nach meiner Überzeugung brauchen wir in Deutschland mehr denn je den kontinuierlichen Diskurs über den Mindestbestand an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen, unter allen Bürgerinnen und Bürgern, den Einheimischen wie den Zuwanderern - ohne Tabuisierungen.."
Was Lammert als kontinuierlichen Diskurs aller Gesellschaftsmitglieder beschreibt, lässt sich als offen geführte Wertedebatte charakterisieren. Einfacher ausgedrückt: Der Weg ist das Ziel.
Über Werte zu diskutieren kann und darf nicht heißen, sie ein für alle Mal festschreiben zu wollen. Ernsthaft geführte Wertedebatten kennen kein Ergebnis - und zwar im besten Sinne: Das Debattieren selbst bildet das identifikationsstiftende Moment. Indem sich Menschen über ihre Wertvorstellungen mit anderen austauschen, legen sie den Grundstein einer Gesellschaft. Sich mit anderen auseinanderzusetzen führt dazu, im Gespräch zusammenzufinden.
Wertedebatten - im Idealfall Streitgespräche auf Augenhöhe
Das klingt zweifellos romantisch und sozial verklärend. Aber in Wahrheit bedeutet dies wieder einmal, die Kraft aufzubringen, Andersdenkende auszuhalten. Es geht schlicht darum, die Schmach der eigenen Relativität zu akzeptieren. Individualpsychologisch betrachtet ist eine solche Leistung gar nicht hoch genug einzustufen: Wie viele Menschen kennen Sie, die tatsächlich in der Lage sind, andere Wertauslegungen vollumfänglich anzuerkennen? Die weder gekränkt noch aggressiv, weder abwehrend noch flüchtend, weder pampig noch überheblich reagieren, wenn ihnen andere Wertvorstellungen präsentiert werden?
Was hier zum Tragen kommt, verdeutlicht, worin sich moderne Gesellschaften von religiösen Glaubenssystemen unterscheiden. Der kontinuierliche Diskurs, wie ihn Norbert Lammert fordert, ist eine Errungenschaft des vernunftgeleiteten Denkens. Wertedebatten sind im Idealfall Streitgespräche auf Augenhöhe, in denen um die Stichhaltigkeit von Argumenten gerungen wird. Der Glaube aber ist nicht diskutabel. Wer sich zum Glauben bekennt, dem ist nicht zu widersprechen.
Um ein Beispiel zu nennen: Die dogmatische Verfasstheit der katholischen Kirche kennt aus ihrer konfessionellen Bestimmung heraus keine Wertedebatten. Dass sie neuerdings dennoch solche Debatten führt, kann nur bedeuten, dass sie von einem massiven Zweifel getrieben ist an ihrer eigenen Sache, also von Zweifeln an Gottes Wort. Durch ihre Anpassung an den modernen Zeitgeist verspielt sie ihr theologisches Zentrum. Sie verliert an Konturschärfe, wird beliebig und letztlich austauschbar. Die Kirche säkularisiert sich selbst. Wenn aber schon Katholiken nicht mehr an die Unfehlbarkeit des Einen glauben, wer soll es dann noch tun?
"Es ist ein ebenso alter wie hartnäckiger Irrtum zu meinen, Glaube und Vernunft schlössen einander aus. Das Gegenteil ist der Fall."
Umgekehrt zeigt dieser Fall aber auch: Die hässliche Fratze der modernen Gesellschaft offenbart sich nicht in den Institutionen des Glaubens. Wenn sich die Moderne durch eine Vorrangstellung der Vernunft auszeichnet, dann gibt es gute Gründe, den Glauben als Bestandteil der Vernunft anzuerkennen. Es ist ein ebenso alter wie hartnäckiger Irrtum zu meinen, Glaube und Vernunft schlössen einander aus. Das Gegenteil ist der Fall: Nur, wer an etwas glaubt, vermag der Vernunft einen Sinn zu verleihen. Glaube und Vernunft bedingen einander, allein schon aus Gründen ihrer Einhegung. Die absolute Vernunft führt ebenso in die Katastrophe wie der ausschließliche Glaube im Terror endet.
Abscheulich wird die Moderne dort, wo sie unter dem Banner der Aufklärung ein kollektives Selbst beschwört. Die Zauberformel ist in diesem Fall der gesunde Menschenverstand. Heute berufen sich besonders viele auf ihn. Sie nehmen sich als die letzten Vernünftigen in einer ansonsten degenerierten Welt wahr. Als degeneriert erscheint ihnen die übrige Welt, weil deren Komplexität überfordert. Der gesunde Menschenverstand dient ihnen als Hilfsmittel, um endlich einmal aufzuräumen. Und zwar grundsätzlich. Ein solches Aufräumen scheint am effektivsten dann zu gelingen, wenn man Differenzen einebnet, Abweichungen kaschiert, Unschärfen ausmerzt und Ungewissheiten ignoriert.
Die Folge ist, dass Menschengruppen zu homogenen Gebilden zusammengezogen werden. Der gesunde Menschenverstand schafft ein Innen und ein Außen. Dabei operiert er mit dem Konzept ‚Kultur‘. In der Kultur entdeckt er ein Feld, das er definitiv bestimmen, gegen Angriffe verteidigen und somit als Bindeglied zwischen Menschen stabilisieren kann. Der Soziologe Armin Nassehi interpretiert Kultur in diesem Zusammenhang als eine Form der Beobachtung:
"Das Beobachtungsschema ‚Kultur‘ hat für dieses Problem eine scheinbar probate Lösung entwickelt: Es macht die eigene Instabilität durch stabile Asymmetrien unsichtbar: Die andere Seite - der Wilde für den Zivilisierten, der Schwarze für den Weißen, der Franzose für den Deutschen, der Prolet für den Bürger, der Katholik für den Protestanten, der Orientale für den Europäer und so weiter - dient dann dazu, trotz instabiler Vergleiche Stabilität wiederherzustellen. Es trotzt einer komplizierten Welt mehr Identität und Identitäten ab, als tatsächlich existieren."
Will heißen: Menschengruppen als einheitliche Kulturgruppen zu betrachten dient dazu, sich selbst einen Eindruck von Zugehörigkeit zu verschaffen. Schließlich gehört man zu einer Kulturgemeinschaft, deren Werte, Merkmale und Wesenseigenschaften klar benennbar scheinen. Sie wirken allerdings nur solange greifbar, wie sie von anderen Werten, Merkmalen und Wesenseigenschaften unterschieden werden.
Allerdings bleibt es nicht beim Unterscheiden. Die eigene Kultur wird als qualitativ führend beschrieben - mit der Folge, dass andere Kulturen den Status der Rückständigkeit erhalten. Es geht also gerade nicht um eine Kultur des Differenzierens, sondern um die Bildung hierarchischer Strukturen. Nassehi bringt die Dialektik, die in diesem Schema wurzelt, auf den Punkt:
"Die Herausforderung besteht darin, dass wir an den Anderen, den Flüchtlingen, kaum etwas anderes als Kultur sehen können - kaum etwas anderes als Identitäten, kaum etwas anderes als Homogenes. Im Gegenzug entdecken wir auf einmal eine angebliche Homogenität des Eigenen, wobei ‚das Eigene‘ nur dadurch homogen wird, dass es anders als das Andere ist. Wir tun dann so, als gebe es weder Sexismus noch Kriminalität, weder Desintegration noch problematische Lebensformen in der eigenen Gesellschaft.
Die vertikale Ordnung in ein Wir und ein in die Anderen erzeugt ein Gefühl von Reinheit. Der Innenraum, den man bewohnt, muss sauber bleiben. Damit nähern sich vermeintlich widersprechende Konzeptionen von Kultur einander an. Die Publizistin Carolin Emcke hat herausgearbeitet, wie die Vorstellung kultureller Reinheit sowohl rechtsextremistische als auch dschihadistische Denk- und Handlungsweisen prägt. Wird die eigene Kultur erst einmal mit dem Signum der Reinheit versehen, gilt sie anderen als prinzipiell überlegen und muss vor Verunreinigungen bewahrt werden. Emcke formuliert mit Blick auf die aktivierende Wirkung, die der sogenannte Islamische Staat auf manche ausübt: "Der IS will mit seinem Kult des Reinen den höchstmöglichen Status beanspruchen. In eben diesem doppelten Versprechen, nämlich der voraussetzungslosen Einladung, zu einem zeitlosen Wir gehören zu dürfen und sich darin zugleich als ‚besser‘, als ‚wahrer‘, als ‚echter‘ Muslim fühlen zu können, liegt vermutlich die große Attraktion.":
Was daraus folgt, liegt auf der Hand: Es beginnt ein Wettlauf um die wahrste Kultur, um den höchsten Status. Das Versprechen, jeweils zu den eigentlichen Kulturmenschen zu gehören, erzeugt ein Klima allgemeiner Mythologisierung. Plötzlich erlangt die eigene Herkunft, die eigene Glaubenszugehörigkeit, die eigene Nationalität oder auch nur das eigene Geschlecht fundamentale Bedeutung. Der Blick der Menschen geht zurück: zurück zu irgendwelchen historischen, natürlichen oder transzendenten Ursprüngen, aus denen das Eigentliche des eigenen Wertekanons erwachsen sein soll. Carolin Emcke: "Einzelne Personen, einzelne Handlungen oder Positionen werden daran gemessen, inwiefern sie als ursprünglich behaupteten Idealen möglichst ‚authentisch‘ entsprechen."
Und, Carolin Emcke weiter: "Je nach politischem oder ideologischem Kontext verbindet sich Kritik an dem ‚Unnatürlichen‘ oder ‚nicht Ursprünglichen‘ mit dem Vorwurf der ‚Verwestlichung‘, dem ‚Abfall vom richtigen Glauben‘, der ‚Krankheit der Modernisierung‘, der ‚Sündhaftigkeit‘ oder der ‚Perversion‘."
Was sich hier zeigt, folgt der Standardsituation der Kulturkritik: Behauptet wird ein Goldenes Zeitalter, das dem Verfall preisgegeben sei und daher wieder in seiner eigentlichen Ordnung errichtet werden müsse. Doch ist hier Kulturkritik, wie sie vom Germanisten und Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck beschrieben wurde, nicht mehr nur ein: "Reflexionsmodus der Moderne".
Stattdessen wird Kulturkritik fundamentalistisch ausgelebt. Die Reflexion wandelt sich zur Aggression. Hass und blinde Wut verbinden sich mit ihr und realisieren sich in physischen wie verbalen Gewaltakten. Der Mythos von der kulturellen Identität sichert sein Überleben durch das Mittel der Zerstörung.
Besorgniserregend an dieser Entwicklung sind jedoch nicht allein die tatsächlich verübten Anschläge - auch wenn sie das unmittelbar größte Leid hervorbringen und von der medialen Ökonomie der Aufmerksamkeit dankend ausgesogen werden. Als ebenso beunruhigend erweist sich das politische Kapital, das aus dieser Gemengelage zu heben ist. Eine Politik, die in der Propagierung einer kulturellen Identität das wesentliche Instrument ihrer Machterweiterung sieht, bringt sich als ideologischer Nutznießer in Stellung. Klar hat dies der im Januar 2017 verstorbene polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman verfasst, als er über die wiederkehrende "Angst vor den anderen" nachgedacht hat:
"Diese verdrehte Logik, das daraus erwachsende Denken und die davon ausgelösten Gefühle bilden einen äußerst fruchtbaren Boden, eine nahrhafte Wiese, die zahlreiche politische Stimmenfänger nur zu gerne abgrasen möchten. Das ist eine Chance, die immer mehr Politiker sich nicht entgehen lassen wollen. Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst, […] ist eine Versuchung, der nur wenige amtierende oder auf Ämter hoffende Politiker zu widerstehen vermögen."
Dazu passt, was die amerikanische Politologin Judith Shklar bereits im Jahr 1989 durchgespielt hat. In einem kurzen Essay widmet sie sich dem Verhältnis von Liberalismus und Furcht. Shklar fragt, welche Rolle die Furcht der Menschen innerhalb liberaler Gesellschaften spielen kann. Wird mit Furcht gemeinhin ein negativ besetzter Begriff und ein entweder passiv‑ängstliches oder aber offensiv-aggressives Verhalten verbunden, nimmt Shklar eine andere Perspektive ein. Für sie trägt die Furcht eine Art Doppelgesicht.
So müsse man sich vor einer Gesellschaft fürchten, in der die Menschen von Furcht besetzt seien. Indem sich jeder einzelne eine Gesellschaft vorstelle, in der die Furcht das beherrschende Gefühl der Menschen ist, beginne er sich vor einer solchen Gesellschaft zu fürchten. Die Furcht des Individuums vor einer möglichen Furcht aller lässt die Menschen an die Notwendigkeit des Liberalismus glauben.
Allerdings ist mit einer solchen Furcht zweiter Ordnung ein äußerst ambitionierter Anspruch formuliert. Er fordert von den Menschen das Vermögen ab, zwischen imaginierter Furcht und real empfundener Furcht zu unterscheiden. Wie aber soll ich bemessen, ob ich mich vor einer nur vorgestellten Furcht fürchte - oder ob ich bereits von dieser Furcht besetzt bin? Sich zu fürchten heißt doch, in diesem einen Augenblick nicht anders zu können.
Aus diesem Grund erweist es sich als umso wirkungsvoller, den Eindruck von Furcht politisch zu provozieren. Eine medial strukturierte Gesellschaft, in der allein das Ausnahmeereignis Quote bringt, vermählt sich harmonisch mit einer Politik, die die Menschen das Fürchten lehren will. Nichts anderes vollzieht sich derzeit: Der weltweite Aufstieg der Rechtspopulisten verhält sich zur Logik der Massenmedien wie das Haus zum Fundament: Die Dauererregung der Massenmedien schafft die Basis, auf der den durch sie dauererregten Menschen ein neues Zuhause errichtet wird.
Das Orakeln von einer "Flüchtlingsobergrenze", von "Grenzsicherungen" und "Schießbefehlen", von einem "Schließen der Balkanroute" und von einer "härteren Abschiebepraxis" sind Bauteile, aus denen das neue Heim gezimmert wird. Aus Sicht des Rechtspopulismus geht die Rechnung auf: Solange den Menschen nur genug Furchtanlässe geboten werden, sind sie für besonders robuste Bauformen empfänglich.
Die Frage, die innerhalb solcher Diskussionen immer wieder auftaucht, klingt simpel: Was ist zu tun? Was ist gegen die Planung, Durchführung und Einweihung solcher Bauwerke der Furcht zu unternehmen? Wie kann der fatalen Dynamik eines Kulturessentialismus entgegengewirkt werden? Welche Mittel stehen zur Verfügung, um der Spirale aus Identitätspolitik, Mythologisierung und Ausschluss von Fremden entgegenzuwirken?
Als wenig hilfreich erweisen sich sämtliche Appelle, die sich an 'die' Menschen, 'die' Gesellschaft oder ‚die‘ Vernünftigen wenden. Sätze, die mit einem selbstgewissen "Wir müssen…", "Wir sollten…" oder "Wir haben…" anheben, investieren in jene Interessen, die sie einzuschränken vorgeben: Erneut werden Gruppen in Stellung gebracht, darauf setzend, die Bindeglieder unter den angeblich Guten zu stärken. Die Folge ist eine unfreiwillige Beförderung essentialistischer Neigungen. Am Ende des Tages ist nichts gewonnen, im Gegenteil.
Sein Wertegerüst in Zweifel ziehen
Wirkungsvoller könnte es sein, bei sich selbst zu beginnen. Es gehört zu den wahrlich schwierigen Aufgaben, sein mühevoll errichtetes Wertegerüst in Zweifel zu ziehen. Sicher, ein solcher Vorschlag klingt nach Selbsthilfegruppe und Kalenderpsychologie. Dennoch verhält sich die Sache komplizierter: Indem das eigene Wertegerüst durch Sozialisation aufgebaut worden ist, durch bestehende Vorurteile gesichert und gegen konkurrierende Auffassungen geschützt wird, richten sich fast alle Energien auf seine Stabilisierung.
Dabei gerät die Frage in Vergessenheit, welchen Bedingungen und Voraussetzungen dieses Gerüst unterworfen ist. Sein Zustandekommen liegt im blinden Fleck der eigenen Biografie. Sich also zu fragen, welche Umstände meinen Blick auf die Kultur im eigenen Land prägen, bedeutet nichts anderes, als ein Stück weit von sich selbst abzusehen. Und dieses Stück, dieser erste Schritt ist entscheiden
Mit ihm sind freilich keine Terroranschläge zu verhindern und auch keine rechtsextremistischen Bewegungen zu stoppen. Aber immerhin: Wer den Blick auf sich selbst richtet und nach seiner eigenen Bedingtheit fragt, führt dem Mythos von der kulturellen Identität keine weitere Nahrung zu. Er beteiligt sich nicht länger an der essentialistischen Verhärtung des Kampfes um die wahre Kultur. Die Selbstrelativierung ist alles andere als eine esoterische Spinnerei - sie ist ein politischer Akt von höchster Qualität.
Denn wer sich selbst relativiert, wechselt die Kategorie: Wo allenthalben wie von Sinnen nach kulturellen Identitäten geschrien und immer neue Leitkulturen ausposaunt werden, besetzt der Sich-selbst-Misstrauende einen anderen Ort. Dort mag er ebenfalls mit dem ganzen Eifer seiner Person über Werte diskutieren - er wird aber längst nicht so leicht in Versuchung geraten, Werte als gegeben zu betrachten. Und mit Sicherheit wird er leidenschaftlich für seine Sache streiten - aber zugleich wissen, dass diese jeweils nur eine unter vielen anderen ist. Seine Meinung wird er als Möglichkeit deklarieren - und Abstand davon nehmen, abschließende Antworten geben zu können. Welch‘ ein Gewinn für ein Miteinander unter den Bedingungen der Moderne!