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Lebensrettender Schlauch

Katastrophenschutz. - Die Evakuierung von Hochhäusern und anderen Türmen ist eine knifflige Sache, das weiß man nicht erst seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001. Ein Forscherkonsortium unter der Leitung des Instituts für Fördertechnik und Kunststoffe an der Technischen Universität Chemnitz will mit einem Schlauch Menschen aus rund 100 Metern Höhe evakuieren.

Von Maren Schibilsky |
    Görlitz-Hakenwerda. Versteckt vor den Augen der Öffentlichkeit steht hier auf einem Firmengelände ein 24 Meter hoher Gerüstturm. Im Innern des Turms befindet sich eine Plattform, von der ein langer Schlauch senkrecht nacht unten führt und dort in eine aufblasbare Rutsche übergeht. Der Chemnitzer Materialwissenschaftler Lars Jahreis steht oben auf der Plattform, ausgerüstet mit Sturzhelm und winzigen Geschwindigkeits- und Temperaturscannern am Körper. Der Forscher ist Teil eines wissenschaftlichen Experiments. In nur wenigen Sekunden schnellt Lars Jahreis durch den Rettungsschlauch nach unten. Dutzende Male hat er das in den letzten Monaten probiert.

    "Man rutscht durch, merkt, wie man gebremst wird, hört die Geräusche wie das Ausströmen von Luft und dann kommt man unten an und ist wieder dort, wo man hingehört, auf dem Erdboden."

    Rund ein Meter breit ist der Rettungsschlauch im Durchmesser. Geführt wird er über Stahlseile, die ihn in Form halten und die Belastungen aufnehmen. Im Innern des Schlauchs befinden sich rechts und links zwei separate Luftkammersysteme, die durch Ventile gesteuert werden. Alle 80 Zentimeter gibt es in diesen Systemen eine neue Kammer, die durch eine dünne Membran von der vorherigen abgetrennt ist. Beim Hinuntergleiten zwischen den Kammersystemen verdrängt der Mensch mit seinem Körpervolumen die Luft von einer Kammer in die nächste. Somit entsteht ein immer größer werdendes Luftpolster, das den Körper bremst. Das Evakuierungssystem kann damit erstmals über mehrere hundert Meter hoch ausgelegt werden – erzählt Projektleiter Lars Jahreis von der Technischen Universität Chemnitz.

    "Das ist dadurch erst möglich, weil das Funktionsprinzip des Schlauchs anders ist, als das, was bisher bekannt ist. Die kinetische Energie, die man hat durch das Einsteigen in 100 Meter Höhe, wird im Prinzip über ein Luftkammersystem abgebaut, in bestimmtem Maß absorbiert und die Luft, die man selber verdrängt mit seinem Körper, wird genutzt, um eine Bremswirkung in der nächsten Kammer zu realisieren."

    Bisherige Evakuierungssysteme kamen kaum über zehn Meter Höhe hinaus, da die Rutschgeschwindigkeit und damit die Reibung zu hoch wurden. Die Menschen drohten sich beim Rutschen zu verbrennen. Mithilfe des Luftkammersystems haben die Chemnitzer Forscher dieses Problem jetzt gelöst – erzählt Ralf Grießbach. Als Messkampagnenleiter hat er im neuen Rettungsschlauch Evakuierungsgeschwindigkeit und Reibungstemperatur überwacht.

    "Wir haben da Geschwindigkeiten von vier bis sechs km/h erreicht. Dabei gab es eine Temperaturänderung von fast 15 Grad. Wir sind eigentlich ganz zufrieden mit den Ergebnissen Von daher gibt es wenig Optimierungsbedarf."

    Seit Januar 2011 haben die Forscher der TU Chemnitz gemeinsam mit einer Schweizer und drei deutschen Firmen an diesem neuen Evakuierungssystem gearbeitet. Für die Außenhaut des Schlauchs wählten sie ein Aramidgewebe, das mit Aluminium beschichtet ist. Aramid ist ein Hochleistungswerkstoff, der auch für Schutzkleidung und Schusswesten der Polizei eingesetzt wird. Die Aluminiumbeschichtung sorgt für Hitzebeständigkeit und dichtet das Gewebe gegen Rauch ab. Das Innenmaterial ist Kunststoff mit hervorragenden Gleiteigenschaften. Integriert werden soll der Rettungsschlauch in das Dach oder in die Gebäudehülle von Hochhäusern. Auch auf Bohrinseln ist das System denkbar, das im Katastrophenfall vollautomatisch zum Einsatz kommt. Lars Jahreis von der TU Chemnitz:

    "Das Neue ist, dass es autark vollzogen wird. Es ist gekoppelt an signalgebende Elemente und wird automatisch ausgefahren und nach diesem Ausfahren kann jeder dort evakuiert werden."

    Nun suchen die Forscher für weitere Tests ein 50 Meter hohes Gebäude als Referenzobjekt. Der TÜV soll im nächsten Jahr den Rettungsschlauch als weltweit einsetzbares Evakuierungssystem zertifizieren.