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Lebensstationen eines Pfarrers

In den Liederbüchern zum Advent taucht ein Name immer wieder auf: Paul Gerhardt. Nach Martin Luther der bedeutendste Liederdichter der evangelischen Christen. 1607 im kursächsischen Gräfenhainichen geboren, kam Gerhardt über Grimma und Wittenberg nach Berlin.

Von Joachim Dresdner |
    In dunkler Zeit war er ein Tröster: 30-jähriger Krieg, Pest, Kindersterblichkeit, all das hat Paul Gerhardt erlebt und mit seinen über 130 Liedern versucht, ein Gegengewicht zu schaffen: "Geh aus mein Herz und suche Freud". Manche Lieder sind wie Geschenke zur Weihnachtszeit.

    Durch Mittenwalde zogen Krieger, Kronprinzen und Könige. Heute umfahren die Berliner auf Asphaltstraßen den 8.000 Einwohner zählenden Ort. Der spitze, hohe Kirchturm aus roten Ziegeln, grüßt mit seinem weißen Zifferblatt auch die Autofahrer auf der A13 Berlin-Dresden. Aus Berlin kam Paul Gerhardt. Der 44-Jährige trat anno 1651 in Mittenwalde seine erste Pfarrstelle an. Er blieb sechs Jahre, erklärt mir sein heutiger Nachfolger Christoph Kurz:

    "Er ist unverheiratet hergekommen, hat dann geheiratet, allerdings auch nicht hier, sondern in Berlin war die Trauung. Dann ist die erste Tochter geboren und die ist nach neun Monaten verstorben."

    Gerhardts Ehefrau war die Tochter seines früheren Berliner Dienstherren. Er war Anna Marias Hauslehrer. Das erste Kind starb früh:

    "'Pauli Gerhardts damaligen Propstes allhier zu Mittenwalde und Anna Maria Bertholden erstgeborenes, herzliebes Töchterlein', dieses Kind ist hier in der St. Moritzkirche begraben und diese Gedenktafel haben die Eltern der Kirchengemeinde Mittenwalde gestiftet."

    An der Innenwand mit Lorbeerkranz und Engelsköpfen an den Ecken. Einer der wenigen Gegenstände, die unmittelbar mit Paul Gerhardt in Verbindung gebracht werden können.

    Vor dem Altar hat er sicher gestanden. Der war schon 1514 fertig und - darauf sind die Mittenwalder besonders stolz - er gilt als Stiftung der Prinzessin Elisabeth von Dänemark, der Ehefrau des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. Mein Blick fällt auf den unteren Teil des Altars:

    "Die Predella, das Schweißtuch der Veronika. Das Tuch, gehalten von zwei Engeln, der Christuskopf auf dem Tuch abgebildet. Alle Leute gehen davon aus, dass Paul Gerhardt durch dieses Altarbild, durch diese Predella, inspiriert wurde, zu dem Lied 'O Haupt voll Blut und Wunden', wenngleich wir wissen, dass dieses Lied ja einen lateinischen Ursprungstext hat, von Arnulf von Löwen, Paul Gerhardt diesen übersetzt hat, aber immerhin; die letzten zwei Strophen aus Paul Gerhardts Feder stammen."

    Bald, nachdem Mittenwalde evangelisch wurde, gaben Ratsherren, Handwerks- und Innungsmeister, ein Chorgestühl in Auftrag. Das besteht aus 45 Sitzen. Über jeden eine Flachschnitzerei. Eine Bildtafel zeigt den legendären "Mittenwalder Schweinehund":

    "Auf den Hinterbeinen stehend ein Tier, dessen Vorderteil Kopf und Ohren und Vorderfüße, einschließlich der Krallen, doch fast eindeutig einen Hund darstellen, und Hinterteil mit Ringelschwanz und Spitzbein, Eisbein und so, eindeutig ein Schwein ist, dem gegenüber lugt aus der Ecke ein großes Tier heraus: eine Maus. Diese Maus galt ja im Mittelalter als Unheilskünderin. Die Deutung dieses Bildes heißt, die Maus kündet dem Schwein – natürlich ist es ein Schwein – sein Unheil an. Das ist die Bildtafel eines Schlachters von Mittenwalde."

    Paul Gerhardt sah "zerstörte Schlösser und Städte voller Schutt und Stein" und "vormals schöne Felder". Ausgerechnet im 30-jährigen Krieg erlebte Mittenwalde seine Blütezeit.

    "Mittenwalde hat Berlin Geld geliehen, ich glaub' 300 Gulden. Das ist beurkundet, liegt im Staatsarchiv in Potsdam und das soll niemals zurückgezahlt worden sein. Da kamen dann, nach dem Mauerfall, einige pfiffige Mittenwalder auf die Idee, das doch noch mal überprüfen zu lassen. Es ist zu keinem gerichtlichen Termin gekommen. Wahrscheinlich wären die Gerichtsgebühren durch Zins und Zinseszinsen dann doch so hoch, wenn man das über 400 Jahre etwa rechnet, dass Mittenwalde danach pleite wäre. So, wie Berlin vorher schon."

    Mittags in Mittenwalde, das Städtchen ist hinter der nahen Bundeshauptstadt zurückgeblieben. Höchstens sechs oder sieben Leute sind unterwegs, ab und zu fährt ein Auto vorbei.
    Die Hauptstraße ist die Yorkstraße, nach dem preußischen Offizier und Kommandeur des hiesigen Jägerregiments. Es gibt einen Salzmarkt und natürlich eine Paul-Gerhardt-Straße.

    Die Fassaden der einfachen Bürgerhäuser sind in vielen freundlichen Farben von Gelb, über Hellgrün, Dunkelrot bis Orange gehalten. Die Linden vor der Kirche haben ihr Laub längst abgeworfen. Ungerührt schaut Paul Gerhardt vom hohen Sockel auf die Rasenfläche.

    "'Wie soll ich dich empfangen'. Wenn wir am ersten Advent das Lied gesungen haben 'Wie soll ich dich empfangen', dann beginnt für viele Advent. Das ist ganz beeindruckend."

    Der 50-jährige Paul Gerhardt zog rund 30 Kilometer nach Nordwesten, zur Nikolaikirche im Zentrum Alt-Berlins.

    "Er ist also offensichtlich angefragt worden, ob er – ich glaube –, die vierte Stelle in St. Nikolai antreten würde. Das Intermezzo in Mittenwalde diente eigentlich nur als Sprungbrett, ihn hier als Pfarrer dann endlich einstellen zu können. Als abgebrochener Theologiestudent, was übrigens völlig üblich war in der Zeit, hatte er noch nicht die Voraussetzungen an der Hauptpfarrkirche, an der Propsteikirche hier in Berlin angestellt zu werden, aber mit ein paar Jahren Propstei in Mittenwalde konnte man ihm dann also den Teppich ausrollen und hierher berufen."

    Der Kurator der Nikolaikirche: Albrecht Henkys. Mittags in Berlin.

    Die Nikolaikirche ist die älteste Kirche Berlins. Sie steht nahe der Spree. Ihre spitzen Doppeltürme wurden Ende des 19. Jahrhunderts auf den alten Steinsockel gemauert. Durch den Rundbogen am Westportal geht es in das Innere der Kirche. Das gleicht einer Säulenhalle. An die Wände sind Grabplatten gelehnt. Altarpodest, Bestuhlung und die Orgel lassen Konzerte und Lesungen zu. Taufbecken und Kanzel wirken etwas verloren:

    "Das Taufbecken, ein bedeutendes Zeugnis der Renaissance, einer der ersten nachreformatorischen Ausstattungsgegenstände hier, hat auch zu Paul Gerhardts Zeiten an dieser Stelle gestanden und Paul Gerhardt hat hier nicht nur zahllose Berliner Kinder, sondern auch seine eigenen Kinder getauft."

    Die Nikolaikirche, einst als dreischiffige, kreuzförmige Feldsteinbasilika gebaut, wurde verändert, zerstört und wiederaufgebaut. Gerade entstand die Kanzel neu, aus schlichtem Holz:

    "Diese Kanzel ist eine Rekonstruktion und Paul Gerhardt hat eben auf dieser Kanzel selber gestanden, gepredigt, und gegen die Calvinisten, gegen den Kurfürsten polemisiert, was schließlich zu seiner Amtsenthebung geführt hatte."

    Albecht Henkys kümmert sich um den Wiederaufbau der Kanzel an einer der mittleren Säulen.

    "Gemäß der Lehre Luthers, das Wort in den Mittelpunkt zu stellen, sind – übrigens nach dem Vorbild der Torgauer Schlosskapelle, da hat Luther das selber verfügt – in allen evangelischen Kirchen die Kanzeln dann plötzlich auf die Mitte des Langhauses gebracht worden."

    In Berlin wurde Paul Gerhardt zum bedeutendsten deutschsprachigen Kirchenlieddichter nach Martin Luther, freut sich der Kurator:

    "Sie dürfen davon ausgehen, dass 80 Prozent seiner Lieder hier entstanden sind. Nach seiner Amtsenthebung, nach seinem Wechsel nach Lübben ist kein einziges Gedicht, kein einziges Kirchenlied mehr bekannt."

    Mittags in Lübben - dem "Tor zum Spreewald", mit seinen Wasserkanälen.
    Aus dieser Gegend werden Gurken, Meerrettich, Eier und Obst in die rund 80 Kilometer entfernte Hauptstadt Berlin frisch geliefert. Der helle Turm der Paul-Gerhardt-Kirche am Markt überragt Lübben. Die letzte Wirkungsstätte des Lieddichters.
    "Lübben war damals sächsisch gewesen. Und aus seiner Berliner Zeit heraus gab's ja da Probleme mit dem Großen Kurfürsten, und er wurde seines Amtes enthoben und war dann arbeitslos geworden, und so kam diese Kunde hierher nach Lübben."

    Auch hier ein Denkmal. Hier schaut Paul Gerhardt auf das Markttreiben: Fisch, Fleisch, Obst und Spreewaldgemüse werden feilgeboten.

    In jedem Jahr gibt es zwei Paul-Gerhardt-Wochen, dann bietet Pfarrer Olaf Beier mittags um 12 eine Andacht an. Auf den Kirchenbänken sitzen gut 40 Menschen: ältere Frauen, den Weidekorb mit Markteinkäufen auf dem Nebensitz, wenige Ehepaare. Alltagsgespräche. Nahe der Kanzel brennen Gedenkkerzen.

    "Bevor man in die Kirche hinein tritt, hat man schon vier Liedverse lesen können von Paul Gerhardt, am Denkmal, dann über dem Portal, in der Kirche an den Emporen, dann am Eingang zur Sakristei überall Liedverse Paul Gerhardts, man braucht gar kein Gesangbuch aufzuschlagen, man geht durch diese Kirche und kann die Texte Paul Gerhardts singen, wir haben sie vor uns!"

    Pfarrer Beier mit dünnem, zurückgekämmten Haar und schmaler Brille steht er vor den Besuchern der Andacht. Der schlanke, agile Mann in den 40igern beschäftigt sich in seinen Predigten und bei der Liedauswahl häufig mit Paul Gerhardt:

    "Mit 62 Jahren hierher nach Lübben zu kommen, eine neue Pfarrstelle anzunehmen, also ich muss sagen: Hochachtung, denn er war auch körperlich nicht mehr bei besten Kräften gewesen."

    Der Lübbener Magistrat hatte dem Pfarrer nur unzureichenden Wohnraum angeboten, der noch dazu im desolaten Zustand war. Die Instandsetzung seiner Wohnung ging nur langsam voran.

    "Er hatte eine sehr große Bibliothek gehabt, da sollte dann das Pfarrhaus dann auch erweitert werden und das haben die Lübbener nicht gleich so eingesehen, da hat's Überzeugungskünste gekostet, auch von Paul Gerhardts Seiten."

    Die Lübbener Stadtväter verboten Paul Gerhardt, sich Bier aus Torgau zu besorgen. Sie pochten auf ihr Brauprivileg. Kurz vor seinem Tod verfasste Gerhardt ein Testament an seinen Sohn Paul Friedrich:

    "'Tue Gutes', heißt es dort, natürlich, da würden wir heute genauso sagen, das ist wichtig, oder: 'Sei nicht geizig, halte an Deinem Glauben fest. Erzürne Dich nicht, außer'- und das ist natürlich typisch Paul Gerhardt- 'außer in Deinem Amte'. Also da kannst Du schon für Deine Überzeugung sehr eintreten, Dich engagieren, aber ansonsten sei friedlich im Umgang mit den Menschen und es ist ein beeindruckendes Zeugnis der Weisheit Paul Gerhardts, die er da noch einmal zusammenfasst auch."

    Nach seinem Tod, am 27. Mai 1676, wurde er im Altarraum der Lübbener Kirche beigesetzt. In einer Vitrine an der Seitenwand liegen neue, aktuelle Kirchengesangsbücher unter anderem aus Indien, Brasilien, Südafrika, Australien und Skandinavien. Alle enthalten Lieder von Paul Gerhardt.