Hunderte stehen in der Warteschlange. Warten geduldig. Die Boschpoort-Justizvollzugsanstalt im südniederländischen Breda ist ein Backsteinbau mit einer gigantischen, fast 40 Meter hohen Kuppel.
"Wir kommen aus Arnheim, ich bin hier mit drei Freundinnen, wir wollten mal etwas ganz Besonderes erleben. Ob wir versuchen werden, auszubrechen? Klar doch! Mal sehen, ob uns das gelingt!".
"Ich komm' aus Den Haag, ich hab das zum Geburtstag geschenkt bekommen, von meinen Geschwistern. Die fanden es eine gute Idee, mich mal hinter Gitter zu bringen."
"Prison Escape" als Zeitvertreib
Das Spiel, das uns bevorsteht, heisst Prison Escape. Flucht aus dem Knast. Ein Zeitvertreib ganz besonderer Art. 75 Euro kostet es, um sich drei Stunden lang vorzukommen wie im echten Gefängnisalltag. Hände aus den Taschen! Arme am Körper halten! Geradeaus gucken!
Eine Art Massenperformance ist es, zusammen mit 350 weiteren Teilnehmern, mit echten Hunden und 80 Schauspielern. Sie mimen Knastpersonal und Mithäftlinge. Von ihnen kommen die Hinweise, die man braucht, um auszubrechen.
Möglich wird das alles, weil es in den Niederlanden zu wenige Häftlinge gibt, um die Zellen zu füllen. Viele Gefängnisse wurden geschlossen und stehen leer. Denn, so das Justizministerium in Den Haag: Die Gesellschaft ist älter geworden, die Kriminalität sinkt.
In anderen EU-Ländern sind die Knäste überfüllt
Aber das ist in den Nachbarländern nicht anders. Und dort sind die Haftanstalten nach wie vor rappelvoll, da gibt es nicht genug Zellen. Belgien und Norwegen haben in den letzten Jahren sogar niederländische Gefängnisse angemietet, um dort ihre eigenen Gefangenen einzuschliessen.
Hauptgrund für die leerstehenden niederländischen Gefängnisse ist Experten zufolge vielmehr, dass weniger auf Freiheitsstrafen gesetzt wird und mehr auf alternative Strafen. Bei leichten Delikten ohne Gewalt - und die machen den größten Teil aller Straftaten aus – versuchen es die Niederländer erst einmal im Guten: mit Verwarnungen, Geldbußen oder Arbeitsstrafen. Darüber hinaus wird seit gut 20 Jahren mit der elektronischen Fussfessel experimentiert. Dann sitzt jemand seine Freiheitsstrafe daheim als Hausarrest ab, erklärt Professor Emeritus Peter Tak aus Nimwegen, Experte für vergleichendes Strafrecht in Europa:
"Dahinter steckt die Überzeugung, dass Gefängnisaufenthalte nicht unbedingt sinnvoll sind. Dass es sehr oft nicht nötig ist, jemanden hinter Gitter zu bringen, eben weil es Alternativen gibt, mit denen sich sein Verhalten sehr viel besser korrigieren und beeinflussen lässt."
Richter haben viel Spielraum beim Strafmaß
Wobei ein niederländischer Richter bei der Bestimmung des Strafmaßes sehr viel mehr Spielraum hat als seine europäischen Kollegen. Weil die Niederländer zu den wenigen Ländern in Europa gehören, die keine Mindeststrafen kennen, so Professor Tak:
"Wir haben bei Freiheitsstrafen im Prinzip für alle Delikte als Minimumstrafe einen Tag Haft, auch für Mord. Das ist die Ausnahme in Europa, das macht es einem Richter einerseits schwerer, andererseits gibt es ihm mehr Freiheit."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Leere Gefängnisse, mächtige Staatsanwälte – Justiz in den Niederlanden".
Die Durchschnittshaftdauer in Europa betrug 2018 achteinhalb Monate. In den Niederlanden waren es noch nicht einmal drei Monate. Das hat die Universität Lausanne im Auftrag des Europarats untersucht. Bei den allerschwersten Delikten, also Mord und Totschlag, verhängen niederländische Richter zwar härtere Strafen als ihre europäischen Kollegen. Aber sobald keine Gewalt im Spiel ist, fallen die Haftstrafen relativ milde aus.
50 Prozent weniger Zellen gebraucht als 1989
Das mache die Niederlande für Drogenschmuggler und -produzenten so attraktiv, weiß Drogenexperte Werner Verbruggen von Europol in Den Haag:
"Warum sollten sie woanders hin, wo sie zehn, 15 oder 20 Jahre bekommen, wenn sie hier in Holland schon nach zwei, drei Jahren wieder rauskommen?"
Und damit werden immer weniger Gefängniszellen gebraucht. 50 Prozent weniger als 1989. Das sind 7.000 Zellen, die jetzt anders genutzt werden. Allein 200 im Boschpoort-Kuppelgefängnis in Breda.
Ausbrechen zum Spaß
Dort schälen sich die Teilnehmer zufrieden aus ihren orangefarbenen Häftlings-Overalls. Das Spiel ist aus.
"Ich hatte einen Riesenspaß! Ich bin in der Wäscherei ausgebrochen, in einem Lieferwagen, zwischen der schmutzigen Wäsche. Mehr verrate ich nicht, das ist geheim!"
"Es war fantastisch! Ich habe mich so richtig ausgelebt, ich war der Schreck aller Aufseher! Ich bin jetzt 60 Jahre alt, und mein ganzes Leben lang war ich brav und anständig. Aber hier landete ich schon nach fünf Minuten in Isolierhaft - da war mein Ruf sowieso ruiniert und alles egal!"
"Ich hab' es nicht geschafft, auszubrechen. Ich hatte gestern meinen Junggesellenabend und viel zu viel getrunken, mein Kopf war nicht klar genug."
Aber mit oder ohne Kater - über eines sind sich viele klar geworden: Wie wichtig Freiheit ist. Und dementsprechend froh sind sie, dass es nur ein Spiel war. Dass sie nach drei Stunden wieder raus konnten.