Im Rathaus von Koriyama herrscht Aufbruchstimmung. E-Mails aus dem Ausland werden beantwortet, Formulare verschickt, es stapeln sich Unterlagen. Die mit 335.000 Einwohnern zweigrößte Stadt der Präfektur Fukushima bereitet sich auf Olympia vor. Dabei finden hier im kommenden Jahr gar keine Wettbewerbe statt. Dass Tokio Gastgeber der Olympischen Somerspiele 2020 ist, sieht man in Fukushima trotzdem als Chance.
Es ist die Chance, als Stadt sichtbar zu werden, ein eigenes Image zu formen. Die Chance, als Ort aus Fukushima in den Austausch mit der Welt zu treten. Das soll die sogenannte "Host Town Initiative" im Vorfeld der Spiele möglich machen.
Kultureller Austausch
Die Idee dahinter: Japanische Orte im ganzen Land werden kultureller Gastgeber für ein fremdes Land. In der japanischen Stadt finden Filmvorführungen oder Ausstellungen statt, die die Gastnation bekannter machen. Im Gegenzug haben die olympischen Athleten des Partnerlandes die Möglichkeit, vor Beginn der Spiele auf den Sportanlagen der Stadt ihre Vorbereitung zu absolvieren. In Koriyama ist Yuusuke Aita verantwortlich für die Umsetzung der "Host Town-Initiative". Im geschäftigen Rathaus berichtet der junge Beamte von den Beziehungen Koriyamas in die Welt:
"Wir sind die Host Town für die Niederlande geworden. Die Beziehungen zwischen Koriyama und den Niederlanden reichen bis Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als Holländer hier ein Wassernutzungssystem installierten. So sind wir für die Olympischen Spiele nun offizielle Partner. Und wir hoffen, dass dadurch nicht nur Holland in Koriyama bekannter wird, sondern sich auch umgekehrt Koriyama in Holland einen Namen macht."
In ganz Japan sind bis jetzt 304 Orte Host Towns von 107 Ländern geworden. Landesweit ist das Ganze ein großer Erfolg, ein wahrer Internationalisierungsschub durch den Sport: Die Stadt Kasami in Ostjapan zum Beispiel, Host Town für Äthiopien, hat daheim einen Laufwettbewerb für Jugendliche beider Länder veranstaltet. In Murayama, in Mitteljapan, sind aus dem Partnerland Bulgarien Turner gekommen und haben neben dem Sport über die traditionelle Tee-Zeremonie gelernt.
Aus der Präfektur Fukushima haben sich neben Koriyama sieben weitere Städte mit Partnerländern angemeldet. Hier freut man sich besonders auf die "Host Town Initiative". Schließlich leidet die Region weltweit noch immer unter dem Ruf, vor allem radioaktiv belastet zu sein.
2011 - Erdbeben, Tsunami und Supergau
Ein knappes Jahrzehnt liegt Japans größte Katastrophe der jüngeren Geschichte nun zurück. Am 11. März 2011 wurde das Land zuerst von einem Erdbeben der Stärke 9 erschüttert, kurz darauf überschwemmten mehr als 20 Meter hohe Tsunamiwellen die Nordostküste. Es starben nicht nur 20.000 Menschen. Im an der Küste gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam es in drei Reaktoren zu Kernschmelzen.
An den Tagen und Wochen danach wurden Gebiete im 30-Kilometerradius evakuiert. In Fukushima und in den benachbarten Präfekturen verloren Hunderttausende ihr Zuhause. Und auch wenn mancherorts wieder Rücksiedlungen möglich geworden sind, leben Zehntausende Menschen bis heute fern von ihrer Heimat.
Nur traf dies selbst an den Katastrophentagen bloß auf einen Teil der Präfektur Fukushima zu. Die drei größten Städte – Iwaki, Koriyama und die Hauptstadt Fukushima-City – liegen weit von der Küste entfernt und wurden nie evakuiert. Hier misst die Präfektur-Regierung von Fukushima jeweils ein Strahlungsniveau, das sich von jenem in London oder München nicht sonderlich unterscheidet. Doch wie erklärt man der Welt, dass das Alltagsleben hier mit keinen besonderen Risiken verbunden ist?
Das ist eine der Aufgaben des Holländers Joost Kralt. Seit 2015 arbeitet er im Zuge eines Austauschprogramms im Rathaus von Koriyama. Die Fragen aus der Heimat, ob er hier in Fukushima in Sicherheit sei, ist er mittlerweile gewohnt.
"Fukushima war nicht sehr bekannt vor der Katastrophe. Die Besucher, die herkamen, waren vor allem Inlandstouristen. Was die Region dann bekanntmachte, war der Unfall im Atomkraftwerk. Und ein Problem war, dass das Kraftwerk auch noch den Namen ‚Fukushima‘ trug. Das hat das Image der gesamten Präfektur geprägt. Hätte das Kraftwerk einen anderen Namen gehabt, wäre heute vielleicht alles anders. So ist Fukushima für viele Menschen heute eher ein Ereignis als ein Ort."
Zurückhaltung trotz guter Trainingsbedingungen
Das macht sich auch im Zuge der "Host Town-Initiative" bemerkbar. So freut sich Joost Kralts Heimatland zwar, dass in Koriyama die holländische Kultur bekannter gemacht wird. Aber ein vorolympisches Trainingslager in Koriyama planen die Niederlande nicht. Man habe schon ein Trainingscamp in Chiba nahe Tokio geplant, lautet die offizielle Begründung.
Allerdings überrascht die Zurückhaltung, wenn man Koriyamas Host Town-Broschüre durchblättert: Die Stadt verfügt über hervorragende Trainingsbedingungen mit mehr als 20 wettkampftauglichen Anlagen. Zugleich berichten die anderen Städte aus der Präfektur Fukushima von ähnlichen Schwierigkeiten, Athleten in die Region zu holen. Kommen sie deshalb nicht, weil doch Angst vor radioaktiver Strahlung besteht?
"In unserer Broschüre sind hinter den Sportanlagen auch die Strahlungswerte aufgeführt. Sie sind nicht besonders hoch.", sagt Yuusuke Aita
Und Joost Kralt überlegt: "Ich möchte denken, dass die Angst vor Strahlung kein Faktor in der Entscheidungsfindung ist. Aber es ist schwer zu sagen.
Möglich, dass in Fukushima keine olympischen Athleten trainieren und übernachten werden. Aber noch bleibt etwas Zeit, und noch besteht Hoffnung, die Weltelite des Sports doch noch in die Region zu holen. Auch im Rathaus von Koriyama arbeitet Seiya Suzuki, verantwortlich für Sportangelegenheiten. Seit einem Jahr hält der junge Mann engen Kontakt nach Ungarn, nachdem er und seine Kollegen auf eine kulturelle Gemeinsamkeit stießen:
"Man hat herausgefunden, dass man wie in Japan auch in Ungarn die edle Karpfenart Koi nicht nur züchtet, sondern auch isst. So ist ein kultureller Austausch entstanden."
Da hat man gleich Nägel mit Köpfen gemacht, noch im letzten Jahr eine Absichtserklärung zwischen Ungarn und Koriyama unterzeichnet, was die Host Town-Initiative angeht. Womöglich, so sagt man sich im Rathaus, werden bald ungarische Sportler in die Stadt kommen. Zwar dachte man das auch schon von den Niederländern. Seiya Suzuki aber ist vorsichtig optimistisch:
"Ungarn ist sehr stark im Schwimmen. Und in Koriyama haben wir ein großes 50-Meter-Becken. Sie haben schon signalisiert, dass sie Interesse haben. Für Fukushima wäre das eine tolle Sache."