Das berühmteste Theaterviertel der Welt, der Times Square, wusste es schon 1982: "Protect me from what I want" strahlte damals in Neon-Lettern auf die Passanten herab.
Unklar, wen die Künstlerin Jenny Holzer damals adressiert hat, sie vor den eigenen Wünschen zu beschützen – Theaterbesucherinnen aus aller Welt hätten das Menetekel aber mal lieber ernst genommen, statt es auf Postkarten gedruckt in der Schublade verschwinden zu lassen und die Herzenswünsche weiter ungebremst zum Theatergott aufsteigen zu lassen.
Keiner hustet, keiner raschelt, keiner stört - schade
Jetzt sind sie nämlich erhört worden, die Millionen Stoßgebete und Verzweiflungsseufzer, die aus den Parketts, Logen und Rängen dieser Welt jemals gen Himmel gesandt wurden. Vom Wunsch, der Herr aus Reihe sieben hätte seinen Reizhusten bei einer Tasse Tee auskuriert, statt mit atonalem Räuspern den Konzertsaal beglückt, über die bösen Blicke auf die Sitznachbarn rechts und links, die sich wie Bulldoggen über die Armlehnen werfen. Das Zähneknirschen, mit dem man die Kunst der Hinterfrau erträgt, ihr rücksichthaftes Öffnen eines Bonbons auf 20 Minuten auszudehnen. Das reihenübergreifende Stöhnen, wenn zwei Ewigkeiten lang ein Handy vibriert – und keiner will’s gewesen sein. Bis hin zu den gewisperten Hasstiraden, die die Dame in Reihe sechs Mitte erntet, wenn sie 15 Menschen aufscheucht bei ihrem vermeintlichen Fluchtversuch – der sich bei ihrer Rückkehr als kleiner Toilettengang herausstellt.
Nicht zu vergessen: der steife Rücken nach drei Stunden diagonalem Sitzen, weil die Beine zu lang sind; das Vor-Wut-in-den-Sitz-beißen, weil der Vordermann mit seinen Zweimeterzehn sicher zur Basketball-Nationalmannschaft gehört und die schwummrige Übelkeit, mit der man durch die Schweißwolken gleitet, die die Nebenfrau aussendet. Ganz zu schweigen vom beliebten Theatersport: 300 Frauen teilen sich in 15 Minuten Pause zwei Toiletten, 300 Männer prügeln sich derweil um die Aufmerksamkeit zweier Tresenkräfte.
Nicht zu vergessen: der steife Rücken nach drei Stunden diagonalem Sitzen, weil die Beine zu lang sind; das Vor-Wut-in-den-Sitz-beißen, weil der Vordermann mit seinen Zweimeterzehn sicher zur Basketball-Nationalmannschaft gehört und die schwummrige Übelkeit, mit der man durch die Schweißwolken gleitet, die die Nebenfrau aussendet. Ganz zu schweigen vom beliebten Theatersport: 300 Frauen teilen sich in 15 Minuten Pause zwei Toiletten, 300 Männer prügeln sich derweil um die Aufmerksamkeit zweier Tresenkräfte.
Beinfreiheit wird überschätzt
Seit Saisonbeginn nun endlich: Theaterglück deluxe! Jede zweite Reihe ausgebaut, nur jeder dritte Platz in den übrigen Reihen belegt. Das heißt: Drei viertel aller Huster, Stinker, Bonbon-Auswickler, Basketball-Spieler und blasenschwacher Handybesitzer weniger! Beinfreiheit in Überlänge! Armfreiheit XXL! Zwei Lehnen – und jetzt kommt’s: pro Sitzplatz! Flucht und Toilettengang ohne Prügel und zu jeder Zeit! Manche Theater planen gar Beistelltischchen für Getränke – fehlt nur der Aschenbecher, dann würde sogar Helmut Schmidt... wenn er denn noch könnte.
Aber, ach, der Mensch. Des Glückes unfähig. Jetzt erinnert er sich plötzlich wieder, wie er in der großen Masse unbemerkt, genüsslich in einen erquickenden Opernschlummer fiel. Wie er die geschundenen Zehen unterm Sitz der Vorderfrau nackt und frei atmen ließ. Träumt davon, wie ihn die Lachwellen der Gemeinschaft durch den Abend trugen, die Wellen der Empörung ihn schäumen ließen, wie sein Herzschlag im Rhythmus hunderter Herzen schlug. Wer hätte gedacht, dass leere Stille anders klingt als konzentrierte? Wer, dass Schauspieler ohne überschwappende Zuschauerwellen ins Schwimmen geraten? Und wer, dass ein ausgedünnter Zuschauerraum den Charme von Haarausfall verströmt?
Zusammen sieht man weniger allein
Die Zuschauerin trauert. Und grämt sich. Ärgernis des Jahres für die Theaterkritikerin des Spiegels? Zitat: "Dass ich mich so häufig von meinen Sitznachbarn gestört gefühlt habe, als ich noch nicht wusste, wie sehr ich sie mal vermissen würde." Einsicht und Erkenntnis. Und so zieht das absurdeste Stoßgebet eines Theatergängers aller Zeiten hinauf: Himmel, mehr Zuschauer!