Ein Ausstieg aus dem Konflikt in der Ukraine, der vor einem Jahr mit Protesten gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch begann, sei nur über eine Neubelebung des Minsker Abkommens möglich, sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn im Deutschlandfunk. Der Kontakt müsse wiederbelebt werden, die an dem Konflikt in der Ostukraine Beteiligten müssten sich wieder an einen Tisch setzen. Dem müssten dann auch konkrete Schritte folgen. So müsse eine Basis für eine Feuerpause gefunden werden und ein Austausch von Gefangenen stattfinden, sagte Asselborn.
Zu Vorschlägen, die Annexion der Krim durch Russland eventuell anzuerkennen, sagte Asselborn, der Pragmatismus dürfe nicht so weit gehen, das man die eigenen Grundsätze leugne. Es gelte, das Prinzip der Souveränität der Ukraine hochzuhalten. De facto sei Unrecht entstanden, das nicht zu Recht erhoben werden dürfe. Ein Ausstieg aus dem Konflikt sei aber wichtig, denn die Welt brauche die Zusammenarbeit zwischen Russland, USA und Europäischer Union.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Angela Merkel gestern in Polen:
Angela Merkel: "Für uns gilt die Stärke des Rechts und nicht die Inanspruchnahme eines angeblichen Rechts eines Stärkeren. Für uns sind Nachbarländer Partner und keine Einflusssphären."
Heinemann: Ein paar Hundert Menschen kamen am 21. November auf den Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Sie wollten gegen ihren Präsidenten demonstrieren. Wiktor Janukowytsch hatte der Europäischen Union gerade einen Korb gegeben und das Assoziierungsabkommen platzen lassen. Was folgte ist bekannt: viele hundert Tote und die größte Krise zwischen Russland und dem Westen seit dem Zerfall der Sowjetunion.
Unterdessen sagt der Verwaltungschef der von prorussischen Kämpfern besetzten Großstadt Donezk, Igor Martinow, heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Russland finanziere die Rebellenhochburgen im Osten der Ukraine maßgeblich. Wörtlich: "Nicht nur ein bisschen Geld, sondern viel." - Am Telefon ist jetzt Jean Asselborn, der Außenminister des Großherzogtums Luxemburgs. Guten Morgen.
Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Eine unmissverständlich klare Lage
Heinemann: Herr Asselborn, was hätte Europa im vergangenen Jahr besser machen müssen?
Asselborn: Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage. Ich glaube, dass wir am letzten Montag, als wir als Außenminister zusammensaßen in Brüssel, dass für uns die Lage unmissverständlich klar ist, dass eine Steigerung des Konfliktes ins Nicht-mehr-gut-zu-machende führt. Das ist die eine Sache und die zweite Sache ist: Sanktionen sind ein Instrument, das man gezielt einsetzen muss, aber die meisten von uns glauben, dass Russland sich selbst bestraft hat im letzten Jahr.
Wenn Sie sehen, wie der Rubel eingebrochen ist, Investitionen gestoppt sind, auch die internationale Wirtschaft im politischen Renommee sehr gelitten hat, dann glaube ich, dass wir als Europäische Union dieser Tatsache ins Auge sehen müssen, dass wir das Unwiderrufliche verhindern müssen - das ist sehr, sehr ernst -, dass Russland selbstverständlich das Recht hat, sein Gesicht nicht zu verlieren. Aber wir haben am Montag das gemacht, glaube ich, was richtig war. Wir haben auf weitere Sanktionen gegen Russland verzichtet, um auch im Gegenzug Verständnis vom Kreml zu erhoffen, dass die Lage sich nicht noch weiter zuspitzt.
Wir müssen den Konflikt mit Russland anders analysieren
Heinemann: Herr Asselborn, Präsident Putin hat ja die Fühler ausgestreckt. Er hat in einem umstrittenen Fernsehinterview Deutschland umgarnt. In dieser Woche hat er Frank-Walter Steinmeier empfangen. Versucht Putin, die Europäische Union zu spalten?
Asselborn: Ich glaube, dass wir in der Europäischen Union das anders analysieren müssen. Es gibt, glaube ich, die Theorie, die ganz klar ist. Das sieht man auch, wenn man mit Menschen, Politikern von anderen Kontinenten redet. Die Welt braucht eine Zusammenarbeit zwischen Russland, den USA, der Europäischen Union. Sehen Sie Iran, sehen Sie Nahost, sehen Sie Afghanistan, den Kampf gegen den Terrorismus auch.
Jetzt gibt es, Herr Heinemann, glaube ich, zwei Bilder, und da dürfen wir die Augen nicht verschließen. Das eine Bild ist: In vielen Ländern der Dritten Welt hat Russland das Recht, sich zu wehren gegen die Arroganz des Westens, gegen die Reichen in den USA, gegen die Reichen in der Europäischen Union die Stirn zu bieten, und dann kommt der Satz, Russland konnte eigentlich nicht anders. Das ist natürlich ein Bild, was ich nicht teile.
Das andere Bild, was wir haben: Es gibt Stimmen in der Europäischen Union, totsicher auch in den USA, dass Putin ein Diktator ist, dass er nur Stärke versteht, dass er lacht über unser Zögern, dass Sanktionen bis auf die höchst möglichste Skala eigentlich geschraubt werden müssen, damit er erwacht - auch ein Bild, was ich absolut nicht teile.
Und darum bin ich nach wie vor überzeugt, dass man vor allem die Stimmen aus den Gründerstaaten, aber mit viel Respekt natürlich auch für die Stimmen aus dem Osten oder von den Balten, dass man die respektieren muss, dass man, glaube ich, weder in das eine, noch in das andere Schema einsteigen muss, sondern dass man natürlich das Prinzip der Souveränität der Ukraine hochhalten muss. Das ist das Erste und das Zweite ist, dass man einen Ausstieg aus dem Konflikt sucht, und dieser Ausstieg kann nur basiert sein, meines Erachtens - das hat ja auch Frank-Walter Steinmeier so gemacht -, auf einer Neubelebung des Minsker Abkommens.
"De facto ist Unrecht entstanden"
Heinemann: Einen Vorschlag hat jetzt der SPD-Politiker Matthias Platzeck in dieser Woche gemacht. Er sagt, eine völkerrechtliche Anerkennung der Annexion der Krim-Halbinsel, das wäre möglich. Er ist inzwischen wieder ein bisschen zurückgerudert, aber der Vorschlag liegt auf dem Tisch. Könnte eine neue Eiszeit um diesen Preis verhindert werden?
Asselborn: Herr Heinemann, man kann den Pragmatismus nicht bis zum Leugnen seiner Grundsätze, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit hinziehen. Es gibt ja, wie wir alle wissen, einen Grundsatz im internationalen Recht, dass man nicht mit Gewalt oder mit Rechtsbruch vorgehen kann, um einen Teil eines souveränen Staates zu okkupieren. De facto ist Unrecht entstanden, de jure kann dieses Unrecht nicht zu Recht erhoben werden. Ich glaube, dass die Europäische Union - das scheint auch Herr Platzeck im Nachhinein, der vielleicht das richtig oder gut gewollt hat, in seiner Aussage würde die Europäische Union aber jede Glaubwürdigkeit in Sachen internationales Recht verlieren ...
Heinemann: Herr Asselborn, dann hören wir uns vielleicht kurz, wenn Sie gestatten, an, wie er das begründet hat und welche Alternativen
Matthias Platzeck sieht in dieser Woche im Deutschlandfunk
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Matthias Platzeck: "Es gibt drei mögliche Szenarien: Putin geht irgendwann ins Fernsehen und sagt, ich habe große Fehler gemacht, und die Sanktionen haben mich dabei auch befördert.
Zweites mögliches Szenario: Putin übersteht das nicht, weil es instabil wird und weil er am Ende sich dort nicht halten kann. Da sollten wir doch nicht glauben, dass danach ein Präsident an die Macht kommt, der europafreundlicher, westfreundlicher oder wie auch immer uns näher ist.
Die dritte Variante wäre: Da sind 84 Nationalitäten in Russland. Und das möchte ich mir nicht mal im bösesten Traum vorstellen, dass die zweitgrößte Nuklearmacht der Welt am Ende instabil wird und in Nationalitätenkonflikten versinkt."
Spirale der Konfrontation stoppen
Heinemann: Also, Herr Asselborn, liegt es nicht im ureigensten Interesse der europäischen Politik, dass Putin im Amt bleibt?
Asselborn: Ich glaube, was ja auch interessant ist und vielleicht auch weiterhelfen kann, nach dem Besuch auch von Herrn Steinmeier in Kiew und in Moskau, dass das, was ich gesagt habe zum Ausstieg, sagen wir mal, diese neue Konzentration und Neubelebung des Minsker Abkommens, dass ja Russland eigentlich auch dasselbe will. Übersetzt heißt das, dass man nicht mit Waffen vorgehen kann in der Ostukraine, um den Konflikt zu lösen.
Das heißt, die Kontaktgruppe muss wieder belebt werden, muss sich wieder an einen Tisch setzen, und ich glaube, da gibt es zwei Elemente, die sich herausschälen. Das eine ist, dass man wirklich versuchen muss, diesmal eine Basislinie für die Feuerpause aufzubauen, dass man es auch fertig bringen müsste, einen Austausch von Gefangenen hinzukriegen, und dass in Kiew, sagen wir mal, auch die Einsicht kommt - und ich glaube, dass Poroschenko die auch hat -, dass ein Dezentralisationsgesetz in Angriff genommen werden muss, und dass auch vielleicht in Kiew nachgedacht wird, ob es richtig ist, eine finanzielle Abspaltung des Donbass von Kiew, ob man sich das nicht noch einmal überlegen muss.
Es gibt konkrete Schritte, die, glaube ich, eine Chance haben, sich durchzusetzen. Herr Platzeck hat natürlich Recht in den großen zusammenhängenden Theorien, aber wir sind als Außenminister vor allem damit konfrontiert, wie man jetzt diese Spirale der Steigerung der Konfrontation abbauen kann.
Heinemann: Und da haben Sie gerade noch mal die Notwendigkeit von Verhandlungen unterstrichen. - Europa benötigt jetzt vor allen Dingen auch handlungsfähige Institutionen, gerade in Brüssel. Jean-Claude Juncker muss ständig seine Rolle im luxemburgischen Steuerskandal erklären. Kann sich die Europäische Union gerade im Augenblick einen schwer angeschlagenen Kommissionspräsidenten leisten?
Asselborn: Also, Herr Heinemann, ich würde sagen, dass die Europäische Union ja eine demokratische Anstalt ist. Das Europaparlament kann der Kommission ja unter bestimmten Regeln das Vertrauen entziehen, und in den kommenden Tagen wird eine Debatte stattfinden und auch ein Votum im Europäischen Parlament, und das ist natürlich ein ganz wichtiger Aspekt für die politische Legalität der Kommission und auch vom Kommissionspräsidenten.
Juncker kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen
Heinemann: Wie beschädigt ist Juncker jetzt schon? Wie sehen Sie das?
Asselborn: Nein, nein. Ich würde sagen, wenn das abgewickelt ist, ist Verschiedenes klar, und Juncker ist ein politisch denkender Mensch. Das wissen wir beide.
Er weiß, dass er nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Er hat Moscovici einen klaren Auftrag gegeben, Transparenz in diese Holding-Systeme zu bringen, die in 22 Ländern der Europäischen Union operieren. Er weiß auch - und das machen wir, auch ohne jetzt von der EU aufgefordert zu sein, in vielen Ländern -, dass wir auf dem Niveau der OECD über diese Gewinnverschiebungspraktiken nachdenken müssen.
Heinemann: Herr Asselborn, das ist richtig. Das ist die Zukunft. Aber wenn wir noch mal in die Vergangenheit gucken? Da haben rund 340 Unternehmen, darunter große internationale Konzerne, Steuern gespart in Milliardenhöhe. Wenn Juncker das wusste, dann hat er auf Kosten der EU getrickst, und wenn er es nicht wusste, dann war er ein schlechter Regierungschef. Das ist doch beides nicht sehr vorteilhaft. Was raten Sie ihm jetzt?
Asselborn: Herr Heinemann, wir müssen aufpassen, wenn wir über Milliarden reden. Diese Milliarden sind ja nicht nach Luxemburg gekommen, oder Luxemburg war, sagen wir mal, (nicht) der alleinige Punkt, wo diese Systeme stattgefunden haben.
"Europa funktioniert"
Heinemann: Das ist richtig. Aber diese Milliarden konnten nicht für Schulen, für Polizisten in EU-Ländern ausgegeben werden, weil die Unternehmen sich ihrer Steuerpflicht in den entsprechenden EU-Mitgliedsländern entzogen haben via Luxemburg.
Asselborn: Darum müssen wir das ändern und ich glaube, dass Juncker ganz klar nach vorne sehen muss. Er hat die Aufträge gegeben, die zu geben sind. Juncker wird am Steuer stehen müssen, um diese Praktiken, sagen wir mal, in ein anderes Licht zu schieben und das zu ändern.
Das ist ganz klar! Und dass die vereinigte Rechte im Europaparlament jetzt diesen Antrag gestellt hat, ich glaube, das ist richtig. Aber das wird auch der Mehrheit im Europäischen Parlament die Gelegenheit geben, sich mit der Sache auseinanderzusetzen und nach vorne zu blicken. Und wir sollten nicht den Fehler machen, glaube ich, dies alles jetzt auf das Funktionieren der Institutionen zu lenken. Europa funktioniert, das Europaparlament funktioniert und wird eine klare Entscheidung treffen.
Heinemann: Kann Juncker Europa gegenüber Russland vertreten?
Asselborn: Der kann nicht nur, der muss das machen!
Heinemann: ... , sagt Jean Asselborn, der Außenminister des Großherzogtums Luxemburg. Herr Asselborn, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Asselborn: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.