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Lehn, Macht, Stopka: "Schreiben lernen im Sozialismus"
Kaderschmiede oder Insel der Seligen?

Das Literaturinstitut "Johannes R. Becher" sollte Staatsdichter heranziehen, förderte jedoch auch renitente Talente. Nun liegt die erste Geschichte der DDR-Dichterschule vor.

Von Ralph Gerstenberg |
    Der Leipziger Lyriker Heinz Czechowski zusammen mit der Schriftstellerin Katja Lange-Müller. Die beiden lösten sich am 31. August 1990 als Stadtschreiber des Frankfurter Stadtteils Bergen-Enkheim ab.
    Sie studierten einst am Leipziger Literaturinstitut: Heinz Czechowski und Katja Lange-Müller. Hier als Stadtschreiber in Frankfurt/Main 1990. (picture alliance / dpa / DB Kühn)
    Wie bringt man Autoren bei, den richtigen Standpunkt zu vertreten, ihre Romane, Gedichte, Theaterstücke so zu verfassen, dass sie dem jungen sozialistischen Staat von Nutzen sind? Diese Frage stellten sich Anfang der 1950er Jahre SED-Kulturfunktionäre in der DDR und kamen auf die Idee, eine Dichterschule zu gründen, ein Literaturinstitut, in dem das Schreiben auf Parteikurs gelehrt wurde. Allerdings stießen sie mit ihrer Idee einer sozialistischen Poetenschmiede nicht nur auf offene Ohren, wie Katja Stopka, Mitautorin der Studie "Schreiben lernen im Sozialismus", bei Ihrer Arbeit feststellte.
    "Schriftsteller sind im deutschsprachigen Raum ja entweder Genies, Künstler, die aus sich selbst heraus dieses Talent haben, oder sie sind keine Schriftsteller. In der DDR wollte man sich zum einen ja von diesem sehr elitären Künstlerbegriff trennen und den Autor zu einem Volksverständiger machen. Aber auch in der DDR gab es eben entsprechende Bedenken. Und die Frage, nicht zuletzt auch von Johannes R. Becher war: Wozu soll das gut sein? Entweder man kann dichten oder man kann nicht dichten."
    Entsetzt schrieb der ehemalige expressionistische Lyriker und künftige DDR-Kulturminister Johannes R. Becher in sein Tagebuch:
    "Ein tolles Stück. Der noch zu gründenden Akademie der Künste wird ein Entwurf zur Bildung eines Literatur-Erziehungs-Instituts ... eingereicht, als Mittel, realistische Kunst zu erzielen. Im Kampf gegen den Formalismus hyperformalistische Retortenexperimente. "Ideologische Durchblutung" wäre die Aufgabe des Literatur-Seminars, meint der unfreiwillige Spaßmacher."
    Ein Fund im heutigen Leipziger Literaturinstitut
    Ausgerechnet nach Johannes R. Becher, freilich erst nach dessen Tod, sollte das Leipziger Institut für Literatur schließlich benannt werden. Das ist nur eine von vielen Randnotizen, die Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka nebst Episoden, Porträts, Zeitzeugenberichten sowie literarischen Texten in ihrer Geschichte des Instituts zusammengetragen haben. Ausgangspunkt war ein Fund im heutigen Leipziger Literaturinstitut, in dessen Keller sich Abschlussarbeiten von Absolventen des Johannes-R.-Becher-Instituts befanden. Ein großes Glück, findet Katja Stopka , denn durch dieses Material konnten sie sich ein facettenreichen Bild vom Lehren und Lernen an der DDR-Dichterschule machen, das durch das reine Archivaktenstudium nicht entstanden wäre.
    "Wir sind immer so Spuren gefolgt und haben plötzlich gemerkt, dass sich so ein Bild zusammensetzt und dass es dann am Ende ne sehr ambivalente oder vielschichtige Geschichte ist, die weder dazu führt zu sagen: Das war eine Kaderschmiede, noch eine Insel der Seligen, sondern es war immer in gewisser Hinsicht beides zugleich und beides zugleich eben nicht, und dass man das gar nicht so generalisieren kann."
    Konflikte gab es in dem 1955 gegründeten Institut von Anbeginn. Um ein gewisses Renommee zu postulieren, bestand der erste Studiengang zum Großteil aus bereits prominenten Autoren wie Ralph Giordano, Fred Wander und Erich Loest. Diese Schriftsteller, vor allem Loest, hatten wenig Interesse an den theorielastigen Seminaren. Sie wollten ihre Bücher schreiben und nicht noch mal die Schulbank drücken, so Stopka.
    "Erich Loest ist ja nicht freiwillig an dieses Institut gekommen, der ist ein bisschen genötigt worden. Der hatte ja im Vorfeld schon ein paar Konflikte gehabt mit dem Kulturministerium und mit der SED und merkte so, er kann sich das nicht leisten, jetzt abzusagen, und hat dann zwangsläufig gesagt: Okay, ich mach dieses Jahr. Und hat dann allerdings relativ viel daran zu kritisieren gehabt, nicht zuletzt auch an dem Direktor."
    Institutsdirektor Alfred Kurella – ein stotternder Stalinist
    Alfred Kurella, der erste Institutsdirektor, war ein linientreuer Hardliner und "leidenschaftlicher Verächter der Klassischen Moderne", jemand, der fest entschlossen war, den sozialistischen Realismus mit der Dampframme durchzusetzen. Als menschlich höchst ambivalent empfand Adolf Endler, auch ein Absolvent des ersten Jahrgangs, den Gründungsdirektor. Zitat:
    "Es gibt offenkundig diesen Widerspruch, dass manche Verbrecher ganz angenehme Menschen sind. Er hat unglaublich gestottert. Er hielt Vorträge über den Hu-hu-humanismus und gab die unsäglichsten Stalinismen von sich. Aber durch dieses Stottern kam das sehr menschlich herüber; und es entbehrte auch nicht einer gewissen Komik."
    Andererseits holte Kurella durchaus politisch unliebsame Leute wie Ernst Bloch und Hans Mayer für Gastvorlesungen ans Institut. Wieland Herzfelde, ein Erzfeind Kurellas, führte in seinen Seminaren mit den Studierenden offene Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen des sozialistischen Realismus sowie über handwerkliche Probleme bei der Textarbeit - wie Stopka meint.
    "Es wurde dann mit der Zeit der Anspruch der Autoren lauter, eigene Texte zu besprechen, also mehr an der eigenen Praxis zu arbeiten. Und Wieland Herzfelde hat sich darauf eingelassen, und das ist halt ein sehr schönes Beispiel für so einen Seminarverlauf, der mit Sicherheit ein bisschen hilflos war, weil man so viele Erfahrungen nicht hatte, aber das eigentlich sehr lebendig war und sehr interessiert auch von Seiten der Studenten."
    "Lichtgestalt" Georg Maurer
    Als "Sternstunde" des Instituts bezeichnete der einstige Absolvent und Dichter Heinz Czechowski die Ernennung des Essayisten und Lyrikers Georg Maurer zum ordentlichen Professor. Maurer galt als eine Art Lichtgestalt, als Inspirator für eine ganze Poetengeneration, ein Lehrender, der Seminare nächtelang vorbereitete und seine Poetik folgendermaßen formulierte:
    "Nicht Gefühle über Dinge sagen, sondern die Dinge so sagen, dass sie gefühlt werden können. Nicht eine Sache interessant machen wollen, sondern das Interessante der Sache entdecken."
    "Er war, glaube ich, ein begnadeter Lehrer. Nicht zuletzt hat sich ja daraus auch das ergeben, was man heute die sächsische Dichterschule nennt. Georg Maurer strahlte über das Institut hinaus, so dass auch weitere Leute, die dort gar nicht studiert haben, immer wieder in seine Seminare kamen, Volker Braun war dabei, Karl Mickel war dabei, durchaus prominente DDR-Schriftsteller, die kein Interesse hatten, dort zu studieren, aber mit Georg Maurer sehr verbunden waren, Adolf Endler im Prinzip dann auch. Und dann halt die Studierenden, die dort waren, die Kirschs und Heinz Czechowski."
    Widersprüche und Deutungshoheiten
    Die restriktiven Einschnitte in der DDR-Kulturpolitik, das 11. Plenum von 1965, die Biermann Ausbürgerung von ’76, beendeten jeweils auch am Institut liberale Tauwetterperioden. Studenten, die sich mit ihren Texten zu weit vorgewagt hatten, wurden exmatrikuliert, für die Unterzeichnung der Biermann-Petition drohte ebenfalls der Rausschmiss. Die Institutsleitung musste immer wieder lavieren, nachjustieren, Kurs halten, um die sozialistische Dichterschule nicht insgesamt zu gefährden. Andererseits galt es renitente Talente wie Katja Lange-Müller zu fördern, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und literarische Qualität durchzusetzen. Diese Widersprüche werden in der Studie von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka sehr schön herausgearbeitet, deren Sicht auf die Institutshistorie wohltuend differenziert und distanziert ausfällt.
    "Wir sind sehr unterschiedlich sozialisiert. Isabelle Lehn und ich kommen aus der alten Bundesrepublik. Sascha Macht ist in der DDR aufgewachsen, ist allerdings relativ jung, hat eigentlich die DDR gar nicht mehr richtig erlebt. Das muss man auch sagen: Wenn man so was in Leipzig macht, wird man sehr stark beobachtet. Wir sind auch immer wieder angegriffen worden. Es ist uns vorgeworfen worden, dass erstens wir viel zu jung seien und zweitens eben auch nicht aus dem richtigen Land kämen. Uns war es wichtig, dass wir in dieser Distanz haben bleiben können, dass uns das gelungen ist."
    "Schreiben lernen im Sozialismus" ist der Beweis dafür, dass es sich lohnt, vermeintliche Deutungshoheiten zurückzuweisen und sich von der eigenen Neugier leiten zu lassen. Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka haben dies getan und ein längst überfälliges, gut recherchiertes und sehr lesenswertes Buch über die Historie des 1993 geschlossenen Johannes-R.-Becher-Instituts geschrieben, in der sich knapp vier Jahrzehnte DDR-Literaturgeschichte widerspiegeln. Dass der Impuls für die Studie von dem zwei Jahre später ebenfalls in Leipzig gegründeten Literaturinstitut ausging, ist gewissermaßen nur folgerichtig. Schließlich habe man dort durchaus von der Vorgängerinstitution profitiert, findet Katja Stopka.
    "Wir haben mit Erstaunen festgestellt, dass die heutige Ausbildungspraxis durchaus ähnlich verläuft, dass deswegen die Erfahrungen, die dort gemacht wurden, durchaus als Erfahrungsgrundlage für heutige Ausbildungen gelten können."
    Isabelle Lehn, Sascha Macht, Katja Stopka: "Schreiben lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur 'Johannes R. Becher'", Wallstein Verlag, Göttingen. 600 Seiten, 34,90 Euro.