Archiv


Lehren aus der Vergangenheit

Strahlenforschung. - Der Vergleich zwischen Fukushima und Tschernobyl ist alles andere als einfach, auch und gerade mit Blick auf das Wasser - das wichtigste Lebensmittel. Mitte Mitte März alarmierten Meldungen über belastetes Trinkwasser die Bürger von Tokio und einigen anderen Städten: Während die Grenzwerte für Erwachsene nicht überschritten wurden, war der Gehalt an radioaktivem Jod für Säuglinge und Kleinkinder zu hoch.

Von Dagmar Röhrlich |
    In Tschernobyl sind zehnmal mehr radioaktives Jod und dreimal mehr radioaktives Cäsium in die Umwelt gelangt als in Fukushima - so die Zwischenbilanz. Und während 1986 durch den heißen Graphitbrand ein Kamineffekt die Radionuklide aus großer Höhe über halb Europa verteilte, war in Fukushima der Wind gnädig und trieb in den besonders schlimmen ersten Tagen einen großen Teil der Stoffe aufs Meer hinaus. Allerdings nicht an allen Tagen:

    "Wir haben nach der Erfahrung in Tschernobyl unsere Kollegen schon am ersten Tag gewarnt, dass sie schneller Radiojod und Cäsium im Trinkwasser in Tokio finden werden, als sie glauben","

    erklärt Herwig Paretzke, Strahlenphysiker an der Technischen Universität München. Denn auf den Wind ist kein Verlass, und so zog die radioaktive Wolke auch übers Land - und damit auch über die Flüsse und Talsperren. Die wurden sofort durch Radionuklide kontaminiert - und so gelangten Jod-131 und Cäsium-137 ins Trinkwasser. Paretzke:

    ""Wenn dann mit einer 100 Kilometer langen Leitungen das Wasser irgendwohin, zum Beispiel nach Tokio, transportiert wird, hab ich mir selber aktiv die Radionuklide in ein wichtiges Nahrungsmittel, nämlich Wasser, transportiert und muss sehr aufpassen."

    Vor 25 Jahren war es in der Ukraine ganz ähnlich gewesen. Wenige Kilometer südlich von Tschernobyl fließt der Pripjat in den künstlich aufgestauten Dnjepr. Aus diesen Stauseen speist Kiew seinen Trinkwasserbedarf. Paretzke:

    "Wir hatten in Kiew zu frühen Zeiten schon über 1000 Becquerel Jod im Trinkwasser festgestellt, bevor die erste Wolke sich nach Süden von Tschernobyl wendete. Die primären Emissionen waren nach Norden. Es waren in Finnland und Schweden Kontaminationen angekommen, wo in der Stadt Kiew noch sehr wenig los war. Aber trotzdem, durch diese oberflächlichen Speicher, wurde das Trinkwasser der Stadt Kiew, die 150 km von Tschernobyl entfernt ist, sehr stark kontaminiert, nämlich über das Trinkwasser."

    Die Folge: Auch bei den Bewohnern von Kiew waren die Jodkonzentrationen in der Schilddrüse erhöht - durch das unverzichtbare Lebensmittel Trinkwasser. Auch Cäsium-137 kam über den Wasserhahn:

    "Cäsium hat zwar eine physikalische Halbwertszeit von etwa 30 Jahren, aber im Menschen wird es mit einer Halbwertszeit von etwa 90 Tagen oder 100 Tagen wieder ausgeschieden. Beim Jod-131 ist das anders. Jod hat eine physikalische Halbwertzeit von acht Tagen und eine biologische Halbwertzeit von etwa 90 Tagen in der Schilddrüse."

    Obwohl beide gleich lange im Körper bleiben, ist das Radiojod noch gefährlicher: Es sammelt sich in der Schilddrüse an und bestrahlt sie sozusagen konzentriert, so dass leicht Schilddrüsenkrebs entstehen kann. Während in Fukushima radioaktives Jod und Cäsium die Hauptrolle spielen, kam in Tschernobyl noch Strontium-90 hinzu:

    "Das Strontium ist in der ersten Explosion in den Pripjat-Sümpfen gelandet. Und dort hat es lange relativ ruhig gelegen, weil es an Partikel gebunden war, die aus Brennstoff bestanden, also zusammen mit Uran, Plutonium und Strontium. Diese Brennstoffteilchen sind im Lauf der Jahre korrodiert und haben für eine zunehmende Mobilisierung des Strontium gesorgt."

    Und so werden heute in den Trinkwasserstauseen am Dnjepr nicht nur erhöhte Werte von Cäsium-137, sondern auch von Strontium-90 gemessen, erklärt Strahlenökologe Rolf Michel von der Leibniz-Universität Hannover. Für die Menschen, die aus dem Dnjepr ihr Trinkwasser beziehen, bestehe derzeit jedoch keine Gesundheitsgefahr. Auch in Fukushima wird in den Flüssen und Seen das Cäsium-137 bleiben, wenn das Radiojod längst zerfallen sein wird. Michel:

    "Das Cäsium wird nicht so ein großes Problem sein, weil sich das in den Flüssen eher an Partikeln ablagert, in die Sedimente geht, so dass wir da nicht ganz so kritisch sind wie bei den Strahlenexpositionen durch Jod."

    Denn auch das ist eine Lehre von Tschernobyl: Wäre durch schnelle Aufklärung verhindert worden, dass die Menschen Jod-131 aufnehmen, wäre die Krebsrate sehr viel niedriger ausgefallen.

    Zur Übersichtsseite der Sendereihe "Strahlendes Erbe"

    Zum Portal "Katastrophen in Japan"