Archiv

Lehrerausbildung
Schule statt Hörsaal

Die Lehrerausbildung steht immer wieder in der Kritik: zu viel Theorie, zu wenig Praxis, kein bundesweit einheitliches System. Nordrhein-Westfalen hat zum neuen Schuljahr ein sogenanntes Praxissemester eingeführt. Die Studierenden tauschen für fünf Monate den Hörsaal gegen das Klassenzimmer, um frühzeitig Praxiserfahrung zu bekommen.

Von Stephanie Kowalewski |
    Eine Schulklasse aus der Vogelperspektive. Schüler sitzen an Zweiertischen, vorne sind die Tafel und die Lehrerin zu sehen.
    Lehramtsstudenten in NRW bekommen jetzt durch ein Praxissemester frühzeitig praktische Einblicke in den Schulalltag. (dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte)
    Lehramtsstudent Danny Neumann gehört zu den ersten Absolventen des neu eingeführten Praxissemesters: "Ich muss sagen, es ist echt schön, wieder in der Realität angekommen zu sein und zu merken, wofür man eigentlich arbeitet." Seit drei Tagen ist Danny Neumann, angehender Lehrer für Musik und Physik, nun am Mädchengymnasium Essen-Borbeck. Ziemlich selbstbewusst bewegt sich der 22-Jährige im Lehrerzimmer: "Ist einfach schön, wenn man nicht mehr nur 'graue Theorie' macht, sondern selber auch was macht. Ich fühle mich auch sehr herzlich aufgenommen bisher."
    Konferenzen und Korrekturen: Alle Bereiche des Schulalltags kennenlernen
    So geht es auch den anderen drei Lehramtstudierenden, die nun für fünf Monante an dieser Schule sein werden. Sie sind die ersten angehenden Lehrer in NRW, die während ihres Masterstudiums solch ein Praxissemester machen. Lisa Kamperdicks, die an der Uni Dusiburg-Essen Mathe und Englisch studiert, hofft dadurch einen intensiven Einblick in möglichst alle Bereiche des Schulalltags zu bekommen: "Nicht nur den Unterricht, sondern auch Lehrerkonferenzen, Korrekturen, vielleicht Ausflüge, Klassenfahrten, Elternsprechtage."
    Alles Dinge, die bisher erst nach dem Studium - im Referendariat - auf dem Stundenplan stehen, und die dann nicht selten zum Praxisschock bei den frisch gebackenen Lehrern führen. Den will die NRW-Landesregierung durch das neue Instrument in der Leherausbildung möglichst verhindern. Eine gute und überfällige Idee, findet Joachim Kurda, Schulleiter des Essener Mädchengymnasiums: "Ich finde das gut, dass man mal frisches Blut von der Uni an die Schule kiegt. Aber wir sind ja jetzt ganz neu in der Sache drin. Wir wissen gar nicht, was auf uns zukommt, wieviel Aufwand das ist. Also viel ist uns nicht an die Hand gegeben worden. Wir sind auf uns selbst gestellt."
    Schulen sehr offen gegenüber den neuen Praktikanten
    "Ist doch super", meint Michael Saxl. Er unterrichtet an der Schule Philosophie und Englisch und betreut zusätzlich ab jetzt die vier neuen Praktikanten: "Zum Glück können wir das schulintern ziemlich frei regeln. Es wird sich natürlich zeigen, wie intensiv der Gesprächsbedarf ist. Die Idee ist natürlich, dass wir jeden Tag Kontakt haben."
    "Klar bedeutet das mehr Arbeit", sagt Saxl. Aber er freut sich drauf und fragt gleich mal bei Danny Neumann nach, wie es für ihn im Musikunterricht so war: "Das Musikprojekt gestern, das lief?" – Neumann: "Das lief sehr gut. Ich hab sofort mit denen zwei Stunden Instrumentalunterricht gemacht. Hat überraschend sehr gut geklappt." Saxl: "Schön!"
    Auch für Lisa Kamperdicks geht's jetzt los, und zwar im Matheunterricht bei Claudia Wolf. Bei ihr wird sich die 22-Jährige in den kommenden Monaten am Unterricht in der sechsten Klasse beteiligen. Jetzt lernt sie erstmals die Schüler kennen. Wolf: "So, guten Morgen." – Klasse: "Guten Morgen, Frau Wolf." – Wolf: "Wir haben heute Besuch: Frau Kamperdicks. Und Frau Kamperdicks wird sich jetzt am liebsten mal selber vorstellen." – Kamperdicks: "Guten Morgen auch von mir. Ich bin Frau Kamperdicks, wie ihr gehört habt. Ich studiere eigentlich noch an der Uni, aber ich bin bis zu den Sommerferien bei euch."
    "Der Praxisschock wird ein bisschen vermieden"
    Die Mädchen sind neugierig, wollen wissen, wie alt Lisa ist, ob sie auch mal Unterrichten wird. Wird sie, aber das ist nicht – wie im Referendariat – das oberste Ziel des Praxissemesters, erklärt Danny Neumann: "Es geht zwar auch um Unterrichten, aber es ist eben kein eigenverantwortlicher Unterricht. Wir haben keinen Druck, dass wir irgendwas selbstständig durchziehen müssen, sondern werden da immer unterstützt von allen Seiten, hoffentlich. Ich glaube, der Praxisschock wird nicht nach vorne verlegt, sondern tatsächlich ein bisschen vermieden."
    Davon geht auch Schulleiter Joachim Kurda aus. Mit dem Praxissemster stehe NRW im bundesdeutschen Vergleich ziemlich gut da, sagt er, und hat doch einen gewichtigen Kritikpunkt: "In NRW ist die Referendarzeit von zwei auf eineinhalb Jahre gekürzt worden, und wenn das Praxissemester das kompensieren sollte, finde ich das nicht so gut."
    NRW als Vorreiter – Kritik an verkürztem Referendariat
    Auch die Praktikanten hätten lieber wieder ein zweijähriges Referendariat. Doch das ist noch weit weg. Jetzt warten ziemlich stressige fünf Monate auf sie: kleine Forschungsarbeiten und Unterrichtseinheiten in der Schule, Seminartage an der Uni, und eine Hausarbeit aus dem letzten Semester muss auch noch geschrieben werden. Doch die Arbeit lohnt sich, meinen sie: "Wird natürlich eigermaßen schwierig zu koordienieren sein, aber richtig ist es auf jeden Fall." – "Ich denke, NRW ist Vorreiter. Ich weiß, in Hessen gibt es zwar auch ein Orientierungspraktikum, aber eben kein Praxissemester. Da sind wir schon einen Schritt weiter."