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Lehrerin Julia Wöllenstein
"Keine Religion gehört in meinen Augen in die Schule"

Die Lehrerin Julia Wöllenstein macht in ihrem Buch "Von Kartoffeln und Kanaken" Vorschläge, wie Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule besser integriert werden können. Dazu gehört für sie unter anderem die Abschaffung des Religionsunterrichts. "Wir müssen dringend säkularisieren", sagte sie im Dlf.

Julia Wöllenstein im Gespräch mit Manfred Götzke |
Eine Klasse beim Schulunterricht, die Tische stehen in Zweierreihen, im Hintergrund der Lehrer vor der Tafel, im Vordergrund ein Mädchen mit Kopftuch, das sich meldet.
Die Autorin Julia Wöllenstein hat im Dlf die Verstaatlichung des Bildungssystems gefordert (Imago stock&people, Gerhard Leber)
Manfred Götzke: Dass es nicht immer glatt läuft in punkto Integration in der Schule ist ja nicht so ganz neu. Vor allem wenn in Brennpunktschulen auf wenige deutsche Kinder aus Akademikerhaushalten viele Migranten- und Flüchtlingskinder mit schlechten Deutschkenntnissen treffen. Die Politik versucht das auch immer mal wieder zu regeln, mit Talentförderung, mehr Sozialarbeitern und zusätzlichen Lehrkräften.
Reicht aber alles nicht, sagt die Kasseler Gesamtschullehrerin Julia Wöllenstein. Sie findet: Die Integration im Klassenzimmer ist gescheitert und hat ein Buch über die Gründe dafür geschrieben. "Von Kartoffeln und Kanaken" hat sie es genannt. Ein Buch, das viele Probleme nennt – aber auch ein paar Lösungsvorschläge.
Frau Wöllenstein, "Von Kartoffeln und Kanaken" haben sie ihr Buch genannt, wollen sei gleichzeitig die deutschen und die ausländischen Kinder beleidigen?
Julia Wöllenstein: Ganz im Gegenteil. Also ich habe sehr für diesen Titel gekämpft, weil es mir ganz, ganz wichtig war, dass beide Kulturen da drauf stehen auf diesem Buch, und habe im Verlag natürlich auch so einige Ressentiments gehört darüber, dass es ja ein extrem rassistischer Titel wäre und so weiter.
Ich halte leider nichts davon, immer Puderzucker auf irgendwas draufzustreuen und danach zu behaupten, dass es jetzt viel besser schmeckt, wie wir das im Moment ja tun. Also diese Political Correctness führt ja irgendwie dazu, dass aus Brennpunktschulen irgendwann Schulen in bildungsfernen Einzugsgebieten wurden und jetzt sind es Schulen mit besonderen Herausforderungen – ja, bleibt aber das Gleiche drin. Und genauso leben wir eben auch in Schulen. Also die Schüler reden so, was sollen wir denn machen? Also nur, weil wir es nicht aussprechen, wird es ja nicht weniger wahr.
Götzke: Ein gutes Vorbild sein vielleicht?
Wöllenstein: Genau, darum geht es ja in meinem Buch, ein gutes Vorbild sein.
Wöllenstein: Es geht mir darum, Vorurteile aufzubrechen
Götzke: Ja, aber wenn Sie halt diese Vorurteile bestätigen und irgendwie das widerspiegeln, was die Schüler sagen, sind Sie ja vielleicht gar kein gutes Vorbild.
Wöllenstein: Dann wäre es ja so, dass man sagt, also ein Buch reduziert man auf seinen Titel. Also ein Buch muss man schon lesen, um zu wissen, ob jemand Vorurteile widerspiegelt oder eben nicht. Mir geht es ja genau darum, Vorurteile aufzubrechen, weil ich glaube, dass wir uns gerade ganz, ganz schwertun, Kultur und Religion zu trennen heutzutage in Deutschland, und vor allem muslimischen Menschen damit großes Unrecht tun.
Also viele muslimische Menschen sind hier sehr gut integriert und werden auf einmal in einen Topf geworfen mit Muslimen, die aus anderen Ländern zuziehen oder einfach ihren Glauben noch in viel strengeren Formen ausleben. Und das darf nicht passieren, wir müssen sehr gut differenzieren, das ist ganz wichtig.
Götzke: Das ist ja auch das Problem, das Sie in Ihrem Buch ansprechen. Gehört der Islam vielleicht zu Deutschland, aber nicht in die Schule?
Wöllenstein: Keine Religion gehört in meinen Augen in die Schule und das sage ich ganz bewusst als Religionslehrerin, nachdem ich mich jetzt eingehend damit beschäftigt habe. Ja, ich glaube, das ist der Zahn der Zeit. Also wir müssen säkularisieren, ganz dringend.
"Wir haben einen ganz großen Anteil daran, wie es im Moment in Deutschland läuft"
Götzke: Das wird ja in Frankreich schon seit Jahrzehnten gemacht, aber dort hat man ja nicht weniger Probleme mit der Integration, also weder in der Schule noch in der Gesellschaft.
Wöllenstein: Ja, ich glaube, dass Frankreich noch mal zeigt, wo es hinführt, wenn neben der Säkularisierung der Schulen eben nicht ganz, ganz dringend auch gesellschaftliches Umdenken passiert auf ganz breiter Basis und vor allem auch politische Maßnahmen ergriffen werden, um zum Beispiel ghettoisierte Wohngebiete aufzubrechen. Also das ist ja wirklich ein gesamtgesellschaftliches Problem, was ich anspreche. Und so lange quasi die Mehrheitsgesellschaft nicht umdenkt und Parallelwelten zulässt, wird sich das Problem weiter verschärfen, egal, ob wir in Schulen stärker säkularisieren oder nicht, weil eine Parallelwelt immer dann entsteht, wenn eine Mehrheitsgesellschaft das auch zulässt, also das dürfen wir nicht vergessen.
Wir haben einen ganz großen Anteil daran, wie es im Moment in Deutschland läuft. Und wenn wir einen Blick nach Frankreich tun, sehen wir, was passieren wird, wenn wir da nicht auch ein bisschen unemotionaler werden in dieser Diskussion, also ich denke, da ist auch irgendwie … diese ganze Emotionalität tut uns da auch nicht gut, das jetzt wirklich auseinanderzudividieren. Und was in Frankreich passiert, ist eben, dann werden eben muslimische Schulen eingerichtet, und dort entstehen ja jetzt auch wirkliche Brennpunkte, wo es wirklich auch gefährlich wird. Und deshalb plädiere ich ja auch sehr für eine absolute Verstaatlichung des Bildungssystems und für die Abschaffung der Unterstufengymnasien.
Götzke: Dann schauen wir jetzt noch mal ganz konkret auf die Schule, auf Ihren Bereich. Sie zielen ja vor allem, wenn Sie bestimmte islamische Traditionen kritisieren, patriarchalische Strukturen und einen Söhnchen-Kult. Wo spiegelt sich dieser Söhnchen-Kult bei Ihnen im Unterricht in der Schule wider?
Wöllenstein: Na ja, da geht es dann darum, dass wir durchaus merken, dass Jungen, die in Familien aufwachsen, in denen sie als Jungen schon mal anders behandelt werden als Mädchen, das Gefühl haben, dass das auch in der Schule fortgesetzt werden sollte – was ganz normal ist für Kinder. Sie tragen das in unsere Schulen hinein, was sie gewohnt sind. Und insofern gliedern die sich natürlich nicht so ohne Weiteres ein in so ein Klassengefüge. Eine Klasse ist immer eine Gruppe aus Kindern, wo jeder sich irgendwie so ein bisschen zurücknehmen muss. Und wenn man das nicht gelernt hat, dann wird es eben schwierig.
"Wir müssen ganz klare Regeln durchsetzen"
Götzke: Was können Sie als Lehrerin, was kann Schule da tun?
Wöllenstein: Na ja, wir müssen ganz klare Regeln durchsetzen, aber das wird dann eben immer schwerer, wenn wir merken, dass ein Schüler zum Beispiel gar nicht läuft, ständig aufsteht, reinquatscht und so weiter, und inzwischen wir offiziell ihm noch nicht mal fünf Minuten Auszeit vor der Tür geben dürfen, weil es dann eine Aufsichtspflichtverletzung ist von unserer Seite aus. Also ich kenne das auch noch aus meiner Schulzeit früher, es waren zwar nicht viele, aber ab und zu wurde mal einer vor die Tür geschickt für ein paar Minuten. Darf man inzwischen nicht mehr, weil man dann seine Aufsichtspflicht verletzt.
"Wir müssen diese Kinder ganz klar führen"
Götzke: Also Sie wollen wieder strenger werden dürfen?
Wöllenstein: Ja. Hört sich blöd an, denken Sie nicht, dass ich irgendwelche Schüler schlagen möchte oder sonst was, das ist ja das ganze Gegenteil von dem, was ich möchte, aber ich glaube, dass wir Kindern auch im Allgemeinen nicht gut tun mit vielem Gequatsche und Gerede, was wir machen und versuchen, Verständnis zu bekommen – da verlieren wir sehr viel Zeit auch im Unterricht natürlich.
Manchmal ist es besser, jemanden fünf Minuten vor die Tür zu schicken und dann wieder reinzuholen, als im Unterricht mit 24 Schülern, die anwesend sind, zu versuchen, da irgendwie an den Verstand zu plädieren, sage ich jetzt mal. Das sind so Fragen, wo Lehrer dann ganz gerne so dargestellt werden, als wollten sie jetzt hier wieder den Rohrstock auspacken: Darum geht es überhaupt nicht. Es geht wirklich darum, zu sagen, wir müssen diese Kinder ganz klar führen, weil die natürlich einen ganz schwierigen Spagat machen müssen. Das ist schwierig für ein Kind, wenn das Elternhaus ganz anders erzieht, als quasi in der Schule dann erzogen wird, sage ich jetzt mal. Wir erziehen ja auch.
Götzke: Ja. Sie kritisieren ja nicht nur, sondern Sie haben ja auch ganz gezielte Forderungen und Vorschläge, ein paar haben Sie schon genannt, Abschaffung von Religion in der Schule, mehr soziale Durchmischung in den Vierteln, sehr, sehr schwierige Aufgabe, und dann sagen Sie, das haben Sie auch schon angedeutet, Gesamtschule bis zur neunten Klasse.
Wöllenstein: Genau.
"Das sind versteckte rassistische Strukturen in unserer Gesellschaft"
Götzke: Das gab es ja auch alles schon mal, wollte die Politik nie.
Wöllenstein: Ja, wollte es die Politik nicht oder wollte es die Mehrheitsgesellschaft nicht? Das ist immer die große Frage, die man sich stellt, weil das, was ja im Moment passiert, ist so, dass die Menschen der Mehrheitsgesellschaft, die unser Schulsystem verstanden haben, sich kleine Inseln schaffen mit besonderen Grundschulen in Einzugsgebieten, wo eben wenig Kinder mit Migrationshintergrund sind, die dann vermehrt angewählt werden von der Mehrheitsgesellschaft. Und dann entstehen eben Schulen, wo fast kein deutsches Kind mehr ist sozusagen, und dann zeigt man mit dem Finger drauf und sagt, oh, was geht denn da schief? Genau das Gleiche passiert dann, wenn wir in der vierten Klasse quasi oder in Berlin nach der sechsten Klasse die nächste Schule anwählen, weil wir eben Unterstufengymnasien haben, wo sich ja nicht unbedingt inzwischen die Kinder sammeln, die potenziell das Potenzial zum Abitur haben, sondern in erster Linie die Kinder, deren Eltern quasi wissen, wie es hier läuft, sage ich jetzt mal, und ihr Kind dann eben aufs Gymnasium anmelden, weil sie denken, na ja, dann mischt es sich eben nicht mit Kindern mit Migrationshintergrund oder eben auch mit Kindern, die inkludiert werden sollen. Um Inklusion geht es ja nur am Rande, aber da ist es das gleiche Schema. Das sind versteckte rassistische Strukturen in unserer Gesellschaft, die uns oftmals aber gar nicht so bewusst sind.
Wöllenstein: Die Menschen der Mehrheitsgesellschaft sind Teil des Problems
Götzke: Da muss der Staat dann aus Ihrer Sicht klarer eingreifen und so was wie Schulbezirkswahl verbieten?
Wöllenstein: Ach, ja, wissen Sie, ich bin da ja jetzt irgendwie in so eine Situation reingekommen, ich hätte ja niemals gedacht, dass dieses Buch so viele Menschen lesen. Ich habe mir da wirklich einfach mal Gedanken drüber gemacht, was man tun müsste, und also ich meine, da mag man jetzt sagen, wer ist die Frau, hat die einen Knall oder was, was die hier für Forderungen stellt, ich denke tatsächlich aber, das wäre eine Maßnahme und das wäre eine Möglichkeit. Es wird niemals passieren. Ich glaube inzwischen fast, meine Hoffnung ist einfach, dass die Menschen der Mehrheitsgesellschaft merken, dass sie Teil des Problems sind, also dass ihre Art, politisch oder …
Wir treffen politische Entscheidungen. Die Schulwahl meines Kindes ist eine politische Entscheidung. Damit wähle ich mit meinen Füßen. Und danach dann mit dem Finger auf Gesamtschulen zu zeigen und zu sagen, hm, was geht denn da ab, wieso läuft es denn da nicht, das finde ich scheinheilig. Also insofern – na klar würde ich mir wünschen, wenn die Politik da irgendwie Handlungsmöglichkeiten hätte, die Bildung gerechter machen würde. Ich bin da aber natürlich auch nicht naiv und weiß ganz genau, wie oft es schon versucht wurde, die Unterstufengymnasien abzuschaffen, genau aus diesen Gründen, es hat nie geklappt, wie oft es versucht wurde, den Religionsunterricht abzuschaffen, hat auch nie geklappt. Also das sind ja alles keine neuen Forderungen, die ich da stelle.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.