Kinder haben ein Recht auf Bildung, doch für viele Schulen ist es inzwischen sehr schwierig, ihrem Auftrag nachzukommen. Laut dem Mitte Juni vorgestellten Nationalen Bildungsbericht 2024 arbeite das System „am Anschlag“. Fast überall herrscht Lehrermangel, viele Stunden fallen einfach aus, die Unterrichtsqualität leidet. Wie groß das Problem ist und was dagegen getan werden könnte - ein Überblick.
Inhalt
- Wie viele Lehrkräfte fehlen in Deutschland?
- In welchen Fächern und Schulen fehlen die meisten Lehrer?
- Was wird bereits gegen den Lehrermangel getan?
- Woran scheitern grundlegende Reformen im Bildungsbereich?
- Welche Vorschläge und Forderungen gibt es, um die personelle Situation an den Schulen zu verbessern?
Wie viele Lehrkräfte fehlen in Deutschland?
Wie viele Lehrkräfte tatsächlich in Deutschland fehlen, weiß niemand genau. Sicher ist nur: Es sind viele. Nach Schätzungen der Kultusministerkonferenz (KMK) müsste es bis 2025 rund 25.000 Lehrkräfte mehr geben, als derzeit im Einsatz sind. 2030 könnten demnach bereits 31.000 Lehrkräfte fehlen. Andere Prognosen sind noch deutlich pessimistischer: Der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm geht von einer Lücke von 85.000 Lehrkräften bis zum Jahr 2035 aus. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hält die Berechnungen von Klemm für deutlich belastbarer als die KMK-Prognose.
In welchen Fächern und Schulen fehlen die meisten Lehrer?
Nicht in allen Unterrichtsfächern fehlen Lehrerinnen und Lehrer. Ein besonderer Bedarf an ausgebildeten Lehrkräften bestehe vor allem in Mathematik, Chemie, Physik, Musik und Kunst, stellte die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz Ende Januar 2023 in einer Untersuchung fest.
Differenzierte Daten für die Lücke bei den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) liegen laut der Kommission für Nordrhein-Westfalen vor. Diese Daten machten die „prekäre Lage“ besonders deutlich, schreiben die Bildungsforscherinnen und -forscher. Demnach wird in NRW bis 2030/31 der Lehrkräftebedarf in Biologie nur zu knapp 40 Prozent, in Mathematik zu 37 Prozent, in Chemie zu 26 Prozent, in Physik zu 18 Prozent und in Informatik noch nicht einmal zu fünf Prozent gedeckt werden können.
Entlastung durch die demografische Entwicklung
Ungefähr die Hälfte des nicht gedeckten Lehrkräftebedarfs bis 2025 entsteht der Kommission zufolge im sogenannten Sekundarbereich I – das sind beispielsweise Haupt- und Realschule sowie die Klassen 5 bis 9 beziehungsweise 10 an Gesamtschulen und Gymnasien. Kritisch sei die Situation aber auch an den Grundschulen und im Sekundarbereich II in den beruflichen Fächern beziehungsweise an den Berufsschulen.
Für einige Fächer an den Gymnasien gibt es hingegen noch immer mehr Lehrerinnen und Lehrer als Stellen. Und auch an den Grundschulen könnte sich die Lage einer neuen Untersuchung zufolge künftig wieder entspannen. Eine Schätzung von Bildungsexperten im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung vom Januar 2024 geht davon aus, dass es bald mehr Grundschullehrerinnen und -lehrer gibt als Stellen. Hintergrund sei unter anderem eine Trendwende bei der demografischen Entwicklung, heißt es. So wurden zuletzt weniger Kinder geboren als noch bis 2021.
Was wird bereits gegen den Lehrermangel getan?
Bildung ist in Deutschland Ländersache – dementsprechend gibt es keine konzertierte Aktion, um den Lehrermangel insgesamt zu bekämpfen. Jedes Bundesland geht mit dem Problem auf seine Weise um.
So hat Sachsen-Anhalt ein kostenintensives Headhunter-Projekt initiiert, um weltweit Lehrkräfte anzuwerben. Mecklenburg-Vorpommern lockt Lehrkräfte mit einer Prämie: Vier Jahre lang gibt es für das Unterrichten im ländlichen Raum monatlich 424 Euro zusätzlich. Das Angebot gilt für Lehrerinnen und Lehrer mit den Fächern Mathematik, Informatik, Biologie, Chemie und Physik. Auch Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt setzen auf ähnliche Programme.
Brandenburg vergibt Landlehrer-Stipendien und will für weniger Zugangshürden sorgen: Eine Verbeamtung soll bereits mit einem Bachelorabschluss und nur einem Unterrichtsfach möglich sein. In Bayern können neue Lehrkräfte in weniger attraktiven Regionen eine Regionalprämie von einmalig 3.000 Euro bekommen.
Vier-Tage-Woche - jetzt auch an Schulen
Mehrere Länder – etwa Sachsen und Nordrhein-Westfalen – wollen zudem restriktiver bei der Gewährung von Teilzeitanträgen sein. Sachsen-Anhalt hat die „Vorgriffsstunde“ für fünf Jahre eingeführt. Das Konzept sieht vor, dass Lehrkräfte jede Woche eine zusätzliche Unterrichtsstunde erteilen müssen, die auf einem Ausgleichskonto gutgeschrieben oder ausbezahlt werden kann. In dem Bundesland wird zudem die Vier-Tage-Woche an Schulen erprobt: Der fünfte Tag wird mit selbstorganisierter Projektarbeit und Arbeitsaufträgen gefüllt.
Neben all diesen Maßnahmen wird kräftig geworben. Die brandenburgische Landesregierung setzt dafür auf digitale Kanäle und Kooperationen mit Influencern. Baden-Württemberg wiederum suchte nach besonderer Aufmerksamkeit für seine Anwerbungskampagne und scheiterte: "Gar keinen Bock auf Arbeit morgen?" hieß es auf einem Plakat. Die Lösung für das Problem stand auch dabei: "Mach was Dir Spaß macht und werde Lehrer*in." Nach Protesten wurde der Slogan geändert.
Woran scheitern grundlegende Reformen im Bildungsbereich?
Dafür gibt es einige Gründe, der wichtigste aber ist: Bildung ist Ländersache. Jedes Bundesland geht hier seinen eigenen Weg. Die Folge: viele unterschiedliche Strategien, um ein und dasselbe Problem zu lösen. Ein von der Union geführtes Bundesland hat naturgemäß andere bildungspolitische Vorstellungen als beispielsweise eine rot-grüne Landesregierung.
Ernsthafte Versuche, das zu ändern und eine bundesweite Schulpolitik zu etablieren, hat es bislang nicht gegeben. Neben der Polizei ist die Schulpolitik eines der letzten verbliebenen Politikfelder, bei denen sich die Länder vom Bund nicht hineinreden lassen müssen. Selbst innerhalb der einzelnen Bundesländer gibt es bei Reformen zumeist jede Menge Diskussionen – wie soll sich da eine Landesregierung mit 15 anderen einigen?
Der Bund ist nur Geldgeber
Der Bund tritt in diesem System höchstens als Geldgeber auf. So legte er beispielsweise 2019 ein milliardenschweres Förderprogramm zum technischen Ausbau der Schulen auf. Auch für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen gibt der Bund viel Geld. Zuletzt einigte er sich mit den Ländern auf das Startchancen-Programm. Bund und Länder wollen insgesamt 20 Milliarden Euro - über zehn Jahre verteilt - in die Unterstützung von rund 4000 Schulen in schwierigen sozialen Lagen stecken.
Welche Vorschläge und Forderungen gibt es, um die personelle Situation an den Schulen zu verbessern?
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hat gleich einen ganzen Strauß an Vorschlägen gemacht, um die personelle Situation an den Schulen zu verbessern. Dazu gehört zum Beispiel die „Erschließung von Beschäftigungsreserven“ durch Lehrkräfte, die später in Rente gehen sollen, und die „Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung“ – sprich, Lehrerinnen und Lehrer sollen mehr Stunden geben.
Außerdem schlägt die Kommission die erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und die Entlastung von Lehrkräften von Organisations- und Verwaltungsaufgaben vor. Gymnasiallehrerinnen und -lehrer sollen für andere Schulformen qualifiziert, Lehrkräfte in Mangelfächern nachqualifiziert werden.
Zu den Ideen der Kommission gehört auch die Weiterentwicklung von Modellen für Quer- und Seiteneinsteiger, die Entlastung von Lehrkräften durch Studierende und die Erhöhung der Klassenfrequenzen.
Weniger Unterrichtsqualität - will das jemand?
Viele dieser Vorschläge stoßen allerdings auf Kritik. Größere Klassen beispielsweise bedeuten in der Regel eine schlechtere Unterrichtsqualität: Das kann eigentlich niemand – allein schon vor dem Hintergrund der Pisa-Ergebnisse – wollen.
Zugleich wird momentan auch über die Qualifikation von Seiteneinsteigern debattiert, die oft keine vollwertige pädagogische Ausbildung mitbringen. Zwölf Prozent der 2023 neu eingestellten Lehrkräfte kamen aus dieser Gruppe führt der Nationale Bildungsbericht auf. Und mancherorts sind die Quereinsteiger inzwischen sogar die Regel und nicht mehr die Ausnahme: Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf hatten von den 94 zuletzt neu eingestellten Lehrerinnen und Lehrern nur 14 ein Lehramtsstudium beendet. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt wurden 2023 um die 50 Prozent Seiteneinsteiger eingestellt, in Bayern war es nur ein Prozent der Lehrkräfte.
Weniger Teilzeit, mehr Stunden
Nach den Zahlen des Nationalen Bildungsberichts 2024 ist nur etwas mehr als die Hälfte (52 Prozent) des pädagogischen Personals an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Vollzeit beschäftigt. Auch im internationalen Vergleich ist das eine hohe Anzahl an Teilzeitkräften. Demnach „könnte eine Erhöhung der Vollzeitquote zur Deckung eines Teils des ungedeckten Lehrkräftebedarfs beitragen“, heißt es in dem Papier der Bildungsforscher.
Ein gleichlautender Vorschlag der bereits erwähnten Ständigen Wissenschaftlichen Kommission war im vergangenen Jahr auf Kritik von Seiten der Lehrerverbände gestoßen. Ebenso wie der Vorstoß nach denen die Lehrkräfte mehr Stunden als bisher geben sollen. So bleibt der Lehrermangel ein komplexes Problem, dessen Lösung wohl dauern wird, zumal die Anzahl der Lehramtsstudenten sinkt.
Auch eine bessere schulische Betreuung der Kinder und Jugendlichen rückt in weite Ferne: Gewerkschaften und Lehrerverbände fordern seit Langem eine Unterrichtsversorgung von 110 statt 100 Prozent. Dann könnten auch Stunden sicher gegeben werden, wenn die eigentliche Lehrkraft ausfällt, und es wäre mehr Raum für die Entwicklung von Schul- und Unterrichtskonzepten und die individuelle Begleitung der Schülerinnen und Schüler vorhanden. Doch das ist bei der derzeitigen Personallage utopisch.
ahe