Der Krakauer Literaturwissenschaftler Jan Błoński brachte den Stein ins Rollen. 1987 konstatierte er in einer katholischen Wochenzeitung die Mitschuld seiner polnischen Landsleute am jüdischen Völkermord.
Wir sollten aufhören, die Schuld den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umständen zuzuschreiben, sondern zuerst sagen: Ja, wir sind schuld. Wir haben die Juden in unser Haus aufgenommen und ihnen dann befohlen, im Keller zu leben. Teilnahme und Mitschuld sind nicht dasselbe. Man kann mitschuldig sein, ohne an dem Verbrechen teilgenommen zu haben. In erster Linie durch Unterlassung oder ungenügende Gegenwehr.
Damit wurde erstmalig die Überzeugung der Polen, sie hätten den Juden wie keine andere Nation geholfen, ins Wanken gebracht. Verständlich, dass Błońskis Artikel einschlug wie eine Bombe und eine mit harten Bandagen geführte Diskussion nach sich zog.
Doch dies war nur eine von mittlerweile vier großen Debatten, die seitdem öffentlich unter unseren östlichen Nachbarn ausgetragen wurden, und die sich jedes Mal aufs Neue an der polnisch-jüdischen Vergangenheit entzündeten. Neben der unterlassenen Hilfeleistung, wie sie Błoński konstatierte, sind dies das kritikwürdige Verhalten der heroisierten polnischen Heimatarmee, die antijüdischen Pogrome während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der bis heute herrschende latente Antisemitismus in Polen.
Alles in allem: unbequeme Wahrheiten. Und so heißt auch das Buch, das Zeitungs- und Zeitschriftenartikel aus zwei Jahrzehnten zu diesen Themen präsentiert. Die Herausgeberinnen Barbara Engelking und Helga Hirsch fassen die Diskussionsbeiträge in vier Abschnitten thematisch zusammen und versehen sie mit erhellenden Einleitungen. Um die Debatten für alle Nicht-Polen nachvollziehbar zu machen, skizzieren sie zunächst das mehrheitlich herrschende polnische Selbstbild:
Das heute in Polen dominierende Selbstverständnis entstand im 19. Jahrhundert, als der Staat unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt war. Es sieht Polen aufgrund seines außergewöhnlichen Leidens als "Christus unter den Völkern".
Historische Fakten, die dieses überhöhte Selbstbild trüben könnten, werden ebenso aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wie die dunklen Seiten der menschlichen Seele.
Eine äußerst emotional geführte Debatte wurde um Auschwitz geführt. Das Konzentrationslager galt in Polen bis 1989 als Ort, an dem neben anderen Nationalitäten zwar auch Juden, vornehmlich aber katholische Polen umgebracht worden seien. Um daran zu erinnern, ließ eine Initiative bis Ende der 1990er Jahre rund 300 Kreuze in direkter Nähe zu Auschwitz-Birkenau aufstellen. Kritiker monierten, Auschwitz werde dadurch völlig ungerechtfertigter Weise zum katholisch-polnischen Friedhof deklariert. Andere hingegen pochten auf das Recht der Polen, an ihnen widerfahrenes Leid zu erinnern.
Aus der Anerkennung der Singularität des Holocaust folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass andere Völker unter deutscher Besatzung nicht ebenfalls auf außergewöhnliche Weise oder dass sie weniger schrecklich gelitten hätten.
Die bei weitem heftigsten Polemiken aber löst bis heute der polnisch-amerikanische Soziologe Jan Tomasz Gross aus. In den Jahren 2000 und 2008 veröffentlichte er zwei Bücher, die die Polen nicht mehr nur als passive Dulder des nationalsozialistischen Antisemitismus, sondern eine beträchtliche Anzahl von ihnen als aktive Antisemiten zeigten, was sich in einer Vielzahl von Pogromen geäußert hatte. Eines davon war das Massaker von Jedwabne im Juli 1941. Erstmalig wies Gross nach, dass es nicht Deutsche, sondern die katholische polnische Bevölkerung selbst es war, die ihre jüdischen Mitbürger an einem einzigen Tag zu Hunderten ermordete.
Die Reaktion des Historikers Marek Wierzbicki klingt nachgerade zynisch:
Professor Gross formuliert kategorische Thesen in Anlehnung an Quellen, die meines Erachtens unzulänglich und bruchstückhaft sind. Die Behauptung, die polnische Bevölkerung habe den Mord begangen, stützt sich auf einen oder zwei Berichte von Juden, die den Pogrom überlebten.
Die Journalisten Stanisław Janecki und Jerzy Sławomir Mac hingegen verfassen einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel "Unsere Schuld".
Die Polen sind nicht für den Holocaust, aber für das Schicksal der polnischen Juden während des Holocaust mitverantwortlich. Wir entschuldigen uns für diejenigen, für die die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne eine weitere Gelegenheit ist, antisemitische Phobien und Stereotype zu verbreiten, eine Gelegenheit, das Gewissen reinzuwaschen, die polnischen Vergehen gegen die Juden auf die Juden selbst zu schieben und den Holocaust zu negieren.
Unbequeme Wahrheiten - während die eine Seite um Aufklärung bemüht ist und Verantwortung übernehmen will, versucht die andere, Leid gegen Leid aufzuwiegen, mehr noch, ihre jüdischen Mitbürger als Konkurrenten im Leiden keinesfalls zu dulden. So zeichnet sich eine Polarisierung wenn nicht der polnischen Gesellschaft, so doch zumindest der Diskutanten ab, unabhängig von Alter und Profession. Dass Barbara Engelking und Helga Hirsch diese Diskussionen durch Sammlung und Übersetzung zugänglich gemacht haben, ist ein Gewinn. Sie verhelfen uns dadurch zu Einblicken in einen zwar in unserem Nachbarland geführten, jedoch allgemein wichtigen Diskurs über Schuld, Mitschuld, Eingeständnis und Sühne. Inwieweit er nachhaltige Folgen haben wird, darüber äußern sich die Herausgeberinnen jedoch eher resigniert:
Durch diese jeweils monatelang geführten Debatten hat das Wissen über das polnisch-jüdische Verhältnis in der polnischen Gesellschaft zwar deutlich zugenommen. Eine Abnahme des Antisemitismus resultierte daraus jedoch nicht.
Das Buch "Unbequeme Wahrheiten: Polen und sein Verhältnis zu den Juden" von Barbara Engelking und Helga Hirsch ist bei Suhrkamp erschienen. Es kostet 12 Euro und hat 309 Seiten. Sabine Weber hat es für uns rezensiert.
Wir sollten aufhören, die Schuld den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umständen zuzuschreiben, sondern zuerst sagen: Ja, wir sind schuld. Wir haben die Juden in unser Haus aufgenommen und ihnen dann befohlen, im Keller zu leben. Teilnahme und Mitschuld sind nicht dasselbe. Man kann mitschuldig sein, ohne an dem Verbrechen teilgenommen zu haben. In erster Linie durch Unterlassung oder ungenügende Gegenwehr.
Damit wurde erstmalig die Überzeugung der Polen, sie hätten den Juden wie keine andere Nation geholfen, ins Wanken gebracht. Verständlich, dass Błońskis Artikel einschlug wie eine Bombe und eine mit harten Bandagen geführte Diskussion nach sich zog.
Doch dies war nur eine von mittlerweile vier großen Debatten, die seitdem öffentlich unter unseren östlichen Nachbarn ausgetragen wurden, und die sich jedes Mal aufs Neue an der polnisch-jüdischen Vergangenheit entzündeten. Neben der unterlassenen Hilfeleistung, wie sie Błoński konstatierte, sind dies das kritikwürdige Verhalten der heroisierten polnischen Heimatarmee, die antijüdischen Pogrome während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der bis heute herrschende latente Antisemitismus in Polen.
Alles in allem: unbequeme Wahrheiten. Und so heißt auch das Buch, das Zeitungs- und Zeitschriftenartikel aus zwei Jahrzehnten zu diesen Themen präsentiert. Die Herausgeberinnen Barbara Engelking und Helga Hirsch fassen die Diskussionsbeiträge in vier Abschnitten thematisch zusammen und versehen sie mit erhellenden Einleitungen. Um die Debatten für alle Nicht-Polen nachvollziehbar zu machen, skizzieren sie zunächst das mehrheitlich herrschende polnische Selbstbild:
Das heute in Polen dominierende Selbstverständnis entstand im 19. Jahrhundert, als der Staat unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt war. Es sieht Polen aufgrund seines außergewöhnlichen Leidens als "Christus unter den Völkern".
Historische Fakten, die dieses überhöhte Selbstbild trüben könnten, werden ebenso aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wie die dunklen Seiten der menschlichen Seele.
Eine äußerst emotional geführte Debatte wurde um Auschwitz geführt. Das Konzentrationslager galt in Polen bis 1989 als Ort, an dem neben anderen Nationalitäten zwar auch Juden, vornehmlich aber katholische Polen umgebracht worden seien. Um daran zu erinnern, ließ eine Initiative bis Ende der 1990er Jahre rund 300 Kreuze in direkter Nähe zu Auschwitz-Birkenau aufstellen. Kritiker monierten, Auschwitz werde dadurch völlig ungerechtfertigter Weise zum katholisch-polnischen Friedhof deklariert. Andere hingegen pochten auf das Recht der Polen, an ihnen widerfahrenes Leid zu erinnern.
Aus der Anerkennung der Singularität des Holocaust folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass andere Völker unter deutscher Besatzung nicht ebenfalls auf außergewöhnliche Weise oder dass sie weniger schrecklich gelitten hätten.
Die bei weitem heftigsten Polemiken aber löst bis heute der polnisch-amerikanische Soziologe Jan Tomasz Gross aus. In den Jahren 2000 und 2008 veröffentlichte er zwei Bücher, die die Polen nicht mehr nur als passive Dulder des nationalsozialistischen Antisemitismus, sondern eine beträchtliche Anzahl von ihnen als aktive Antisemiten zeigten, was sich in einer Vielzahl von Pogromen geäußert hatte. Eines davon war das Massaker von Jedwabne im Juli 1941. Erstmalig wies Gross nach, dass es nicht Deutsche, sondern die katholische polnische Bevölkerung selbst es war, die ihre jüdischen Mitbürger an einem einzigen Tag zu Hunderten ermordete.
Die Reaktion des Historikers Marek Wierzbicki klingt nachgerade zynisch:
Professor Gross formuliert kategorische Thesen in Anlehnung an Quellen, die meines Erachtens unzulänglich und bruchstückhaft sind. Die Behauptung, die polnische Bevölkerung habe den Mord begangen, stützt sich auf einen oder zwei Berichte von Juden, die den Pogrom überlebten.
Die Journalisten Stanisław Janecki und Jerzy Sławomir Mac hingegen verfassen einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel "Unsere Schuld".
Die Polen sind nicht für den Holocaust, aber für das Schicksal der polnischen Juden während des Holocaust mitverantwortlich. Wir entschuldigen uns für diejenigen, für die die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne eine weitere Gelegenheit ist, antisemitische Phobien und Stereotype zu verbreiten, eine Gelegenheit, das Gewissen reinzuwaschen, die polnischen Vergehen gegen die Juden auf die Juden selbst zu schieben und den Holocaust zu negieren.
Unbequeme Wahrheiten - während die eine Seite um Aufklärung bemüht ist und Verantwortung übernehmen will, versucht die andere, Leid gegen Leid aufzuwiegen, mehr noch, ihre jüdischen Mitbürger als Konkurrenten im Leiden keinesfalls zu dulden. So zeichnet sich eine Polarisierung wenn nicht der polnischen Gesellschaft, so doch zumindest der Diskutanten ab, unabhängig von Alter und Profession. Dass Barbara Engelking und Helga Hirsch diese Diskussionen durch Sammlung und Übersetzung zugänglich gemacht haben, ist ein Gewinn. Sie verhelfen uns dadurch zu Einblicken in einen zwar in unserem Nachbarland geführten, jedoch allgemein wichtigen Diskurs über Schuld, Mitschuld, Eingeständnis und Sühne. Inwieweit er nachhaltige Folgen haben wird, darüber äußern sich die Herausgeberinnen jedoch eher resigniert:
Durch diese jeweils monatelang geführten Debatten hat das Wissen über das polnisch-jüdische Verhältnis in der polnischen Gesellschaft zwar deutlich zugenommen. Eine Abnahme des Antisemitismus resultierte daraus jedoch nicht.
Das Buch "Unbequeme Wahrheiten: Polen und sein Verhältnis zu den Juden" von Barbara Engelking und Helga Hirsch ist bei Suhrkamp erschienen. Es kostet 12 Euro und hat 309 Seiten. Sabine Weber hat es für uns rezensiert.