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Leidende Menschheit

City Lights Bookstore, 261 Columbus Avenue, San Francisco. Erste Anlaufstelle für die Boheme in den 50er und 60er Jahren: Jack Kerouac und Allen Ginsberg waren hier ebenso anzutreffen wie später Bob Dylan oder Michael McClure. 1953 hatten Peter D. Martin und Lawrence Ferlinghetti diesen damals ersten reinen Taschenbuchladen gegründet.

von Ulrich Rüdenauer |
    Kurz darauf kam Ferlinghettis berühmter Verlag City Lights Books hinzu, der sich ein Stockwerk höher im selben Gebäude befand und sich der Publikation der literarischen Avantgarde verschrieben hatte. Im Keller lungerte die Szene auf Sesseln und Sofas herum, las, trank oder hörte Musik. Der promovierte Literaturwissenschaftler und verheiratete Lawrence Ferlinghetti war mittendrin, ohne sich wirklich als Teil der Beats zu fühlen.

    Das erste Buch, das Ferlinghetti 1955 als Verleger veröffentlichte, war ein eigener Gedichtband: "Pictures of the Gone World" – "Bilder der vergangenen Zeit". Der Künstler, wie ihn Ferlinghetti mit diesen frühen Texten entwirft, ist einer, der sich nicht nur in der Wirklichkeit umschaut, sie beschreibt, sondern auch verändern möchte: Der Dichter soll sich einmischen, laut sein, Stellung beziehen, das politische Unbehagen, das er verspürt, für die Sprachlosen formulieren.

    Welche Wirkung Dichtung haben kann, erfährt Ferlinghetti bald darauf allzu deutlich: Der vierte Titel von City Lights Books führt zu seiner Verhaftung. Allen Ginsbergs "Howl", jenes sinnliche, aggressive, provozierende Langgedicht, ruft die Sittenwärter auf den Plan, und als Verleger muss sich Ferlinghetti für die ins Obszöne spielende Sprache der Ginsbergschen Lyrik verantworten.

    "Geheul" ist nicht nur ein gewaltiges Anschreien gegen die als Hölle empfundene amerikanische Gegenwart, sondern auch eine Art Manifest der Beat-Generation. Bei der mit Begeisterung aufgenommenen ersten Lesung von "Howl" in der Six Gallery im Jahr 1955 musste Ginsberg selber über das weinen, was er gerade vorgetragen hatte. Und Ferlinghetti sandte ihm noch am selben Abend ein Telegramm:

    ""Ich begrüße Dich am Beginn einer großen Karriere. Wann bekomme ich das Manuskript?"

    Wenig später, im Jahr 1958, sollte Ferlinghetti selbst einen Gedichtzyklus veröffentlichen, der – mit bizarren Schreckens-Bildern gespickt – ebenso wie "Howl" zu einem Meilenstein der amerikanischen Gegenwartslyrik wurde:

    "In Goyas besten Bildern scheinen wir
    die Menschen dieser Welt
    in jenem Augenblick zu sehen da
    Sie den Titel
    ‚leidende Menschheit’ erhielten
    Sie winden sich übers Blatt
    in einer wahren Raserei
    des Elends
    Zuhauf
    jammernd mit Babys und Bajonetten
    unter Zementhimmeln
    in einer abstrakten Landschaft aus verdorrten Bäumen
    krummen Statuen Fledermausflügeln und Schnäbeln
    glitschigen Galgen
    Leichen und fleischfressenden Hähnen
    und den brüllenden Endzeitmonstern
    der
    "Vision des Schreckens"
    sie sind so verdammt real
    als würden sie noch immer existieren
    Und sie tun es"

    "A Coney Island of the Mind" liegt nun in einer neuen Übersetzung von Klaus Berr auf Deutsch vor. Der Band enthält neben diesen legendären Gedichten die auch in der ersten Ausgabe erschienenen "Oral Messages", einige Texte aus "Pictures of the Gone World" sowie den 40 Jahre nach "A Coney Island of the Mind" entstandenen und an diesen thematisch und motivisch anknüpfenden Zyklus "A Far Rockaway of the Heart".

    Mit dem Bezug zu Goyas Bildern der "leidenden Menschheit" setzt Ferlinghettis "Coney Island des inneren Karussels" nicht umsonst ein: Die apokalyptischen Visionen werden in die amerikanische Gegenwart der 50er Jahre übertragen und erscheinen in dieser noch bedrohlicher. Der Zweite Weltkrieg ist erst wenige Jahre vergangen; die Angst vor der drohenden Vernichtung durch Atomwaffen bestimmt den Alltag; die ideologischen Verhärtungen werden stärker; der amerikanische Traum scheint für die geschlagene Generation weiter entfernt als für jede frühere. Die Glücksversprechen, die heute locken, kommen aus einer anderen Welt:

    "Es sind dieselben Leute
    nur weiter weg von zu Hause
    auf Autobahnen mit fünfzig Spuren
    auf einem betonierten Kontinent
    zerhackt von rüden Reklametafeln
    Illustrationen idiotischer Illusionen des Glücks"

    Ferlinghettis expressiver, zwischen Alltagssprache und pathetischer Phrasenhaftigkeit changierender Stil hat Vorbilder sowohl in der amerikanischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als auch im Surrealismus und Symbolismus. Er vermischt Traumsequenzen, wilde Assoziationen, Kalauer, Groteskes und Realitätsfragmente zu einer brodelnden Melange; die Einflüsse sind weit gefächert und reichen von André Breton bis zu William Carlos Williams. Ferlinghettis Lyrik ist selbstreflexiv, immer wieder thematisiert er Dichtung und referiert auf Lyriker und Maler. Der Titel "A Coney Island of the Mind" etwa stammt aus Henry Millers "Into the Night Life". Poetisches und Obszönes schließen sich hier nicht aus, sondern ergeben ein eigentümliches Stillleben seiner Gegenwart.

    Ferlinghetti inszeniert sich als Seher und Prophet, als Dichterschamane und Aufrüttler. Wie bei Ginsberg klingt auch bei Ferlinghetti das Whitmansche Erbe nach; der Zauber der Gegenständlichkeit und die Sehnsucht nach einem ursprünglichen, unverdorbenen Amerika grundieren die oftmals ins Theatralische und zugleich Banale tendierenden Texte. Das Unverdorbene soll sich direkt in der Unvermitteltheit der Gedichte, in ihrem Rhythmus, in ihrer Schnelligkeit und in ihrem unprätentiösen Gestus manifestieren.

    "Des Dichters öbszön sehendes Auge" – so beginnen diese Zeilen – kann die Obszönität der Welt nur um so besser beobachten, ihre Geheimnisse, verschütteten Schönheiten, die "Geisterstädte" und "Kriegsdienst-Nichtverweigerer", die "Las-Vegas-Jungfrauen" und "kinogeilen Matronen".

    Die Affinität dieser Lyrik zur Musik, zum Jazz vor allem, ist offensichtlich. Ferlinghetti trat häufig mit Jazz-Musikern auf, und die eben gehörte Aufnahme ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem Musiker Dana Colley, entstanden im Jahr 1999. Die Texte mit ihren Sprachspielen, Alliterationen, Assonanzen bilden selber Jazzstrukturen nach – und funktionieren von daher besser im englischen Original. Der rhythmische Sprechgesang, die staccatohaften Passagen sollten direkt auf den Zuhörer wirken: Nahezu alle Beat-Dichter hatten die romantische Vorstellung, dass sich der Atemrhythmus, der dem Gedicht zugrunde liegt, auf die Zuhörer übertragen würde. Das Schwärmen für Jazz- und später für Beat-Bands verwundert da nicht. Das spontane und doch transzendierte Konzept von der Sprache sollte sich im Fluss des Sounds erst entfalten. Die Sprache der Straße gehört da ganz wesentlich dazu:

    "Also
    es war so dass
    wir da reinschneien
    und zwei Katholiken-Schicksen
    legen einen Azteken-Two-Step hin
    Und ich sag
    Alter verschwinden wir
    doch dann kommt diese Dame weißte
    von hinten auf mich zu
    und sagt
    Du und ich das wär schon was
    Wow sage ich
    Nur am nächsten Tag
    hat sie schlechte Zähne
    und haßt nichts so sehr wie
    Gedichte"

    Die Übersetzung muss zwangsläufig hinter den musikalischen Ansprüchen der Gedichte zurückbleiben. Oftmals wirkt sie schwerfällig. Was an oberflächlichen und teilweise etwas trivialen Versen im Englischen durch Klang ausgeglichen werden kann, wirkt im Deutschen nicht selten raunend und aufgeladen. Hinzu kommen um Originalität bemühte Übertragungen: aus "supermarket suburbs" etwa werden "Supermarkt-Schlafstädte", aus "eager eagles" werden "adlige Adler", um die Alliteration zu bewahren. Eine bessere Lösung wäre es gewesen, die englischen Texte neben die Übersetzung zu stellen. Die Abteilung mit den "Oral Messages" – Ferlinghetti hat sie speziell für Jazzbegleitung geschrieben – sind dagegen ausschließlich im Original abgedruckt. Die Argumentation des Übersetzers: dem Gedanken der Mündlichkeit, Spontaneität und Veränderbarkeit würde ansonsten widersprochen. Das aber gilt für die gesamte Lyrik Ferlinghettis

    "Alles ändert sich und nichts ändert sich
    Jahrhunderte enden
    und alles geht weiter
    als würde nie etwas enden"

    So beginnt "A Far Rockaway Of The Heart", 40 Jahre nach "A Coney Island Of The Mind" entstanden – und dieses auch in den Schreckensvisionen fortsetzend. Es durchforstet persönliche, literarische und Weltgeschichte und verknüpft die verschiedenen Ebenen miteinander. Ferlinghettis Selbsteinschätzung, seine Lyrik habe sich nicht verändert, sondern nur vertieft, darf man bei der Lektüre dieses Spätwerks durchaus zustimmen. Mit der neuen Luchterhand-Ausgabe hat man die wichtigsten Werke des 1919 geborenen Autors in einem Band versammelt – mit einer zweisprachigen Ausgabe aber hätte man auch einen stimmigen Eindruck dieses Werks gewinnen können.

    Lawrence Ferlinghetti: "A Coney Island of the Mind", "A Far Rockaway of the Heart” (Luchterhand Literaturverlag).