Sympathisch ist sie wirklich nicht, diese Adèle. Wohlerzogen mag sie zwar daherkommen – als aparte Erscheinung, elegant gekleidet. Doch die bürgerliche Fassade trügt. Adèle hintergeht jeden, der ihr zu nahe kommt. Ihrem Chefredakteur schiebt die Journalistin frei erfundene Artikel über den Arabischen Frühling unter. Ihrer besten Freundin spannt Adèle die Verehrer aus. Und ihren eigenen Ehemann betrügt die 35-jährige Nymphomanin bei jeder Gelegenheit, die sich nur bietet. Die regelmäßig reuevoll gefassten Vorsätze zur Besserung scheitern jedes Mal erbärmlich:
"Ihr Verlangen lässt sie rückfällig werden. Der Damm ist gebrochen. Was nützt es da noch, sich weiter zusammenzureißen. Davon wird das Leben nicht besser. Ihre Logik ist jetzt die einer Opiumsüchtigen, einer Spielerin. Sie ist so zufrieden, der Versuchung ein paar Tage widerstanden zu haben, dass sie deren Gefahren längst vergessen hat."
Im narrativen Kreislauf einer Süchtigen
Von außen scheint es, als habe Adèle alles erreicht. Mit ihrem Mann, einem angesehenen Arzt, und ihrem kleinen Sohn lebt sie im schönen 18. Arrondissement von Paris, ganz in der Nähe vom Montmartre. Doch eine innere Leere drängt die berufstätige junge Mutter zu immer extremeren, immer gewalttätigeren und riskanteren Affären. Der endlose Kreislauf einer Süchtigen strukturiert Leïla Slimanis Roman: Ein paar Tage kann sich Adèle meist im Zaum halten, doch dann kapituliert sie ein ums andere Mal vor ihrem Verlangen, sie eskaliert und bereut nur wenig später. In stark raffendem, rasantem Tempo resümiert die Autorin dieses Suchtmuster oft mehr als dass sie erzählt. Dadurch entstehen zwar zwangsläufig erzählerische Redundanzen, zumal der Autorin in ihrem Debütroman mitunter noch der große Erzählbogen aus den Augen gerät. Es wird jedoch auch deutlich, dass Adèles Suchtverhalten ihr gesamtes Erwachsenenleben bestimmt hat. Auch ihr Sohn ist nur Ausdruck von Resignation:
"Sie hatte sich eingeredet, dass ein Kind sie heilen würde. Dass die Mutterschaft der einzige Ausweg aus ihrem Überdruss wäre, die einzige Lösung, um ihr die ewige Flucht nach vorn endgültig abzuschneiden. Sie hatte sich in die Schwangerschaft gestürzt, wie eine Patientin in eine zwingend erforderliche Behandlung einwilligt. Sie hatte dieses Kind gemacht oder besser, es wurde ihr gemacht, ohne dass sie Widerstand leistete, in der verrückten Hoffnung, es würde ihr Linderung bringen."
Zwischen Exzessverlangen und Liebesbedürftigkeit
In den stärksten Passagen dieses Romans schildert Leïla Slimani die Zerrissenheit einer Frau, die ein komfortables Leben führt und trotzdem niemals genug bekommen kann. Die komplexe, widerspruchsreiche Figur taumelt zwischen ihrem Verlangen nach Exzess und ihrem Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Liebe und Schutz. Das Leben, welches sie hat, verachtet Adèle einerseits und lebt doch andererseits in beständiger Angst, all das zu verlieren.
Die französische Tageszeitung Libération beschrieb Slimanis Romandebüt "All das zu verlieren" als Geschichte einer modernen Madame Bovary. Tatsächlich weist Adèle einige Parallelen zur weltberühmten Frauenfigur von Gustav Flaubert auf. Beide Arztgattinnen langweilen sich in ihren Ehen, interessieren sich kaum für ihre Kinder, stürzten sich in Affären und Schulden und träumen von einem glamouröseren Leben. Es gibt allerdings einen bedeutenden Unterschied zwischen Adèle und Emma Bovary: Adèle hat einen Beruf. Sie ist finanziell unabhängig und könnte ihren Ehemann jederzeit verlassen. Dass Adèle es nicht tut, dass sie ihre Ehe vielmehr nie zur Disposition stellt, weist bereits darauf hin, dass nicht die unglückliche Liebesbeziehung im Kern des Problems liegt, sondern Adèles gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität.
Eine moderne Madame Bovary?
Leïla Slimani entwirft mit Adèle nicht nur einen einzelnen literarischen Charakter. Die Figur ist auch Platzhalterin für Frauen einer ganzen Kultur. In Marokko, wo Slimani geboren wurde und aufwuchs, ist außerehelicher Sex gesetzlich verboten. In einer Schlüsselszene des Romans beschimpft ein alter Araber Adèle beim Besuch einer Table Dance Bar mit dem arabischen Wort für Schande. Dass die weibliche Hauptfigur ihres Erstlingswerkes krankhaft sexbesessen ist, hält die reflektierte Autorin Leïla Slimani keineswegs für einen Zufall. Ihrem dritten, ebenfalls bereits übersetzten Buch, dem Essay "Sex und Lügen" stellt sie einleitend eine biographische Deutung ihres Debütromans voran:
"Für jeden, der in einer Gesellschaft lebt oder aufgewachsen ist, in der es keinerlei Freiheit gibt, seine Gefühle auszuleben, wird Sex unweigerlich zur Obsession, zur permanenten Zwangsvorstellung. […] Ich würde sogar behaupten, es ist kein Zufall, dass gerade ich eine Figur wie Adèle erschaffen habe: eine frustrierte Frau, die lügt und ein Doppelleben führt. Eine Frau, die von Gewissensbissen und ihrer eigenen Unaufrichtigkeit zerfressen wird, die Verbote umgeht und keine echte Lust empfindet. Adèle ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen."
Literatur als Deckmantel
In "Sex und Lügen" versammelt Slimani Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt. Dieses Buch ist gewissermaßen inspiriert von ihrem Debüt "All das zu verlieren". Denn das stieß in Marokko auf ein ganz besonderes Interesse. Während einer zweiwöchigen Lesereise kamen unzählige Frauen auf Slimani zu und wollten über Sex sprechen. Was in der repressiven und diskriminierenden marokkanischen Gesellschaft für diese Frauen sonst undenkbar ist, wurde möglich durch den Schutz der Fiktion. Denn auch das kann Literatur: Sie kann ein Deckmantel sein, um Grenzen zu überschreiten. Leïla Slimani ist das mit ihrem Romandebüt gelungen.
Obwohl die autofiktionalen Überschneidungen zwischen der Autorin und ihrer Hauptfigur Adèle frappierend sind, schreibt Slimani keinen Roman über sich selbst. Sie schreibt über viele Frauen, ob in Marokko oder Europa, wie auch eines der Motti verdeutlicht, die Slimani ihrem Roman voranstellt. Ausgeborgt ist es von der russischen Dichterin Anna Achmatowa:
"Nein, das bin ich nicht, das leidet jemand anderes. Ich könnte das so nicht."
Selbst wenn Adèles Schicksal am Ende von Slimanis Debütroman der ein oder anderen trostlos und resigniert vorkommen mag, darf man die gesellschaftliche Sprengkraft, die dieses Buch bereits entfaltet hat, nicht vergessen. In Marokko wie in Frankreich wurde die Autorin bereits – völlig zu recht – mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet. Schließlich verläuft auch in Europa, das sich so gern als fortschrittlich versteht, der Weg in die Gleichberechtigung keinesfalls geradlinig. Die Bücher von Leïla Slimani, die unterdrückten weiblichen Abgründen eine Stimme geben, können wir also auf der ganzen Welt gut gebrauchen.
Leïla Slimani: "All das zu verlieren"
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Literaturverlag, München, 224 Seiten, 22 Euro
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Literaturverlag, München, 224 Seiten, 22 Euro