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Leinen (SPD) zu Brexit
"Das ist höchste politische Unkultur"

Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen hat die britische Regierung dafür kritisiert, ein Brexit-Referendum anberaumt zu haben, ohne zu wissen, was ein EU-Austritt bedeute. Das sei ein Hasadeurspiel gewesen. Er sehe nun keine Möglichkeit mehr, den Brexit-Vertrag noch einmal aufzuschnüren.

Jo Leinen im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Jo Leinen (SPD) kritisiert Großbritanniens Planlosigkeit beim Brext (imago )
    Jörg Münchenberg: Theresa May ist nicht zu beneiden, zu Hause machen ihr die Brexiteers weiter das Leben schwer und haben sie zum neuerlichen Vorsprechen in Brüssel verdonnert, um vielleicht doch noch Zugeständnisse herauszuschlagen, vor allem beim umstrittenen Backstop. Doch Kommission und Ratspräsident zeigen sich weiter unnachgiebig, obwohl die Zeit langsam knapp wird. Gibt es keinen Kompromiss, könnte Großbritannien die EU am 29. März sang- und klanglos verlassen. Es wäre jener harte Brexit, den viele fürchten. Am Telefon ist nun der EU-Abgeordnete Jo Leinen von der SPD, Herr Leinen, ich grüße Sie!
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Münchenberg!
    Münchenberg: Herr Leinen, wünschen Sie manchmal auch die Brexiteers still und heimlich in die Hölle, so wie das jetzt Ratspräsident Tusk gemacht hat?
    Leinen: Ja, und zwar in die unterste Kammer der Hölle, weil es war schon ein Hasardeurspiel, ein Referendum für den Austritt aus der EU anzuberaumen, ohne den Menschen zu sagen, welchen Brexit man will und selber Vorstellungen zu haben, was ein Brexit bedeutet. Das ist wirklich höchste politische Unkultur und auch Unverantwortlichkeit.
    "Jetzt wird es Zeit, dass man in London miteinander spricht"
    Münchenberg: Man hat manchmal den Eindruck, dass die Haltung jetzt der EU in der britischen Innenpolitik eigentlich weiterhin keine oder kaum eine Rolle spielt. Könnte das vielleicht das Grundproblem sein?
    Leinen: Ja, in der Tat lernen wir viel über die politische Kultur und auch über die politische Unkultur in Großbritannien. Es ist ja eine der ältesten Demokratien der Welt, aber man reibt sich doch die Augen, dass bei so einer fundamentalen historischen Frage bisher keinerlei Gespräche über Parteigrenzen hinaus stattgefunden haben. Also es ist geradezu abenteuerlich, dass Frau May mit einer Minderheitsregierung dieses Thema durchbrechen will, was sie gar nicht kann: Sie braucht die Stimmen irgendwie auch der Opposition. Und es sind jetzt drei Jahre fast vergangen und es hat nichts Offizielles zwischen diesen beiden Gruppen Mehrheit und Minderheit stattgefunden, und ich glaube, jetzt wird es Zeit, dass man in London mal miteinander spricht, also London mit London redet. Das wäre vielleicht vordringlicher, als laufend nach Brüssel zu fahren.
    "Ich sehe keine Möglichkeit, den Vertrag aufzuschnüren"
    Münchenberg: Nun ist aber May heute noch mal in Brüssel, und es stellt ja sich schon die Frage: Gibt es aus Ihrer Sicht irgendwelche Angebote, die die EU machen könnte, oder ist die Position einfach klar und die heißt, wir schnüren den Vertrag nicht mehr auf?
    Leinen: Ich sehe keine Möglichkeit, den Vertrag aufzuschnüren. Das hat man zwei Jahre verhandelt, man hat das rauf und runter diskutiert, was notwendig ist. Beide Seiten waren sich einig: Das ist das Beste, was wir zusammen machen können. Und von daher ist der Ball eigentlich im Feld der Briten und nicht im Feld der EU. Ja, ich glaube, dass Kosmetik noch möglich ist, indem man noch mal…
    Münchenberg: Die aber die Brexiteers ja kaum überzeugen dürfte.
    Leinen: Ja, aber die Brexiteers haben auch im Unterhaus verloren, dass es keinen No-Deal geben soll, also sie sind ja auch im eigenen Parlament in der Minderheit. Und ich glaube, es geht jetzt eigentlich um das Blame Game, also wer hat die Schuld, hat die Schuld die EU, hat die Schuld die Opposition? Also da ist ein politisches Ränkespiel innerhalb des House of Commons am Laufen. Und vielleicht, vielleicht, vielleicht brauchen wir tatsächlich etwas mehr Zeit. Also ich sehe den einzigen Ausweg, dass man vielleicht den Artikel 50 auch noch mal etwas strapaziert bis zum Ende dieser Legislaturperiode, das wäre Ende Juni, damit man dort in London sich zusammenraufen kann.
    "Ein politisches Ränkespiel innerhalb des House of Commons"
    Münchenberg: Aber warum sollte die EU, die ja einer solchen Verlängerung zustimmen müsste, und zwar einheitlich, alle 27, warum sollte die zustimmen, wenn eben weiter vollkommen unklar ist, was die Briten eigentlich wollen?
    Leinen: Ja, in der Tat, man braucht ein Signal, dass die Zeitverlängerung auch ein Ergebnis bringt. Wenn wir nur Zeit verschwenden, dann hat das auch keinen Sinn. Und wir haben ja noch sechs Wochen bis Ende März, und es müsste ein Signal kommen: Wir wollen uns parteiübergreifend verständigen. Jeremy Corbyn hat ja jetzt einen Brief geschrieben, dass er bereit ist, einen Deal mitzumachen, wenn Großbritannien in der Zollunion bleibt und dass …
    Münchenberg: Aber das ist die alte Position von Labour, das ist ja nichts Neues.
    Leinen: Ja, aber da gibt es ja auch bei den Konservativen Leute, die sagen, das wäre das Vernünftigste, weil wir hätten dann keine Kontrollen bei Calais und bei Dover. Also ich sehe da Spielraum in Großbritannien, so eine Letzte-Minute-Lösung noch zu unterbreiten, mit der die EU leben kann.
    Münchenberg: Herr Leinen, aber noch mal zu der möglichen Verschiebung jetzt des Brexits: Ist das denn aber auch in Sachen EU-Wahlen rechtlich tatsächlich sauber zu lösen, dass diese Wahlen ohne die Briten stattfinden, obwohl sie vielleicht dann noch Mitglied in der EU sind?
    Leinen: Nun, der Wahltermin ist vom 22. bis 26. Mai, aber ich sage mal, man könnte auch noch Mitte Juni wählen, man muss auf alle Fälle innerhalb dieser Legislaturperiode noch Abgeordnete in das Europaparlament schicken, und die neue Legislaturperiode beginnt am 2. Juli. Also wenn man so will, wenn das wirklich helfen würde, dann haben wir noch drei Monate mehr. Aber wie gesagt, da bedarf es dann auch eines politischen Rucks in London, und zwar des Gesprächs über die Parteigrenzen hinaus, um eine Mehrheit im Unterhaus zu finden für einen Deal mit der Europäischen Union. Und das ist jetzt die Aufgabe in London und nicht die Aufgabe von Brüssel.
    "Bewusstlosigkeit in der politischen Elite Großbritanniens"
    Münchenberg: Aber manche Beobachter haben ja auch den Eindruck, dass sie sagen, May spielt letztlich genau mit dieser Zeit, dass sie den Druck im Kessel so stark erhöht, dass eben die Alternative nur noch sein kann, harter Brexit oder eben der mit Austrittsvertrag, dass dann eben auch Labour am Ende doch über das Stöckchen springt.
    Leinen: Ja, in der Tat gab es ja eine Bewusstlosigkeit in der politischen Elite Großbritanniens, man hat gedacht, Brexit, wir gehen da einfach raus oder die EU wird weich und wir knebeln die. Diese Instrumente hat Großbritannien nicht mehr. Sie haben also das Rosinenpicken 40 Jahre sehr erfolgreich als Mitglied der EU praktiziert, aber jetzt wollen sie raus und damit stehen sie gegen den Block der EU 27. Und das hat sie erstaunt, das hatten sie nicht erwartet. Und ich glaube, manche wachen jetzt auf, die Alarmglocken klingeln auch, weil Großbritannien hat bei einem No-Deal wesentlich mehr zu verlieren als die EU, und vielleicht …
    Münchenberg: Was die Brexiteers aber anders sehen, die Brexiteers sagen ja, letztlich wäre das nicht der Fall. Ich würde gern noch mal auf einen Punkt zu sprechen kommen, Herr Leinen: Es gibt in Großbritannien Überlegungen, dass auch es im Falle eines harten Brexits es zunächst mal eine Übergangsphase geben könnte, also das heißt, Aufenthaltsrecht für EU-Bürger, die Briten zahlen weiter ein in den Haushalt. Wäre das eine Option?
    Leinen: Na, wir haben ja in der Übergangsphase bis Ende 2020 sowieso schon vereinbart, …
    Münchenberg: Aber mit Vertrag.
    Leinen: Ja, das kann man aber auch noch mal neu vereinbaren in der Tat, damit man jetzt nicht diese abrupte Abrisskante hat Ende März. So was wäre noch machbar. Wenn sie dann alle Regeln befolgen, auch ihren Beitrag zahlen, ist gegen eine Übergangszeit nichts einzuwenden. Das löst aber das Problem nicht, weil am Ende der Fahnenstange braucht man Klarheit, welches Zukunftsverhältnis will Großbritannien mit Europa: gar nichts, ein normaler Drittstaat, wie wir sie in der Welt viele haben, oder ein ganz besonderes Verhältnis, vor allen Dingen in Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, also eine Zollunion?
    Münchenberg: Herr Leinen, wie ist denn jetzt Ihre Prognose zum Schluss, wie wird das ausgehen? Harter Brexit, Einigung in letzter Sekunde oder doch Verschiebung des Brexit?
    Leinen: Also ich hoffe noch auf eine Letzte-Minute-Entscheidung im Haus of Commons, dass man einsieht, es gibt beim Austrittsabkommen nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verändern, ein No-Deal schadet dem Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern, und es gibt womöglich doch eine parteiübergreifende Koalition, wenn auch nur eine schwache Mehrheit, aber eine Mehrheit, eine pragmatische Lösung mit der EU zu finden, um größeren Schaden zu vermeiden.
    Münchenberg: Also doch auch der Appell an die eigenen Parteigenossen sozusagen, an Labour, doch am Ende zuzustimmen?
    Leinen: Ja, Labour ist bereit, wie der Brief von Jeremy Corbyn von gestern gezeigt hat, mit …
    Münchenberg: Aber nur mit der Zollunion.
    Leinen: … den Konservativen einen Deal zu machen, ja. Die Wunschvorstellung ist die Zollunion, und ich glaube, das wäre das Beste für das Land. Und da müssen sich auch bei den Konservativen einige bewegen.
    Münchenberg: Aber bevor es eben einen harten Brexit gibt, dann doch lieber Zustimmung auch ohne Zollunion?
    Leinen: Ich glaube, unsere Leute wollen eine Zollunion, sie spekulieren drauf, dass auch bei den Konservativen ja nicht alle harte Brexiteers sind. Man sieht nur immer die, die am lautesten schreien oder sich da vor die Kamera stellen, aber es gibt ja in dieser Partei, die auch eng verknüpft ist mit der britischen Wirtschaft, auch noch vernünftige Leute. Und Frau May hat ja quasi diesen Deal dann auch abgeschlossen als Regierungschefin, wo ja eine Zollunion vorgesehen ist, ja. Dann, meine ich mal, hat sie auch die Aufgabe, jetzt endlich mal die Gespräche auch mit der Opposition zu führen. Und da sehe ich noch Spielraum, der ist bisher nicht ausgelotet worden. Also die älteste Demokratie der Welt sollte auch mal Demokratie im eigenen Haus spielen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.