Die Glocken der Kathedrale tönen über die Neris. Das Flüsschen teilt die in Hügel eingebettete litauische Hauptstadt Vilnius in zwei Hälften. Auf einem der Hügel hat Litauens Tyto-Alba Verlag seinen Sitz. In einem weißen Eckhaus. Hinter einer weißen Tür.
"Ich bin Jurgita Ludaviciene und Programmleiterin. Tyto-Alba ist einer der ältesten Verlage in Litauen. Er wurde kurz nach der Unabhängigkeit im Jahr 1993 gegründet."
Jurgita Ludaviciene hat gerade für einen deutschen Verlag einen Band junger Autoren aus Litauen zusammengestellt. Stolz führt die Frau mit dem runden mädchenhaften Gesicht durch die Räume des Verlages, der zurzeit 26 Mitarbeiter beschäftigt.
"In der sowjetischen Zeit gab es wenig Verlage. Nach der Unabhängigkeit war die Situation eine ganz andere. Das Verlagswesen war eine günstige Möglichkeit, schnell Geld zu verdienen. 1992 gab es plötzlich 500 Verlage."
Explosion der Verlagslandschaft
Tatsächlich kam es nach der Unabhängigkeit Litauens zu einer regelrechten Explosion der Verlagslandschaft. Doch schon 1993, als die Regierung den sowjetischen Rubel abschaffte und für kurze Zeit Warenbezugsscheine einführte, wurden Bücher Luxusware. Heute, da das Land zur EU und seit 2015 auch dem Euroraum angehört, gibt es wieder mehr als 300 Verlage. Tyto-Alba ist der drittgrößte. Soeben erst hat er mit Rimantas Kmitas Roman "Chroniken des Südviertels" einen Beststeller gelandet.
Wer das "Mint Vinetu" in der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählenden Vilniuser Altstadt betritt, dem fällt auf dem Tresen sofort der Einband von Kmitas Roman ins Auge. Das "Mint Vinetu" ist Buchtauschbörse, Literatentreffpunkt und kultureller Hotspot in einem. Auch Rimantas Kmita hat hier schon Lesungen gemacht.
"Ich komme aus Siauliai, der viertgrößten Stadt Litauens. In der Sowjetzeit war das eine Industriestadt. Nach der Unabhängigkeit wurden viele Fabriken geschlossen. Es entstanden Mafiastrukturen. Die Polizei war schwach. Über diese Zeit habe ich einen Roman geschrieben, darüber, was ein Teenager in dieser Zeit erlebt hat."
"Sprachpolizei" will reine Nationalsprache schaffen
Kmitas Roman hat gezeigt, dass sich auch aus dem Slang der Vorstädte moderne, gute Literatur schaffen lässt. Der Roman ist eine kleine Revolution in einem Land, in dem eine Sprachkommission darüber wacht, dass Sachbuch-Autoren, Journalisten oder öffentliche Funktionsträger korrektes Litauisch sprechen. Wer sich nicht an die Empfehlungen dieser "Sprachpolizei" hält, kann schon mal zu Strafzahlungen verdonnert werden.
Die Essayistin Giedra Radvilaviciute, gerade zu Einkäufen unterwegs in der Vilniusser Hala-Markthalle, findet das Bemühen, auf diese Weise eine reine Nationalsprache zu schaffen, geradezu lächerlich.
"Mir gefällt es, dass die Menschen auf Märkten wie dem Hala-Markt sind, wie sie sind. Hier vermischt sich alles. Sprachen. Dialekte. Sehen Sie, dort ist eine georgische Bäckerei. Und jedes Mal esse ich in der jüdischen Bäckerei einen Bagel. Die Menschen fühlen sich hier frei. Manchmal belügen sie mich, behaupten zum Beispiel ihr Obst stamme aus ökologischem Anbau. Mir gefällt es, sie beim Lügen zu beobachten. Mit dem Obst kaufe ich mir hier auch Intonationen, Blicke und Gesten."
Essay als eigene Form
Die finden sich dann wieder in Giedra Radvilaviciutes Essays. Der Essay hat sich in Litauen zu einer ganz eigenen literarischen Form entwickelt. Anders als in Westeuropa werden hier weniger die großen politischen Fragen erörtert, sondern eher die kleinen Geschichten in der großen Geschichte. Die Liebe, der Neid und der Hass.
Eigentlich gibt es in der Essayistik keine Handlung, keine Charaktere, keine Phantasie. Bei Giedra Radvilaviciute gibt es das alles. In Litauen ist sie damit Bestseller-Autorin geworden. In einem Land mit etwa zwei Millionen Lesern reichen dafür 3.000 verkaufte Exemplare.