Reportage Zehnkampf, Holdorf, Tokio 1964: "Und da ist der Startschuss gefallen und sofort hat Holdorf die Spitze genommen. Für Willi Holdorf kommt es nun darauf an, in einem gigantischen Kampf das Äußerste aus seinem Körper heraus zu holen. Nur dann kann er die schon sicher geglaubte Medaille doch noch retten. Und wenn nicht alles täuscht, dann gehört in dieser Minute die Goldmedaille dem tapferen Willi Holdorf aus Leverkusen."
Von zwei Konkurrenten gestützt, sackt der muskulöse Mann mit der groß aufgedruckten Startnummer 263 erschöpft zusammen. Er hat gewonnen. Aber sehen so Sieger aus? Hängende Schultern, stierender Blick. Ein Held wie ein zur Selbstopferung bereiter Bote aus der Antike, aber jenseits triumphaler Gestik. Doch auf den Aschenbahnen der Moderne wird nur noch selten gestorben, und der Mann, der im abschließenden 1500-Meter-Lauf des Zehnkampfes bei den Olympischen Spielen von Tokio alles gegeben hat, ist zweifellos ein Sieger: Holdorf, sein Name.
Willy Holdorf. Einer, der zur Legende wurde in einer Zeit, als auch der Sport noch Helden hervorbrachte, deren Berühmtheit länger währte als jene berühmten 15 Minuten, von denen Andy Warhol sprach. Doch in den Sekunden nach dem Rennen erzählt das Bild bloß eine Geschichte vom körperlichen Zusammenbruch. Nichts deutet auf eine Huldigung des triumphalen Siegs während der sich anschließenden Stadionrunde hin. Willy Holdorf ist zu erschöpft, um sich feiern zu lassen. Die Bilder zeigen ihn als einen, der gestützt werden muss wie ein Verwundeter. Das Ewigkeitsversprechen des sportlichen Ruhms? In diesem Augenblick eine Fehlanzeige. Holdorf ist, so hat es den Anschein, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Dem Stadionjubel, verraten die Bilder, geht Opferbereitschaft voraus.
Norpoth, Tokio 1964, 5000 Meter Entscheidung: "Kurz vorm Einbiegen in die Zielgerade, Jazy vorn, an zweiter Stelle das ist Bob Schul, er kommt näher und näher an Jazy heran, geht vorbei an ihm, Jazy geschlagen! Norpoth ist Dritter! Dritter ist Norpoth! Und versucht an Jazy vorbeizukommen! Bob Schul siegt und Norpoth ist Zweiter! Eine fantastische Leistung von Norporth! Und ich hatte Sorge, dass er ein bisschen falsch trainiert hatte. Aber Dr. van Aaken, der ihn beraten hat, hat wirklich Recht gehabt: Er ist großartig gelaufen und er hat mithalten können im Spurt."
Der deutsche Heldenmensch der Nachkriegsjahre gab sich ganz der Verausgabung hin. Er sah aus wie Willy Holdorf oder wie der Schmerzensmann Harald Norpoth. Lange, dünne Beine, hohle Wangen, eine ausgemergelte Erscheinung, die schnurstracks aus einem Kriegsgefangenenlager der Alliierten auf die olympische Aschenbahn gelaufen zu sein schien. Wie Holdorf war Norpoth ein Spitzenathlet seiner Zeit, auch wenn es den Schülern schwerfiel, sich mit dieser hageren Gestalt zu identifizieren. Laufen wie Norpoth wollte man können, aber wohl doch nicht so aussehen. In dem Olympiajahr 1964, in dem Holdorf den Zehnkampf gewann und damit zur Festigung des nationalen Selbstwertgefühls beitrug, errang Norpoth - wie gerade gehört - einen zweiten Platz über die 5000 Meter Langstrecke. Zweiter über die mythische Strecke des Langlaufs - das blieb sein größter Erfolg, obwohl Norpoth auch noch bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexikocity und vier Jahre später in München an den Start ging.
Ein Idol war Norpoth nicht nur wegen seiner Siegesserien und Bestzeiten. Im Gedächtnis blieb er wegen seines Laufstils, der gleich mehrere Leidensgeschichten zum Ausdruck brachte. So manches Mal wurde er im Rennen von quälenden Seitenstichen geplagt. Würde es den Schmerz lindern können, sich leicht mit den Fingern oberhalb der Leistenregion zu massieren? Als sportbegeisterter Fernsehzuschauer hatte man nicht nur teil an der Frage ob Norpoth gewinnt. Man erlitt beinahe jeden Meter auf der Strecke.
Die Deutschen waren in den Kernsportarten wieder dabei, das war die Hauptsache. Jede Teilnahme im ärmellosem Shirt mit rotem Brustring auf weißem Hemd kam einer nationalen Rehabilitierung gleich. In aller Bescheidenheit führte einer wie Norpoth vor Augen, dass es schon als Erfolg anzusehen war, einfach nur durchzustehen. Die Athleten fügten sich in ihr sportliches Schicksal und reproduzierten zugleich die Erfahrung ihrer Generation, in jungen Jahren das existenzielle Scheitern ihrer Eltern erlebt zu haben. So sehr sie auch darauf aus sein mochten, Nationalsozialismus und Krieg endlich hinter sich zu lassen, so stark waren sie doch davon gezeichnet. In ihren Gesichtern lag mehr Demut als Siegesglück. In der Ikonografie des deutschen Nachkriegssports verkörperten Läufer wie Norpoth oder der Mittelstreckler Manfred Kinder einen Heldentypus, der gewinnt, aber nicht mehr triumphieren kann.
Vom gescheiterten Unternehmen Endsieg, für den der Nationalsozialismus nur wenige Jahre zuvor auch den Sport korrumpiert und instrumentalisiert hatte, war nachhaltig auch das gestische Repertoire der Akteure beeinflusst. Und jene, die die germanische Größenfantasie einst emphatisch inszenierten, ließen sich angesichts der Trümmer, die sie vor und hinter sich aufgetürmt hatten, sogar zu Wehmut hinreißen. "Davon geht die Welt nicht unter", hatte Zarah Leander noch in der Endphase des Krieges gesungen. Einer, der bei diesem Lied vielleicht mitgesummt hat, war Carl Diem, der geistige Architekt und Choreograf der Olympischen Spiele von 1936. Eifrig hatte er daran gearbeitet, den Olympismus des Baron Pierre de Coubertin in den Nationalsozialismus einzuflechten. "Die fröhliche Begeisterung", hatte er nach den ersten Kriegswochen geschrieben, "die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen..."
Solch pathetischer Gefühle entledigte er sich auch nicht, als die verheerenden Zerstörungen, die aus dem kriegerischen Ernst hervorgingen, nicht mehr zu übersehen waren. Die Augenblicke des Abstiegs führten Diem noch einmal über das Reichssportfeld, wo Angehörige der Hitlerjugend auf dem Olympiagelände in letzte Gefechte geführt worden waren. Hunderte von Ihnen starben. In der Murellenschlucht hinter dem Stadion wurden Minderjährige wegen Desertion und Wehrkraftzersetzung in den letzten Kriegstagen erschossen. Kurz darauf suchte Carl Diem noch einmal die Stätte seiner olympischen Höhepunkte auf.
"Ich wanderte und wanderte, am Tschammer-Haus erlebte ich noch einmal die letzten mit Ritter von Halt dort zugebrachten Stunden, noch einmal kam der Augenblick in Erinnerung, wo ich von dem Luftdruck der Granate in den Korridor geworfen wurde und der begleitende Volkssturmmann sein Leben verlor, ich erinnerte mich der blutenden Hitlerjungen, die dort zusammengeschossen wurden... Und durch all diese Eindrücke hindurch immer wieder wie eine Fata Morgana die Erinnerung an die olympischen Stunden. Ich sah im Geiste die Fahnen der Völker wehen, ihre wohlgekleidete Jugend lachend und plaudernd umherstreifen, begleitet von den weißgekleideten Knaben oder Mädchen des Ehrendienstes, ich sah die 10000 Kinder die Treppe zum Olympischen Festspiel heruntereilen, vor meinem geistigen Auge schossen die Strahlen der Scheinwerfer zum Himmel und bildeten den Dom, während die ewigen Klänge Beethovens zum Schillers "Lied an die Freude" zum Himmel drangen."
Im April 1947 wurde Carl Diem zum Direktor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln ernannt. Es gab so etwas wie Kontinuität. So jedenfalls sieht es der Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte.
"Eine höchst spezifische Erbschaft der jüngsten Vergangenheit, wenn auch nicht der Familie, erwies sich trotz ihres befleckten Charakters als wertvolle Ressource der jungen Bundesrepublik. Das war der Leistungsfanatismus, den der Nationalsozialismus mit seinem Ideal einer "egalitären Leistungsvolksgemeinschaft" - ein Begriff des Historikers Martin Broszat - in den jüngeren Generationen aus dem konventionellen, viel älteren Leistungsdenken entfesselt und durch seinen brutalen sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf bis zuletzt gefördert hatte. Ohne ihn können die Ursachen der eruptiven Energiemobilisierung des Dritten Reiches, erst recht im Krieg, gar nicht erfasst werden. Nach dem Krieg brauchte diese Leistungsmentalität gewissermaßen nur entnazifiziert zu werden - was unter den Bedingungen der Zeit mühelos möglich war -, und schon gewann die frisch verkündete Soziale Marktwirtschaft das soziale Substrat einer vehementen Antriebskraft, das sie selber in so kurzer Zeit gar nicht hätte erzeugen können, ihr jetzt ohne eigenes Dazutun zustattenkam. Diese Explosion an Tatkraft im Rahmen einer ungezügelten Wettbewerbsbereitschaft und eines leidenschaftlichen beruflichen Engagements, das die westdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft seit 1948 kennzeichnete, stammte zunächst aus den dunklen Quellen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Erst allmählich haben das Leistungs- und Konkurrenzdenken der Sozialen Marktwirtschaft in jüngeren Generationen vergleichbare Dispositionen geschaffen. Zum Mythos des deutschen Wirtschaftswunders gehörte dann aber keineswegs mehr die einsichtsvolle Erinnerung an die vererbte Mentalität der Anfangsjahre, sie wurden wegen ihrer unheiligen Herkunft verdrängt."
Begleitet und angespornt wurde das Leistungs- und Konkurrenzdenken der Sozialen Marktwirtschaft durch eine allmähliche Modernisierung der Verhältnisse. Wie langsam diese sich allerdings vollzog, untermalt die erste deutsche Sportaffäre um eine Spielerfrau. Fritz Walter, der Spielführer von Herbergers junger Nationalelf, der schon während des Krieges zum Kader gehört hatte, war bereits 28 Jahre alt, als er 1948 Italia, eine Französin italienischer Herkunft, ehelichte. Aus einer Traumvermählung wurde allerdings nichts. Die Zeit war noch nicht reif für ein glamouröses Medienfeuerwerk, und noch weniger passte die Hochzeit ins Konzept des strengen Chefs Sepp Herberger. Der kantige Trainer fürchtete um die Vorbildfunktion seines treuen Kapitäns. Italia war ihm irgendwie zu forsch. Suspekt ihre auffällige Art, sich zu kleiden: rote Stiefeletten, lackierte Fingernägel - eine mondäne, auffallend hübsche, verführerische Erscheinung. Italia Walter war dem autoritär-kumpelhaften Trainer entschieden zu selbstbewusst.
Die Frauenbewegung war noch nicht am gesellschaftlichen Horizont aufgetaucht, aber das kriegerisch orientierte Männerideal war allein durch die zunehmende öffentliche Präsenz der Frauen eindeutig auf dem Rückzug.
Darüber hinaus gefiel man sich in der Haltung einer neu gewonnenen Lässigkeit, zu deren Markenzeichen nach dem Krieg die Vespa wurde, der Motorroller des italienischen Herstellers Piaggio. Die erste Vespa war bereits 1946 auf den Markt gekommen und hieß Paperino. Das Gefährt sollte einfach, sparsam und leicht zu fahren sein und darüber hinaus in den alten Produktionsanlagen von Piaggio gefertigt werden können. Weil Corradino nie zuvor Motorräder konstruiert hatte, ging er völlig unvoreingenommen an die Sache heran. Die später dem Motorroller zugeschriebene Lässigkeit war so gesehen bereits in den Umständen der Entwicklung enthalten. Das Design antwortete auf eine allgemeine Stimmungslage. Corradino wählte einen ungewöhnlichen Direktantrieb und brachte den Motor verdeckt an, sodass er nicht zu sehen war und man sich an ihm nicht schmutzig machen konnte.
Diese völlig neue Formgebung, die die Zweckhaftigkeit üblicher Motorräder beinahe zum Verschwinden brachte, diente sich dem Bedürfnis nach einer demonstrativen Lässigkeit geradezu an. Der mechanische Antrieb zum Zweck der Fortbewegung kam scheinbar aus dem Nichts. Vespa fahren kam einer Art göttlichem Gleiten gleich. Man war dem Krieg noch einmal entkommen und genoss das ungeschützte Fahren unter freiem Himmel. Mit der Vespa überwand man zwar keine großen Distanzen, aber der kurze Weg von hier nach da war das Ziel. Die Vespa war alles andere als ein Ausdruck von Stärke, ihre bescheidene Motorkraft war beinahe eine Abrüstungsinitiative. Mit der Vespa rückte ein unausgesprochenes Nichtwollen in den Blick. Im Cruisen verweigerte man sich des gezielten Zurücklegens des Wegs von A nach B. Auf dem Roller erlebte Audrey Hepburn mit Gregory Peck in dem Film "Roman Holiday" vor allem die Abwesenheit von den Zwängen ihrer Rolle als Kronprinzessin eines exotischen Landes. Im Fahrtwind fühlte eine ganze Generation ihre wieder gewonnene Unbeschwertheit.
Dieses neue Sportgefühl verkörperten in Deutschland vor allem Typen wie den Sprinter Armin Hary, ein Luftikus, allein schon wegen der Geschwindigkeit, die er auf kurzer Strecke aufzunehmen wusste. Der Mann war schnell und nicht auf den Mund gefallen. Armin Hary haftete die trotzige Renitenz jener Filmfiguren an, die James Dean im amerikanischen Kino verkörperte. Von melodramatischen Zuspitzungen blieb auch der deutsche Sport nicht verschont. Es war kein Zufall, dass es dabei Armin Hary traf. Gleich mehrfach musste er auf der 100-Meter-Sprintstrecke Weltrekord laufen, ehe dieser offiziell anerkannt wurde. Zu den Tücken der Messbarkeit kam Harys unzeitgemäße Aufmüpfigkeit. Er war selbstbewusst und egozentrisch, und Zehn-komma-null wurde bald zu einer Art bundesrepublikanischem Vermächtnis. Und doch war irgendwie der Wurm drin. Immer wieder legte Hary sich mit den Sportfunktionären an, die noch lange danach trachteten, an ihren Ideen vom reinen Sport festzuhalten. Armin Harys amerikanisierte Renitenz musste ihnen missfallen. Ärger war vorprogrammiert und tendierte schließlich ins Banale. Hary war gerade 24 Jahre alt, als man ihn 1961 wegen einer falschen Spesenabrechnung, bei der es um 70 Mark ging, von weiteren Wettkämpfen ausschloss. Bald danach trat er beleidigt zurück. Aber es ging um mehr als nur eine narzisstische Kränkung. Über die Zahl 10,0 hinaus stand Armin Hary für einen auffälligen Wandel. Es hatte sich was getan im deutschen Sport und bald wurde allen klar, dass man nicht mehr einfach nur so weiterlaufen konnte. Und manches vollzog sich in Sprüngen.
Spätestens bei den Olympischen Spielen von München wurde dies offensichtlich. "Die Jugend von heute gibt es nicht" titelte 1972 das ZEIT-Magazin und zeigte dazu die Fotos zweier junger Frauen, die jede auf ihre Weise der bundesrepublikanischen Gesellschaft Anfang der 70er Jahre ihr Gesicht gaben. Langes, strähniges blondes Haar, die eine, dunkel geschminkte Augen. Auf einigen Fotos lächelt sie herausfordernd, meist presst sie ihre Lippen fest zusammen. Gudrun Ensslin übte den kalten Blick. Die dazugehörige Stimme demonstriert tonlose Härte. Die Mentalität, die Hans-Ulrich Wehler ausfindig gemacht zu haben meinte, präsentierte hier ihre zerstörerische Seite.
Gudrun Ensslin: "Wenn uns an der Aktion an der RAF 1972 etwas bedrückt, dann das Missverhältnis zwischen unserem Kopf und unseren Händen und den B52. Hier noch mal einfach: Wir sind auch verantwortlich für die Angriffe für das CIA-Hauptquartier und das Hauptquartier des fünften US-Corps in Frankfurt am Main. "
Gudrun Ensslin war das vierte von insgesamt sieben Kindern einer evangelischen Pfarrersfamilie und wuchs in Tuttlingen auf. Nach politisch motivierten Kaufhausbrandstiftungen wurde sie im April 1968 verhaftet und unter anderen mit Andreas Baader zu drei Jahren Haft verurteilt. Im September 1969 tauchte Ensslin zusammen mit Baader unter. Sie flüchteten zunächst nach Italien. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Baader am 4. April 1970 in Berlin festgenommen. Die am 14. Mai 1970 von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin geplante und durchgeführte Befreiung Baaders gilt als Gründungsakt der Roten Armee Fraktion RAF. Nach diversen Banküberfällen und Bombenanschlägen wird Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg verhaftet.
Die Jugend von heute gibt es nicht. Die deutsche Sportgeschichte streift Gudrun Ensslin nicht aufgrund eigener körperlicher Ertüchtigung, sondern wegen einer zeitlichen Koinzidenz. Im Augenblick der Verhaftung Ensslins befindet sich die 16-jährige Ulrike Meyfarth in einer intensiven Trainingsphase. Sie soll bei den Olympischen Spielen von München im Hochsprung an den Start gehen. Die einzelnen Sportverbände hatten entschieden, gerade junge Sportler Erfahrungen in internationalen Wettkämpfen sammeln zu lassen. Die Jugend aus deutschen Landen, sie sollte dabei sein dürfen - eine sportliche Zukunftsinvestition. Ulrike Meyfarth war eine von ihnen. Erfahrungen sammeln - das hatte sie wohl zu wörtlich genommen. Am 4. September 1972 stand das schlanke, schlaksige Mädchen allein im Bogen des Münchener Olympiastadions. Sport, sagte Ulrike Meyfarth später, sei für sie auch eine Art Flucht vor der Einsamkeit einer Teenagerin gewesen. Sie habe darunter gelitten, wegen ihrer Körpergröße von ihren Mitschülern gemobbt zu werden. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und ließ das alles hinter sich, wenn sie trainieren konnte. Nach dem Siegessprung von München war sie nicht mehr allein. Die Fernsehnation hatte zugeschaut, in Farbe.
Reportage Meyfarth, Hochsprung, München, 1972: "Ulrike Meyfarth hat ja schon als Dreizehnjährige mit dem Hochsprung begonnen. Was heißt als Dreizehnjährige schon, wenn sie jetzt 16 ist? Jetzt läuft sie an ... gedrückt ... geschafft Weltrekord eingestellt! Das ist einfach nicht zu begreifen! 1,92 Meter springt Ulrike Meyfarth hier, heute Abend, unter dem Flutlicht des Olympiastadions. Ein wenig verschämt lächelt sie fast zum Publikum hinüber und in die Kameras und in die Fotoapparate der Fotografen hinein, als wollte sie sagen "ich weiß es ja auch nicht, wie das so vor sich geht. Ich weiß ja auch nicht, wieso ich plötzlich heute in einer solchen Form bin."
Noch immer verblüfft die zeitliche Nähe, in der sich die unschuldige Naivität eines jungen Mädchens zu dem befand, was kurz darauf geschah. Einen Tag später ist die skurril-artige Feierstimmung vorbei, in der die Olympischen Spiele von München als ein demonstrativer Gegenentwurf zur totalitären Inszenierung von 1936 zelebriert worden waren. Doch die Gewalt des Totalitären verschafft sich erneut Zutritt zum Geschehen. In der Nacht auf den 6. September wird die israelische Olympiamannschaft von palästinensischen Terroristen überfallen. Elf Sportler sterben. Das Attentat von München ist die terroristische Lesart des Satzes: Die Jugend von heute gibt es nicht.
Und es gibt noch nicht einmal den Sportler von heute. Das Ideal Coubertins und alle nachfolgenden Ideale waren seit jeher eine Illusion. Auf das Bild von der fleißigen Schülerin, die Unvorstellbares leistet, folgt alsbald der Albtraum einer sportlich angetriebenen Selbstzerstörung des Körpers. Das Role-Model der Ulrike Meyfarth hat Zuwachs bekommen.
Der Leistungsfanatismus entfesselt nun auch Energien, die in der Lage sind, sich gegen sich und den eigenen Körper zu wenden. Wie Ulrike Meyfarth war die 1960 in Bremen geborene Birgit Dressel eine Hochspringerin, die nach Anfangserfolgen in ihrer Disziplin auf den Siebenkampf umsattelte. Zu deutscher Sportberühmtheit gelangte das tragische Dopingopfer Birgit Dressel jedoch erst nach ihrem Tod.
Das Protokoll ihrer Agonie liest sich wie der Beipackzettel eines Medikaments, dem die Warnungen vor Risiko und Nebenwirkung noch nicht beigegeben waren.
Beim Wettkampftraining verspürte Dressel am 8. April 1987 Schmerzen in der linken Hüfte und im Gesäß. Der erstbehandelnde Arzt, ein Orthopäde, spritzte ihr das Lokalanästhetikum Xylonest und das Schmerzmittel Voltaren. Die Schmerzen ließen am daraufffolgenden Tag nicht nach und der Arzt gab ihr zwei Injektionen: höherdosiertes Voltaren sowie das Metamizol-Präparat Baralgin. Für Zuhause erhielt sie den Thrombozytenaggregationshemmer Godamed (ASS), Tranquase-5 (Diazepam) und Optipyrin-Zäpfchen (Paracetamol und Codein). Wegen starker Schmerzen nahm sie 10-15 Godamed-Tabletten ein. Danach suchte sie zwei weitere Ärzte auf, die ihr Aspirin, Heparin-Creme und Eiswürfel verordneten.
Am Morgen des 10. April suchte sie der Orthopäde auf, diagnostizierte eine Nierenkolik und spritze ihr Attritin. Daraufhin wurde sie in das Mainzer Uni-Klinikum eingeliefert und zwei weitere Ärzte verabreichten ihr intravenös Buscopan. Am Nachmittag wurde Birgit Dressel in die Unfallchirurgie verlegt und vier weitere Ärzte legten ihr einen Venentropf Buscopan, gelöst in Sterofundin. Sie vermuteten einen Wirbelsäulenschaden. Birgit Dressel klagte über sehr großen Durst, ihre Lippen und Fingernägel hatten sich blau verfärbt. Zwei Nervenspezialisten wurden hinzugezogen, als ihr Herz raste und sich die Atmung beschleunigte.
Ein siebenköpfiges Unfall-Ärzteteam erschien, Birgit Dressel bewegte die Arme und öffnete letztmalig die Augen. Sie erhielt eine Sauerstoffmaske, wurde am Abend auf die Intensivstation verlegt und es wurde, erstmals richtig, eine toxische Reaktion diagnostiziert. Die beiden letzten Ärzte verabreichten ihr vier Bluttransfusionen, hohe Dosen endogener Hormone und zuletzt Bicarbonat, um ihren azidotischen Stoffwechsel auszubalancieren. Drei Stunden nach Aufnahme in die Intensivstation starb Birgit Dressel.
Später wurde ermittelt, dass sie seit 1981 Patientin eines Freiburger Sportmediziners war und in den 16 Monaten vor ihrem Tod etwa 400 Spritzen erhalten hatte.
In der Bildgeschichte des bundesrepublikanischen Sports gibt es keine Fotos, die Birgit Dressel als eine erschöpfte Athletin zeigen. Der erbitterte Kampf der Sportler gegen sich selbst hinterlässt nicht zwangsläufig äußerlich sichtbare Merkmale. Spurenlos zum Erfolg, das ist ja gerade die Idee des Dopings. Es gilt fortan das Versprechen, den Sieg in der Haltung der Lässigkeit davon zu tragen. Ganz nebenbei. Wenn doch noch einmal erschöpfte Sportler in Erscheinung treten, wie der 400-Meter-Läufer Karl Honz, der sich Anfang der 70er Jahre immer völlig ausgepumpt nach seinen Tempoläufen auf der Tartanbahn wälzte, dann erntete er skeptische Bemerkungen über seinen mangelnden Trainingszustand. Im Lauf der Jahre haben sich das Bild vom triumphierenden Sportler und die Vorstellung von einer bis zur totalen Verausgabung reichenden Trainingsarbeit weitgehend entkoppelt.
In die Galerie der Sporthelden reiht sich auch einer ein wie der Turner Eberhard Gienger, der wie ein ordentlich arbeitender Büroangestellter an sein Wettkampfgerät herantritt. Hinter der gescheitelten Geradlinigkeit der Frisur tritt der auffällig muskulöse Körper fast vollständig zurück. Gingers Bewegungen sieht man die Mühen nicht an, die die Koordination der Bewegungsabläufe unter den Bedingungen der Schwerkraft vom Sportler verlangt. Die Erscheinung des Turners Ginger tauchen in der Rückschau denn auch auf wie die Ergebnisse eines mit technokratischer Präzision entwickelten Plans. Sportliche Leidenschaft ist nicht mehr überall sichtbar und greifbar. Es kommt darauf an, Erfolg zu repräsentieren, ohne die körperliche Leidensgeschichte kenntlich zu machen.
So gesehen erscheint das Drama der Birgit Dressel in der klassischen Sportikonografie tatsächlich als zu grell und zu bunt. Es hätte wohl nicht einmal tödlich ausgehen müssen. Der Name Dressel ist heute ein Synonym für ein fatales Wissensdefizit im Umgang mit den Möglichkeiten der sportlichen Optimierung. Doping ist nicht der Endpunkt einer deutschen Sportgeschichte, sondern nur eine andere Version der Erzählung von Sportlern, die siegen, aber nicht mehr triumphieren können.
Die Siege von heute führen nicht einmal notwendigerweise mehr aufs Podest. Gewinnen schadet nicht, aber es kommt vor allem darauf an, gut dabei auszusehen. Das gilt inzwischen sogar für die Kraftdisziplinen der Leichtathletik, in denen Sportlerinnen wie Steffi Nerius und Christina Obergföll mühelos auf den Laufstegen des Sportcastings mithalten können. Zwar löst es noch immer das allergrößte Fotografengewitter aus, wenn Maria Scharapowa das Tennisröckchen lupft, aber sexuelle Reiz-Reaktionsschemata lösen inzwischen auch Stabhochspringerinnen aus, wenn sie sich im kurzen Laibchen über die Latte hinwegwinden und Hammerwerferinnen sich wuchtig durch den Wurfkreis drehen. Jede Sportart versteht sich seit geraumer Zeit darauf, eine Körpersprache des Cool zu entwickeln. Man ist choreografisch vorn wie Lukas Podolski oder stürmisch fesch wie Maria Riesch.
Eine der ersten, die hierzulande im Sportstadion Anlauf nahm zu einem Rennen um öffentliche Aufmerksamkeit, war die Weitspringerin Susen Tiedtke. Zweimal wurde sie in ihrer Sportart Deutsche Meisterin, aber ein internationaler Erfolg gelang ihr, bei anhaltendem Spott einer sorgfältig ihre Schritte verfolgenden Presse nie. Dafür erhielt sie zahlreiche andere Preise. Tiedtke wurde zur Miss Leichtathletik, Miss Olympia oder auch nur zur "schönsten Sportlerin" gekürt. Zum coolen Auftritt kamen die Mühen der Vermarktung. Tiedtke posierte im Playboy und entkam auch später nicht der Berichterstattung, wenn sie bloß versuchte, beruflich in einem sportfremden Feld Fuß zu fassen. Vernachlässigt wurde dabei, dass Tiedtke im Schatten ihrer Kollegin Heike Drechsler tatsächlich zur Weltklasse zählte. Doch zum gelungenen Vertrieb der eigenen Marke muss man mehr als nur den Balken treffen. Die Helden der Rennbahn reüssieren seit geraumer Zeit als unternehmerisches Selbst, dessen einziges Produkt ihre sportliche Leistung und dessen vielfältige Folgegeschichte ist. Nicht alle haben es da so weit gebracht wie Boris Becker, der in den Jahren nach seiner sportlichen Laufbahn beinahe jede Ritze seines Privatlebens mehr oder wenig freiwillig zur Beobachtung und Kommentierung freigegeben hat. Nicht jeder versteht es allerdings, so peinlichkeitsresistent damit umzugehen.
Die Erscheinungsformen der sportlichen Existenz haben sich rasant vervielfältigt und es kommt nunmehr darauf an, in den performativen Disziplinen des gesellschaftlichen Mehrkampfs zu bestehen. Es wäre vermutlich leicht, über Boris Beckers auffällige Gier nach privater Zurschaustellung die Nase zu rümpfen. Man muss es nicht mögen, alles über die Auswahl von Lillys Hochzeitskleid und deren unterschiedlicher Ringwahl zu erfahren.
Tatsächlich aber führt einer wie Boris Becker vor, dass das Leben nach dem Sport ein Langstreckenlauf ist, in dem eine einzelne Pose nicht ausreicht. Bei aller obszönen Selbstinszenierung hat Boris Becker gleich mehrfach vorgemacht, wie man gesellschaftliche Niederlagen - Scheidung und Ärger mit den Steuerbehörden - unter aller Augen in Haltung verwandelt. Für einige ist das bloß uncool, für andere degoutant. Auf der Bühne des Sports bedeutet es aber wohl auch, dass es zahlreiche Aufschlagvarianten zwischen angestrengtem Leistungsfanatismus und souveräner Lässigkeit gibt. An der Bandbereite der Bewegungsarten lässt sich vielleicht nicht immer ganz genau erkennen, wohin die Gesellschaft gerade unterwegs ist. Ein Lesegerät für das, was an der Zeit ist, ist der Sport allemal.
Von zwei Konkurrenten gestützt, sackt der muskulöse Mann mit der groß aufgedruckten Startnummer 263 erschöpft zusammen. Er hat gewonnen. Aber sehen so Sieger aus? Hängende Schultern, stierender Blick. Ein Held wie ein zur Selbstopferung bereiter Bote aus der Antike, aber jenseits triumphaler Gestik. Doch auf den Aschenbahnen der Moderne wird nur noch selten gestorben, und der Mann, der im abschließenden 1500-Meter-Lauf des Zehnkampfes bei den Olympischen Spielen von Tokio alles gegeben hat, ist zweifellos ein Sieger: Holdorf, sein Name.
Willy Holdorf. Einer, der zur Legende wurde in einer Zeit, als auch der Sport noch Helden hervorbrachte, deren Berühmtheit länger währte als jene berühmten 15 Minuten, von denen Andy Warhol sprach. Doch in den Sekunden nach dem Rennen erzählt das Bild bloß eine Geschichte vom körperlichen Zusammenbruch. Nichts deutet auf eine Huldigung des triumphalen Siegs während der sich anschließenden Stadionrunde hin. Willy Holdorf ist zu erschöpft, um sich feiern zu lassen. Die Bilder zeigen ihn als einen, der gestützt werden muss wie ein Verwundeter. Das Ewigkeitsversprechen des sportlichen Ruhms? In diesem Augenblick eine Fehlanzeige. Holdorf ist, so hat es den Anschein, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Dem Stadionjubel, verraten die Bilder, geht Opferbereitschaft voraus.
Norpoth, Tokio 1964, 5000 Meter Entscheidung: "Kurz vorm Einbiegen in die Zielgerade, Jazy vorn, an zweiter Stelle das ist Bob Schul, er kommt näher und näher an Jazy heran, geht vorbei an ihm, Jazy geschlagen! Norpoth ist Dritter! Dritter ist Norpoth! Und versucht an Jazy vorbeizukommen! Bob Schul siegt und Norpoth ist Zweiter! Eine fantastische Leistung von Norporth! Und ich hatte Sorge, dass er ein bisschen falsch trainiert hatte. Aber Dr. van Aaken, der ihn beraten hat, hat wirklich Recht gehabt: Er ist großartig gelaufen und er hat mithalten können im Spurt."
Der deutsche Heldenmensch der Nachkriegsjahre gab sich ganz der Verausgabung hin. Er sah aus wie Willy Holdorf oder wie der Schmerzensmann Harald Norpoth. Lange, dünne Beine, hohle Wangen, eine ausgemergelte Erscheinung, die schnurstracks aus einem Kriegsgefangenenlager der Alliierten auf die olympische Aschenbahn gelaufen zu sein schien. Wie Holdorf war Norpoth ein Spitzenathlet seiner Zeit, auch wenn es den Schülern schwerfiel, sich mit dieser hageren Gestalt zu identifizieren. Laufen wie Norpoth wollte man können, aber wohl doch nicht so aussehen. In dem Olympiajahr 1964, in dem Holdorf den Zehnkampf gewann und damit zur Festigung des nationalen Selbstwertgefühls beitrug, errang Norpoth - wie gerade gehört - einen zweiten Platz über die 5000 Meter Langstrecke. Zweiter über die mythische Strecke des Langlaufs - das blieb sein größter Erfolg, obwohl Norpoth auch noch bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexikocity und vier Jahre später in München an den Start ging.
Ein Idol war Norpoth nicht nur wegen seiner Siegesserien und Bestzeiten. Im Gedächtnis blieb er wegen seines Laufstils, der gleich mehrere Leidensgeschichten zum Ausdruck brachte. So manches Mal wurde er im Rennen von quälenden Seitenstichen geplagt. Würde es den Schmerz lindern können, sich leicht mit den Fingern oberhalb der Leistenregion zu massieren? Als sportbegeisterter Fernsehzuschauer hatte man nicht nur teil an der Frage ob Norpoth gewinnt. Man erlitt beinahe jeden Meter auf der Strecke.
Die Deutschen waren in den Kernsportarten wieder dabei, das war die Hauptsache. Jede Teilnahme im ärmellosem Shirt mit rotem Brustring auf weißem Hemd kam einer nationalen Rehabilitierung gleich. In aller Bescheidenheit führte einer wie Norpoth vor Augen, dass es schon als Erfolg anzusehen war, einfach nur durchzustehen. Die Athleten fügten sich in ihr sportliches Schicksal und reproduzierten zugleich die Erfahrung ihrer Generation, in jungen Jahren das existenzielle Scheitern ihrer Eltern erlebt zu haben. So sehr sie auch darauf aus sein mochten, Nationalsozialismus und Krieg endlich hinter sich zu lassen, so stark waren sie doch davon gezeichnet. In ihren Gesichtern lag mehr Demut als Siegesglück. In der Ikonografie des deutschen Nachkriegssports verkörperten Läufer wie Norpoth oder der Mittelstreckler Manfred Kinder einen Heldentypus, der gewinnt, aber nicht mehr triumphieren kann.
Vom gescheiterten Unternehmen Endsieg, für den der Nationalsozialismus nur wenige Jahre zuvor auch den Sport korrumpiert und instrumentalisiert hatte, war nachhaltig auch das gestische Repertoire der Akteure beeinflusst. Und jene, die die germanische Größenfantasie einst emphatisch inszenierten, ließen sich angesichts der Trümmer, die sie vor und hinter sich aufgetürmt hatten, sogar zu Wehmut hinreißen. "Davon geht die Welt nicht unter", hatte Zarah Leander noch in der Endphase des Krieges gesungen. Einer, der bei diesem Lied vielleicht mitgesummt hat, war Carl Diem, der geistige Architekt und Choreograf der Olympischen Spiele von 1936. Eifrig hatte er daran gearbeitet, den Olympismus des Baron Pierre de Coubertin in den Nationalsozialismus einzuflechten. "Die fröhliche Begeisterung", hatte er nach den ersten Kriegswochen geschrieben, "die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen..."
Solch pathetischer Gefühle entledigte er sich auch nicht, als die verheerenden Zerstörungen, die aus dem kriegerischen Ernst hervorgingen, nicht mehr zu übersehen waren. Die Augenblicke des Abstiegs führten Diem noch einmal über das Reichssportfeld, wo Angehörige der Hitlerjugend auf dem Olympiagelände in letzte Gefechte geführt worden waren. Hunderte von Ihnen starben. In der Murellenschlucht hinter dem Stadion wurden Minderjährige wegen Desertion und Wehrkraftzersetzung in den letzten Kriegstagen erschossen. Kurz darauf suchte Carl Diem noch einmal die Stätte seiner olympischen Höhepunkte auf.
"Ich wanderte und wanderte, am Tschammer-Haus erlebte ich noch einmal die letzten mit Ritter von Halt dort zugebrachten Stunden, noch einmal kam der Augenblick in Erinnerung, wo ich von dem Luftdruck der Granate in den Korridor geworfen wurde und der begleitende Volkssturmmann sein Leben verlor, ich erinnerte mich der blutenden Hitlerjungen, die dort zusammengeschossen wurden... Und durch all diese Eindrücke hindurch immer wieder wie eine Fata Morgana die Erinnerung an die olympischen Stunden. Ich sah im Geiste die Fahnen der Völker wehen, ihre wohlgekleidete Jugend lachend und plaudernd umherstreifen, begleitet von den weißgekleideten Knaben oder Mädchen des Ehrendienstes, ich sah die 10000 Kinder die Treppe zum Olympischen Festspiel heruntereilen, vor meinem geistigen Auge schossen die Strahlen der Scheinwerfer zum Himmel und bildeten den Dom, während die ewigen Klänge Beethovens zum Schillers "Lied an die Freude" zum Himmel drangen."
Im April 1947 wurde Carl Diem zum Direktor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln ernannt. Es gab so etwas wie Kontinuität. So jedenfalls sieht es der Historiker Hans-Ulrich Wehler in seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte.
"Eine höchst spezifische Erbschaft der jüngsten Vergangenheit, wenn auch nicht der Familie, erwies sich trotz ihres befleckten Charakters als wertvolle Ressource der jungen Bundesrepublik. Das war der Leistungsfanatismus, den der Nationalsozialismus mit seinem Ideal einer "egalitären Leistungsvolksgemeinschaft" - ein Begriff des Historikers Martin Broszat - in den jüngeren Generationen aus dem konventionellen, viel älteren Leistungsdenken entfesselt und durch seinen brutalen sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf bis zuletzt gefördert hatte. Ohne ihn können die Ursachen der eruptiven Energiemobilisierung des Dritten Reiches, erst recht im Krieg, gar nicht erfasst werden. Nach dem Krieg brauchte diese Leistungsmentalität gewissermaßen nur entnazifiziert zu werden - was unter den Bedingungen der Zeit mühelos möglich war -, und schon gewann die frisch verkündete Soziale Marktwirtschaft das soziale Substrat einer vehementen Antriebskraft, das sie selber in so kurzer Zeit gar nicht hätte erzeugen können, ihr jetzt ohne eigenes Dazutun zustattenkam. Diese Explosion an Tatkraft im Rahmen einer ungezügelten Wettbewerbsbereitschaft und eines leidenschaftlichen beruflichen Engagements, das die westdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft seit 1948 kennzeichnete, stammte zunächst aus den dunklen Quellen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Erst allmählich haben das Leistungs- und Konkurrenzdenken der Sozialen Marktwirtschaft in jüngeren Generationen vergleichbare Dispositionen geschaffen. Zum Mythos des deutschen Wirtschaftswunders gehörte dann aber keineswegs mehr die einsichtsvolle Erinnerung an die vererbte Mentalität der Anfangsjahre, sie wurden wegen ihrer unheiligen Herkunft verdrängt."
Begleitet und angespornt wurde das Leistungs- und Konkurrenzdenken der Sozialen Marktwirtschaft durch eine allmähliche Modernisierung der Verhältnisse. Wie langsam diese sich allerdings vollzog, untermalt die erste deutsche Sportaffäre um eine Spielerfrau. Fritz Walter, der Spielführer von Herbergers junger Nationalelf, der schon während des Krieges zum Kader gehört hatte, war bereits 28 Jahre alt, als er 1948 Italia, eine Französin italienischer Herkunft, ehelichte. Aus einer Traumvermählung wurde allerdings nichts. Die Zeit war noch nicht reif für ein glamouröses Medienfeuerwerk, und noch weniger passte die Hochzeit ins Konzept des strengen Chefs Sepp Herberger. Der kantige Trainer fürchtete um die Vorbildfunktion seines treuen Kapitäns. Italia war ihm irgendwie zu forsch. Suspekt ihre auffällige Art, sich zu kleiden: rote Stiefeletten, lackierte Fingernägel - eine mondäne, auffallend hübsche, verführerische Erscheinung. Italia Walter war dem autoritär-kumpelhaften Trainer entschieden zu selbstbewusst.
Die Frauenbewegung war noch nicht am gesellschaftlichen Horizont aufgetaucht, aber das kriegerisch orientierte Männerideal war allein durch die zunehmende öffentliche Präsenz der Frauen eindeutig auf dem Rückzug.
Darüber hinaus gefiel man sich in der Haltung einer neu gewonnenen Lässigkeit, zu deren Markenzeichen nach dem Krieg die Vespa wurde, der Motorroller des italienischen Herstellers Piaggio. Die erste Vespa war bereits 1946 auf den Markt gekommen und hieß Paperino. Das Gefährt sollte einfach, sparsam und leicht zu fahren sein und darüber hinaus in den alten Produktionsanlagen von Piaggio gefertigt werden können. Weil Corradino nie zuvor Motorräder konstruiert hatte, ging er völlig unvoreingenommen an die Sache heran. Die später dem Motorroller zugeschriebene Lässigkeit war so gesehen bereits in den Umständen der Entwicklung enthalten. Das Design antwortete auf eine allgemeine Stimmungslage. Corradino wählte einen ungewöhnlichen Direktantrieb und brachte den Motor verdeckt an, sodass er nicht zu sehen war und man sich an ihm nicht schmutzig machen konnte.
Diese völlig neue Formgebung, die die Zweckhaftigkeit üblicher Motorräder beinahe zum Verschwinden brachte, diente sich dem Bedürfnis nach einer demonstrativen Lässigkeit geradezu an. Der mechanische Antrieb zum Zweck der Fortbewegung kam scheinbar aus dem Nichts. Vespa fahren kam einer Art göttlichem Gleiten gleich. Man war dem Krieg noch einmal entkommen und genoss das ungeschützte Fahren unter freiem Himmel. Mit der Vespa überwand man zwar keine großen Distanzen, aber der kurze Weg von hier nach da war das Ziel. Die Vespa war alles andere als ein Ausdruck von Stärke, ihre bescheidene Motorkraft war beinahe eine Abrüstungsinitiative. Mit der Vespa rückte ein unausgesprochenes Nichtwollen in den Blick. Im Cruisen verweigerte man sich des gezielten Zurücklegens des Wegs von A nach B. Auf dem Roller erlebte Audrey Hepburn mit Gregory Peck in dem Film "Roman Holiday" vor allem die Abwesenheit von den Zwängen ihrer Rolle als Kronprinzessin eines exotischen Landes. Im Fahrtwind fühlte eine ganze Generation ihre wieder gewonnene Unbeschwertheit.
Dieses neue Sportgefühl verkörperten in Deutschland vor allem Typen wie den Sprinter Armin Hary, ein Luftikus, allein schon wegen der Geschwindigkeit, die er auf kurzer Strecke aufzunehmen wusste. Der Mann war schnell und nicht auf den Mund gefallen. Armin Hary haftete die trotzige Renitenz jener Filmfiguren an, die James Dean im amerikanischen Kino verkörperte. Von melodramatischen Zuspitzungen blieb auch der deutsche Sport nicht verschont. Es war kein Zufall, dass es dabei Armin Hary traf. Gleich mehrfach musste er auf der 100-Meter-Sprintstrecke Weltrekord laufen, ehe dieser offiziell anerkannt wurde. Zu den Tücken der Messbarkeit kam Harys unzeitgemäße Aufmüpfigkeit. Er war selbstbewusst und egozentrisch, und Zehn-komma-null wurde bald zu einer Art bundesrepublikanischem Vermächtnis. Und doch war irgendwie der Wurm drin. Immer wieder legte Hary sich mit den Sportfunktionären an, die noch lange danach trachteten, an ihren Ideen vom reinen Sport festzuhalten. Armin Harys amerikanisierte Renitenz musste ihnen missfallen. Ärger war vorprogrammiert und tendierte schließlich ins Banale. Hary war gerade 24 Jahre alt, als man ihn 1961 wegen einer falschen Spesenabrechnung, bei der es um 70 Mark ging, von weiteren Wettkämpfen ausschloss. Bald danach trat er beleidigt zurück. Aber es ging um mehr als nur eine narzisstische Kränkung. Über die Zahl 10,0 hinaus stand Armin Hary für einen auffälligen Wandel. Es hatte sich was getan im deutschen Sport und bald wurde allen klar, dass man nicht mehr einfach nur so weiterlaufen konnte. Und manches vollzog sich in Sprüngen.
Spätestens bei den Olympischen Spielen von München wurde dies offensichtlich. "Die Jugend von heute gibt es nicht" titelte 1972 das ZEIT-Magazin und zeigte dazu die Fotos zweier junger Frauen, die jede auf ihre Weise der bundesrepublikanischen Gesellschaft Anfang der 70er Jahre ihr Gesicht gaben. Langes, strähniges blondes Haar, die eine, dunkel geschminkte Augen. Auf einigen Fotos lächelt sie herausfordernd, meist presst sie ihre Lippen fest zusammen. Gudrun Ensslin übte den kalten Blick. Die dazugehörige Stimme demonstriert tonlose Härte. Die Mentalität, die Hans-Ulrich Wehler ausfindig gemacht zu haben meinte, präsentierte hier ihre zerstörerische Seite.
Gudrun Ensslin: "Wenn uns an der Aktion an der RAF 1972 etwas bedrückt, dann das Missverhältnis zwischen unserem Kopf und unseren Händen und den B52. Hier noch mal einfach: Wir sind auch verantwortlich für die Angriffe für das CIA-Hauptquartier und das Hauptquartier des fünften US-Corps in Frankfurt am Main. "
Gudrun Ensslin war das vierte von insgesamt sieben Kindern einer evangelischen Pfarrersfamilie und wuchs in Tuttlingen auf. Nach politisch motivierten Kaufhausbrandstiftungen wurde sie im April 1968 verhaftet und unter anderen mit Andreas Baader zu drei Jahren Haft verurteilt. Im September 1969 tauchte Ensslin zusammen mit Baader unter. Sie flüchteten zunächst nach Italien. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Baader am 4. April 1970 in Berlin festgenommen. Die am 14. Mai 1970 von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin geplante und durchgeführte Befreiung Baaders gilt als Gründungsakt der Roten Armee Fraktion RAF. Nach diversen Banküberfällen und Bombenanschlägen wird Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg verhaftet.
Die Jugend von heute gibt es nicht. Die deutsche Sportgeschichte streift Gudrun Ensslin nicht aufgrund eigener körperlicher Ertüchtigung, sondern wegen einer zeitlichen Koinzidenz. Im Augenblick der Verhaftung Ensslins befindet sich die 16-jährige Ulrike Meyfarth in einer intensiven Trainingsphase. Sie soll bei den Olympischen Spielen von München im Hochsprung an den Start gehen. Die einzelnen Sportverbände hatten entschieden, gerade junge Sportler Erfahrungen in internationalen Wettkämpfen sammeln zu lassen. Die Jugend aus deutschen Landen, sie sollte dabei sein dürfen - eine sportliche Zukunftsinvestition. Ulrike Meyfarth war eine von ihnen. Erfahrungen sammeln - das hatte sie wohl zu wörtlich genommen. Am 4. September 1972 stand das schlanke, schlaksige Mädchen allein im Bogen des Münchener Olympiastadions. Sport, sagte Ulrike Meyfarth später, sei für sie auch eine Art Flucht vor der Einsamkeit einer Teenagerin gewesen. Sie habe darunter gelitten, wegen ihrer Körpergröße von ihren Mitschülern gemobbt zu werden. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut und ließ das alles hinter sich, wenn sie trainieren konnte. Nach dem Siegessprung von München war sie nicht mehr allein. Die Fernsehnation hatte zugeschaut, in Farbe.
Reportage Meyfarth, Hochsprung, München, 1972: "Ulrike Meyfarth hat ja schon als Dreizehnjährige mit dem Hochsprung begonnen. Was heißt als Dreizehnjährige schon, wenn sie jetzt 16 ist? Jetzt läuft sie an ... gedrückt ... geschafft Weltrekord eingestellt! Das ist einfach nicht zu begreifen! 1,92 Meter springt Ulrike Meyfarth hier, heute Abend, unter dem Flutlicht des Olympiastadions. Ein wenig verschämt lächelt sie fast zum Publikum hinüber und in die Kameras und in die Fotoapparate der Fotografen hinein, als wollte sie sagen "ich weiß es ja auch nicht, wie das so vor sich geht. Ich weiß ja auch nicht, wieso ich plötzlich heute in einer solchen Form bin."
Noch immer verblüfft die zeitliche Nähe, in der sich die unschuldige Naivität eines jungen Mädchens zu dem befand, was kurz darauf geschah. Einen Tag später ist die skurril-artige Feierstimmung vorbei, in der die Olympischen Spiele von München als ein demonstrativer Gegenentwurf zur totalitären Inszenierung von 1936 zelebriert worden waren. Doch die Gewalt des Totalitären verschafft sich erneut Zutritt zum Geschehen. In der Nacht auf den 6. September wird die israelische Olympiamannschaft von palästinensischen Terroristen überfallen. Elf Sportler sterben. Das Attentat von München ist die terroristische Lesart des Satzes: Die Jugend von heute gibt es nicht.
Und es gibt noch nicht einmal den Sportler von heute. Das Ideal Coubertins und alle nachfolgenden Ideale waren seit jeher eine Illusion. Auf das Bild von der fleißigen Schülerin, die Unvorstellbares leistet, folgt alsbald der Albtraum einer sportlich angetriebenen Selbstzerstörung des Körpers. Das Role-Model der Ulrike Meyfarth hat Zuwachs bekommen.
Der Leistungsfanatismus entfesselt nun auch Energien, die in der Lage sind, sich gegen sich und den eigenen Körper zu wenden. Wie Ulrike Meyfarth war die 1960 in Bremen geborene Birgit Dressel eine Hochspringerin, die nach Anfangserfolgen in ihrer Disziplin auf den Siebenkampf umsattelte. Zu deutscher Sportberühmtheit gelangte das tragische Dopingopfer Birgit Dressel jedoch erst nach ihrem Tod.
Das Protokoll ihrer Agonie liest sich wie der Beipackzettel eines Medikaments, dem die Warnungen vor Risiko und Nebenwirkung noch nicht beigegeben waren.
Beim Wettkampftraining verspürte Dressel am 8. April 1987 Schmerzen in der linken Hüfte und im Gesäß. Der erstbehandelnde Arzt, ein Orthopäde, spritzte ihr das Lokalanästhetikum Xylonest und das Schmerzmittel Voltaren. Die Schmerzen ließen am daraufffolgenden Tag nicht nach und der Arzt gab ihr zwei Injektionen: höherdosiertes Voltaren sowie das Metamizol-Präparat Baralgin. Für Zuhause erhielt sie den Thrombozytenaggregationshemmer Godamed (ASS), Tranquase-5 (Diazepam) und Optipyrin-Zäpfchen (Paracetamol und Codein). Wegen starker Schmerzen nahm sie 10-15 Godamed-Tabletten ein. Danach suchte sie zwei weitere Ärzte auf, die ihr Aspirin, Heparin-Creme und Eiswürfel verordneten.
Am Morgen des 10. April suchte sie der Orthopäde auf, diagnostizierte eine Nierenkolik und spritze ihr Attritin. Daraufhin wurde sie in das Mainzer Uni-Klinikum eingeliefert und zwei weitere Ärzte verabreichten ihr intravenös Buscopan. Am Nachmittag wurde Birgit Dressel in die Unfallchirurgie verlegt und vier weitere Ärzte legten ihr einen Venentropf Buscopan, gelöst in Sterofundin. Sie vermuteten einen Wirbelsäulenschaden. Birgit Dressel klagte über sehr großen Durst, ihre Lippen und Fingernägel hatten sich blau verfärbt. Zwei Nervenspezialisten wurden hinzugezogen, als ihr Herz raste und sich die Atmung beschleunigte.
Ein siebenköpfiges Unfall-Ärzteteam erschien, Birgit Dressel bewegte die Arme und öffnete letztmalig die Augen. Sie erhielt eine Sauerstoffmaske, wurde am Abend auf die Intensivstation verlegt und es wurde, erstmals richtig, eine toxische Reaktion diagnostiziert. Die beiden letzten Ärzte verabreichten ihr vier Bluttransfusionen, hohe Dosen endogener Hormone und zuletzt Bicarbonat, um ihren azidotischen Stoffwechsel auszubalancieren. Drei Stunden nach Aufnahme in die Intensivstation starb Birgit Dressel.
Später wurde ermittelt, dass sie seit 1981 Patientin eines Freiburger Sportmediziners war und in den 16 Monaten vor ihrem Tod etwa 400 Spritzen erhalten hatte.
In der Bildgeschichte des bundesrepublikanischen Sports gibt es keine Fotos, die Birgit Dressel als eine erschöpfte Athletin zeigen. Der erbitterte Kampf der Sportler gegen sich selbst hinterlässt nicht zwangsläufig äußerlich sichtbare Merkmale. Spurenlos zum Erfolg, das ist ja gerade die Idee des Dopings. Es gilt fortan das Versprechen, den Sieg in der Haltung der Lässigkeit davon zu tragen. Ganz nebenbei. Wenn doch noch einmal erschöpfte Sportler in Erscheinung treten, wie der 400-Meter-Läufer Karl Honz, der sich Anfang der 70er Jahre immer völlig ausgepumpt nach seinen Tempoläufen auf der Tartanbahn wälzte, dann erntete er skeptische Bemerkungen über seinen mangelnden Trainingszustand. Im Lauf der Jahre haben sich das Bild vom triumphierenden Sportler und die Vorstellung von einer bis zur totalen Verausgabung reichenden Trainingsarbeit weitgehend entkoppelt.
In die Galerie der Sporthelden reiht sich auch einer ein wie der Turner Eberhard Gienger, der wie ein ordentlich arbeitender Büroangestellter an sein Wettkampfgerät herantritt. Hinter der gescheitelten Geradlinigkeit der Frisur tritt der auffällig muskulöse Körper fast vollständig zurück. Gingers Bewegungen sieht man die Mühen nicht an, die die Koordination der Bewegungsabläufe unter den Bedingungen der Schwerkraft vom Sportler verlangt. Die Erscheinung des Turners Ginger tauchen in der Rückschau denn auch auf wie die Ergebnisse eines mit technokratischer Präzision entwickelten Plans. Sportliche Leidenschaft ist nicht mehr überall sichtbar und greifbar. Es kommt darauf an, Erfolg zu repräsentieren, ohne die körperliche Leidensgeschichte kenntlich zu machen.
So gesehen erscheint das Drama der Birgit Dressel in der klassischen Sportikonografie tatsächlich als zu grell und zu bunt. Es hätte wohl nicht einmal tödlich ausgehen müssen. Der Name Dressel ist heute ein Synonym für ein fatales Wissensdefizit im Umgang mit den Möglichkeiten der sportlichen Optimierung. Doping ist nicht der Endpunkt einer deutschen Sportgeschichte, sondern nur eine andere Version der Erzählung von Sportlern, die siegen, aber nicht mehr triumphieren können.
Die Siege von heute führen nicht einmal notwendigerweise mehr aufs Podest. Gewinnen schadet nicht, aber es kommt vor allem darauf an, gut dabei auszusehen. Das gilt inzwischen sogar für die Kraftdisziplinen der Leichtathletik, in denen Sportlerinnen wie Steffi Nerius und Christina Obergföll mühelos auf den Laufstegen des Sportcastings mithalten können. Zwar löst es noch immer das allergrößte Fotografengewitter aus, wenn Maria Scharapowa das Tennisröckchen lupft, aber sexuelle Reiz-Reaktionsschemata lösen inzwischen auch Stabhochspringerinnen aus, wenn sie sich im kurzen Laibchen über die Latte hinwegwinden und Hammerwerferinnen sich wuchtig durch den Wurfkreis drehen. Jede Sportart versteht sich seit geraumer Zeit darauf, eine Körpersprache des Cool zu entwickeln. Man ist choreografisch vorn wie Lukas Podolski oder stürmisch fesch wie Maria Riesch.
Eine der ersten, die hierzulande im Sportstadion Anlauf nahm zu einem Rennen um öffentliche Aufmerksamkeit, war die Weitspringerin Susen Tiedtke. Zweimal wurde sie in ihrer Sportart Deutsche Meisterin, aber ein internationaler Erfolg gelang ihr, bei anhaltendem Spott einer sorgfältig ihre Schritte verfolgenden Presse nie. Dafür erhielt sie zahlreiche andere Preise. Tiedtke wurde zur Miss Leichtathletik, Miss Olympia oder auch nur zur "schönsten Sportlerin" gekürt. Zum coolen Auftritt kamen die Mühen der Vermarktung. Tiedtke posierte im Playboy und entkam auch später nicht der Berichterstattung, wenn sie bloß versuchte, beruflich in einem sportfremden Feld Fuß zu fassen. Vernachlässigt wurde dabei, dass Tiedtke im Schatten ihrer Kollegin Heike Drechsler tatsächlich zur Weltklasse zählte. Doch zum gelungenen Vertrieb der eigenen Marke muss man mehr als nur den Balken treffen. Die Helden der Rennbahn reüssieren seit geraumer Zeit als unternehmerisches Selbst, dessen einziges Produkt ihre sportliche Leistung und dessen vielfältige Folgegeschichte ist. Nicht alle haben es da so weit gebracht wie Boris Becker, der in den Jahren nach seiner sportlichen Laufbahn beinahe jede Ritze seines Privatlebens mehr oder wenig freiwillig zur Beobachtung und Kommentierung freigegeben hat. Nicht jeder versteht es allerdings, so peinlichkeitsresistent damit umzugehen.
Die Erscheinungsformen der sportlichen Existenz haben sich rasant vervielfältigt und es kommt nunmehr darauf an, in den performativen Disziplinen des gesellschaftlichen Mehrkampfs zu bestehen. Es wäre vermutlich leicht, über Boris Beckers auffällige Gier nach privater Zurschaustellung die Nase zu rümpfen. Man muss es nicht mögen, alles über die Auswahl von Lillys Hochzeitskleid und deren unterschiedlicher Ringwahl zu erfahren.
Tatsächlich aber führt einer wie Boris Becker vor, dass das Leben nach dem Sport ein Langstreckenlauf ist, in dem eine einzelne Pose nicht ausreicht. Bei aller obszönen Selbstinszenierung hat Boris Becker gleich mehrfach vorgemacht, wie man gesellschaftliche Niederlagen - Scheidung und Ärger mit den Steuerbehörden - unter aller Augen in Haltung verwandelt. Für einige ist das bloß uncool, für andere degoutant. Auf der Bühne des Sports bedeutet es aber wohl auch, dass es zahlreiche Aufschlagvarianten zwischen angestrengtem Leistungsfanatismus und souveräner Lässigkeit gibt. An der Bandbereite der Bewegungsarten lässt sich vielleicht nicht immer ganz genau erkennen, wohin die Gesellschaft gerade unterwegs ist. Ein Lesegerät für das, was an der Zeit ist, ist der Sport allemal.