Karin Fischer: Als in Köln wegen des U-Bahn-Baus das Stadtarchiv einstürzte, war auf einmal das gesamte Gedächtnis der Stadt verschwunden, und mit ihm das wertvollste kommunale Archiv Deutschlands. Es hatte den Dreißigjährigen Krieg, die Besatzung durch napoleonische Truppen, zwei Weltkriege und Dutzende Bombardements überstanden. Am Abend des 3. März 2009 sah die Einsturzstelle aus wie ein Bombenkrater, 25 Regal-Kilometer, angefüllt mit den wertvollsten Dokumenten, Urkunden, Nachlässen der Stadtgeschichte sind darin verschwunden. Die Direktorin des Stadtarchivs seit 2005, die Historikerin und Archivarin Bettina Schmidt-Czaia, und ihre Mitarbeiter schafften es rechtzeitig aus dem Gebäude, zwei Männer im Nachbarhaus starben an der Unglücksstelle. In der Reihe "Erinnern und Vergessen" wollen und können wir das dramatische Geschehen damals nicht auslassen, denn Bettina Schmidt-Czaia ist gezwungenermaßen Expertin zum Thema "verschüttete Erinnerungen" geworden. Das ist ganz bestimmt nicht zynisch gemeint, aber in Ihrem Fall ja doch leider wahr.
Bettina Schmidt-Czaia: Verschüttete Erinnerungen – natürlich: Das Gedächtnis der Stadt war zunächst mal in der Baugrube der U-Bahn eingestürzt. Wir haben es dann zweieinhalb Jahre geborgen. Aber man muss auch sagen, dass das eine sehr erfolgreiche Zeit war, denn gemessen an den laufenden Metern waren es etwa 95 Prozent, die man bergen konnte.
Fischer: Das ist eine gute Nachricht?
Schmidt-Czaia: Ja, genau. Wir sind sehr zufrieden, dass das so ist.
Fischer: Es sind die wertvollsten Dokumente der Stadtgeschichte im Schlamm und im Betonschlamm verschwunden. Was ist verloren gegangen, was ist unwiderruflich verloren?
Schmidt-Czaia: Zunächst mal nur diese fünf Prozent, die man als Archivgut nicht mehr identifiziert hat, die man auch nicht geborgen hat, auch nicht bei der Grundwasserbergung durch Taucher.
Fischer: Wissen Sie, welche Stücke darunter waren?
Schmidt-Czaia: Nein, immer noch nicht. Denn zunächst mal ist nicht alles in einem Archiv immer erschlossen. Es gab auch große unerschlossene Teile, wie wir das nennen, Bestände, die nicht aufgearbeitet waren. Wir wissen aber – wir haben jetzt etwa gut 70 Prozent dieser Stücke bestands-ersterfasst und konnten immerhin 58 Prozent davon bereits sicher identifizieren. Das bedeutet, die Identifizierungsquote, die wird zumindest recht gut sein am Schluss.
Was aber tatsächlich verloren ist, wird man erst wissen, wenn man 100 Prozent bestandserfasst hat, das Ganze einmal gesichtet.
Bölls Nobelpreis-Urkunde war schnell gefunden
Fischer: Können Sie ein paar Dinge benennen, die Sie retten konnten, die inhaltlich wichtig waren für die Stadtgeschichte?
Schmidt-Czaia: Da denkt der Laie ja zunächst mal an die wichtigsten städtischen Dokumente. Da denkt er an den Verbundbrief zum Beispiel, Altbücher und Ähnliches, oder auch an wichtige Nachlassbestände wie zum Beispiel eine Nobelpreis-Urkunde von Heinrich Böll und ähnliche Dinge. Das alles ist relativ schnell wieder aufgefunden worden, konnte auch aufgearbeitet werden.
Im Moment sind wir dabei, zum Beispiel im Hinblick auf das Offenbach-Jahr hier in Köln im nächsten Jahr ganz viel Offenbach zuzuordnen, zu identifizieren und in unsere Work Flows, in unsere Wiederaufarbeitungsprozesse zu geben, damit im nächsten Jahr die Forscher und auch die interessierte Öffentlichkeit das nutzen kann.
Fischer: Die Aufarbeitungsprozesse – das fing ja tatsächlich an mit der Bergung und Gefriertrocknung vieler dieser Dokumente. Wie muss man sich das vorstellen, diese Arbeit, über die ja auch schon viel berichtet worden ist, mit Pinzette, Scanner und Schnipseln?
Schmidt-Czaia: Das ist viel Feinarbeit. Tatsächlich haben wir auch immer den Zeitdruck im Nacken, denn dieser Prozess der Vakuum-Gefriertrocknung, den Sie ansprechen, der sollte innerhalb von drei bis vier Jahren beendet sein, damit man nicht zum Schluss einen Frostschaden am Papier oder am Pergament hat. Damit sind wir im Februar 2014 fertig geworden, first in, first out. Das was zuerst eingefroren wurde, wurde auch zu allererst vakuum-gefriergetrocknet und ist jetzt in der Konservierung, und das haben wir eigentlich ganz gut hingekriegt.
Wir sind im Zeitplan, wenn ich mir auch manchmal wünschte, es ginge noch viel schneller. Ich bin nicht der geduldigsten eine.
Restaurierung dauert noch Jahrzehnte
Fischer: Es ist ja immer davon die Rede, dass die Experten und die Mitarbeiter noch Jahrzehnte damit beschäftigt sein werden.
Schmidt-Czaia: Die Kalkulation, tatsächlich schon aus dem Jahr 2009 und 2010, geht davon aus, dass wir 30 bis 40 Jahre mindestens benötigen werden, um alles wieder in den Zustand zu versetzen, den man heute technisch-wissenschaftlich für vertretbar halten kann, die Restaurierungs- und Konservierungsmaßnahmen zum Ende zu führen.
Wir sind allerdings darüber hinaus sehr stark an einer Nutzung unseres Hauses interessiert an unseren Stücken, und wenn ein Nutzungswunsch uns erreicht, dann machen wir das so, dass wir das priorisieren, dass wir das bevorzugt in eine Bearbeitung geben, und ich kann heute sagen, dass wir etwa gut 34 Prozent dessen schon wieder mittelfristig, in einem halben Jahr durch die Prozesse geschleust, entweder digital oder aber doch analog anbieten können. Das ist, glaube ich, ein ganz guter Wert.
Unterstützung durch Bürger
Fischer: Sie sprechen jetzt sehr positiv über die Dinge. Ich möchte noch mal auf das Thema "verschüttete Erinnerungen" zu sprechen kommen. Wie geht man denn damit um, wenn eine solche Katastrophe einen im Berufsleben ereilt als Archivarin?
Schmidt-Czaia: Das war natürlich eine absolute Katastrophe, für mich persönlich und die Mitarbeiter damals. Wir waren wirklich erschüttert, wir waren verzweifelt in den ersten Stunden und Tagen. Aber wir haben auch ganz schnell gemerkt, dass uns das nur mittelfristig weiterbringt, dass wir, um diesen langen Atem zu haben, 30, 40 Jahre uns zu motivieren, das aufzuarbeiten (erst mal natürlich die Bergung), dass wir dafür Kraft brauchen würden. Die haben wir eigentlich durch die Unterstützung wirklich riesiger Fachschaften erhalten, aber auch die Bürger der Stadt Köln haben uns täglich unterstützt, und das hat uns viel Kraft gegeben. Jedes Stück, was wir wieder zuordnen konnten, finden konnten, es ist wieder da, und die Unterstützung, das hat uns motiviert. Wirklich am Tag nach dem Einsturz habe ich persönlich gar nicht geglaubt, dass wir so viel bergen würden.
Fischer: Sie haben immer mal wieder auch Bulletins rausgegeben, wenn ein etwas größerer und bedeutender Schatz geborgen werden konnte. Können Sie es noch mal an einem Beispiel machen?
Schmidt-Czaia: Ja! Vielleicht nenne ich noch mal den Vorlass Günter Wallraff. Günter Wallraff hatte nach einem Brand in seinem Privathaus seinen gesamten Vorlass bei uns eingelagert, und auch der war vom Einsturz betroffen. Ich glaube, es war drei, vier Wochen später, man brach die Reste des Kellers schon ab, als unter einer Platte praktisch ganz unbeschädigt der gesamte Vorlass Günter Wallraffs wieder aufgetaucht ist. Es kam mir ein bisschen wie ein Wunder vor in der Situation. Das lag da ein bisschen angestaubt, die Kartons, aber alles noch völlig intakt. Und ich weiß, dass ich ihn damals angerufen habe, um ihm die freudige Nachricht zu überbringen, und er war völlig gesetzt, ganz ruhig. Er war gar nicht aufgeregt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er hat vielleicht auch damit gerechnet, dass dem nichts passiert.
"Wir spüren viel stärker die Verantwortung"
Fischer: Archive sind ja im Grunde eine ziemlich papierene Angelegenheit, und viele Menschen sind der Ansicht, dass vielleicht nicht alles aufbewahrt werden müsste, was es gibt, weil es immer auch viel zu viel gibt oder mehrfach alles gibt. Man müsse in Bibliotheken gar nicht alles aufbewahren, was je gedruckt wurde. – Sie sind in Ihrem Leben leidenschaftliche Archivarin und kämpfen auch für das System. Hat sich Ihre Sicht auf Ihren Beruf oder aufs Archivieren selber durch dieses Unglück noch mal verändert?
Schmidt-Czaia: Ja, das Risiko-Management nimmt selbstredend eine ganz andere Stellung ein als vor dem Einsturz. Praktisch entscheiden wir schon bei der Übernahme eines Bestandes in das Archiv. Wir bewerten vorher. Es kommt nicht mehr Unbewertetes ins Archiv, was vorher schon mal passiert ist, sondern wir spüren viel stärker die Verantwortung für das, was zu uns kommt. Das heißt, es findet im Vorfeld eine Bewertung statt. Alles muss möglichst schnell erschlossen werden, damit es auch zugänglich ist. Nur zugängliches Archivgut kann verpackt werden, endgelagert werden, den Menschen zugänglich gemacht werden und gegebenenfalls auch digitalisiert werden. Das alles ist Teil eines Risiko-Managements, damit so was in Zukunft nicht passiert.
Fischer: Was ist denn für einen Archivar oder eine Archivarin der Unterschied zwischen einem Original-Dokument und einem rekonstruierten oder eventuell nur noch digital auffindbaren Werk?
Schmidt-Czaia: Schon das Archivgesetz verpflichtet uns ja dazu, tatsächlich die Originale zu erhalten. Es ist mit Digitalisaten nicht getan. Das dürfen wir nicht. Wir müssen archivieren und überliefern im Entstehungszustand. Wenn eine Akte als Papierakte entstanden ist, muss sie als solche auch der Nachwelt überliefert werden. Wir können sie schutzdigitalisieren. Das machen wir natürlich auch, wenn sie stark angegriffen ist oder stark genutzt wird, und dann bieten wir zunächst mal ein Digitalisat an. Aber wichtig ist, dass das Original wiederhergestellt wird. Da kommen wir gar nicht drum herum.
Familienforschung und Erbenermittlung
Fischer: Vor vielen Jahren haben Sie bei einem Treffen der Archivare aus ganz Deutschland mal gesagt, Archive sicherten unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung. Das ist ein großes Wort, finde ich, ebenso wie das vom Archiv als Gedächtnis, als Erinnerungsspeicher unserer Gesellschaft oder einer Stadt. Was heißt das denn konkret?
Schmidt-Czaia: Wir sind ja laut Archivgesetz verpflichtet, als Stadt Köln ein Archiv zu unterhalten, und man geht immer davon aus, dass sich nur die Forschung für das interessiert, was in Archiven liegt. Aber wir beantworten tausende von Anfragen im Jahr. Da geht es um Familienforschung, aber es geht auch um Erbenermittlung, um Erbrecht, wer ist näher am Erbe. Und wenn man zum Beispiel an die Archive im Osten Deutschlands denkt, dann weiß man, nach der Wende haben die Jahrzehnte damit verbracht, erst mal Eigentumsfragen zu klären, und auch das trägt ja zu unserer Rechtsordnung bei, dass solche Klagen wie Eigentum, Recht auf Erbe und Ähnliches geklärt werden können. Das sichert eigentlich den Frieden in unserem Land.
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