Mit der Leitzins-Senkung betreibe die EZB in erster Linie eine Wirtschaftspolitik, die sich an Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland richte, sagt Jürgen Stark, Direktoriumsmitglied der EZB, im Interview mit dem Deutschlandfunk. "Die Zinssenkung soll Banken in diesen Ländern ermutigen, wieder neue Kredite zu vergeben", sagt Stark. Doch in diesen Ländern seien noch unglaublich viele sogenannte faule Kredite im Markt. Die müssten die Häuser zuerst einmal loswerden, bevor sie bereit seien, neue Kredite zu vergeben.
Zudem kritisierte Stark den eingeführten Strafzins für Banken, die überschüssiges Geld bei der Notenbank einlagern. "Kein Geldinstitut kann dazu gezwungen werden, neue Kredite zu vergeben", sagte Stark. Die Zinssenkung sei daher ein großes Experiment und ein verzweifelter Versuch, die Kreditvergabe anzukurbeln.
Kein Elan für Reformen
Außerdem äußerte Stark die Sorge, dass die Regierungen der südlichen Länder Europas nicht mehr den nötigen Elan aufbringen könnten, um nötige Reformen in ihren Ländern umzusetzen. "Die Zinssenkung ist ein falscher Anreiz", sagte Stark.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Es ist gekommen, wie alle erwartet haben. Aus Sorge vor wirtschaftlicher Schwäche und Preisverfall in Europa zieht die Europäische Zentralbank alle Register. Billiges Geld wie nie zuvor, neue Notkredite und Strafzinsen für Banken sollen das schwache Wachstum anschieben, die stockende Vergabe von Krediten ankurbeln und im Kampf gegen die gefürchtete Deflation helfen, die ruinöse Spirale aus fallenden Preisen, fallenden Löhnen und rückläufiger Wirtschaftsleistung zu überwinden. Wenig Zuspruch erfährt EZB-Präsident Mario Draghi dafür aus Deutschland. Im Gegenteil: Er muss ziemlich viel Prügel einstecken. Zu den kritischen Stimmen gehört auch Jürgen Stark, der ehemalige Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Stark.
Jürgen Stark: Schönen guten Morgen.
Barenberg: Wir reden ja über ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Ein zentraler Bestandteil, ein zentraler Gedanke ist wohl die Möglichkeit, viel Geld dorthin zu lenken, wo es bisher nicht recht ankommen will: bei den Unternehmen nämlich, die dann investieren, Arbeitsplätze schaffen, Wachstum generieren. Klingt ja für den Laien zunächst einmal sehr nachvollziehbar. Warum kann dieser Plan in Ihren Augen denn nicht aufgehen?
Stark: Das Problem ist doch, dass wir in bestimmten Ländern nach wie vor ungelöste Probleme des Bankensektors haben. Wir haben in Italien, aber auch in Spanien sehr hohe sogenannte faule Kredite, die bis zu zehn Prozent oder deutlich über zehn Prozent des gesamten Kreditvolumens ausmachen, und in einem solchen Umfeld ist es natürlich sehr schwierig zu erwarten, dass die Banken, ehe sie sich von den faulen Krediten getrennt haben, wieder bereit sind oder in der Lage sind, Kredite zu vergeben. Das was die EZB jetzt tut, ist zu versuchen, den niedrigen Zins, den man hat, zu transferieren, zu transformieren in diese Länder, aber man kann keine Bank zwingen, Kredite zu vergeben, wenn auf der anderen Seite kein rentables Projekt steht. Das ist ein Versuch, man kann auch sagen ein verzweifelter Versuch, das Kreditgeschäft wieder in Bewegung zu bringen, aber die strukturellen Probleme, die diese Länder haben, lassen sich dadurch nicht lösen.
Bestimmte Länder als Ziel
Barenberg: Und der Plan kann nicht aufgehen, dass die Bank die Vergabe von Krediten zukünftig an die Bedingung knüpfen will, dass das Geld tatsächlich an die Unternehmen, an die Wirtschaft weitergereicht wird, weiterverliehen wird?
Stark: Man muss ja unterscheiden zwischen dem, was eine Zentralbank zu tun hat. Das ist Geldpolitik und im Rahmen der Geldpolitik ihre Hauptaufgabe, nämlich Preisstabilität zu sichern, zu gewährleisten und zu erreichen. Das was jetzt geschieht mit diesen Auflagen, das zusätzliche Geld, das geschaffen wird, das den Banken zur Verfügung gestellt wird in einem Volumen von 400 Milliarden Euro, dass dies weitergereicht wird in Form von Krediten, das geht in den Bereich der Wirtschaftspolitik. Damit hat die EZB nichts zu tun. Und sie muss ja auch dann letztendlich kontrollieren, ob die Liquidität, die sie gibt, auch sinngemäß verwendet wird. Das heißt, wir haben zusätzliche Kontrollmechanismen, zusätzliche Kontrollen über die Verwendung der Liquidität. Das hat Herr Draghi gestern auch noch einmal deutlich gesagt. Und damit bewegt sich die EZB eindeutig in die Richtung wirtschaftspolitischer Feinsteuerung, einer sektoralen und regionalen Geldpolitik, wenn man so sagen will. Das ist nicht ihre Aufgabe und sie verlässt den Pfad einer einheitlichen Geldpolitik für das Währungsgebiet insgesamt. Sie hat ganz bestimmt zum Ziel bestimmte Länder.
Barenberg: Sie sagen, die EZB soll sich da nicht einmischen, das ist Sache der Wirtschaftspolitiker und nicht derjenigen, die sich um Geldpolitik kümmern. Nun hat sie diesen Plan aber vorgelegt. Meinen Sie denn, dass er gar nicht klappen kann?
Stark: Das wird sich zeigen. Das ist ein großes Experiment. Wir haben ein Beispiel in dem Vereinigten Königreich, in England. Die englische Zentralbank hat ein solches Programm ebenfalls gefahren mit sehr zweifelhaften Ergebnissen, keinen eindeutigen Ergebnissen, und soweit muss man nun abwarten, ob das nun, was die EZB vorhat, wirklich funktioniert. Es ist ein Experiment mit unsicherem Ausgang.
IWF fordert aggressivere Geldpolitik
Barenberg: Da sind ja viele sehr skeptisch, Herr Stark. Können Sie uns erklären, warum der Internationale Währungsfonds gestern die Entscheidung der EZB in höchsten Tönen gelobt hat?
Stark: Der Internationale Währungsfonds, aber auch die OECD in Paris verlangen seit vielen, vielen Monaten eine aggressivere Geldpolitik, mehr Liquidität in den Markt zu geben, nachdem die Bilanz in den letzten Quartalen der EZB etwas zurückgegangen ist. Das heißt, der IWF und die OECD erwarten, dass die strukturellen Probleme, die wir in Europa haben, durch immer mehr Geldschaffung, oder sagen wir durch Drucken von Geld gelöst werden. Damit wird aber – und das vergessen IWF und auch die OECD – der Anreiz für die Regierungen genommen, die Strukturreformen im Arbeitsmarkt – wenn man eine Arbeitslosenquote von elf bis zwölf Prozent hat, funktioniert der Arbeitsmarkt nicht mehr –, dass man diese Strukturreformen durchführen muss. Mit diesem Handeln der EZB wird ein negativer Anreiz gesetzt, eine solche Reformpolitik, die vielleicht in einigen Ländern gerade mal in Ansätzen erkennbar ist, wirklich durchzusetzen.
Barenberg: Mario Draghi, der EZB-Chef, hat die Euro-Zone ja im Sommer 2012 mit seinen wenigen Worten, aber berühmten Worten inzwischen geradezu vor dem Kollaps bewahrt. Er hat ja offenbar doch ein gutes Gespür für den richtigen Zeitraum. Kann man ihm denn zumindest zugutehalten, dass er jetzt Zeit gekauft hat, noch mehr Zeit für die Reformen, die Sie anmahnen?
Stark: Entschuldigung! Diese Zeit hat die EZB seit 2008 gekauft, seit der Eskalation der Krise im Herbst 2008. Wir sind also jetzt im sechsten Jahr. Und wenn ich mir den Zeitrahmen anschaue, wie lange nun das Programm gerade gegenüber den Banken, dass sie die Kredite weiterreichen an die Privatwirtschaft, laufen sollen – das geht bis 2018 -, dann haben wir zehn Jahre Notstand, so kann man fast sagen, zehn Jahre Zeit gekauft, und diese Zeit ist nicht sehr sinnvoll bisher genutzt worden. Gut, man kann noch mal Zeit kaufen, aber noch einmal: Es ist ein falscher Anreiz gegenüber den Regierungen. Ich kann, Sie können sicher sein, dass bestimmte Regierungen im Süden, insbesondere Italien, aber auch Frankreich, nicht mehr den Elan haben werden, um Reformen wirklich anzupacken und durchzusetzen mit diesem Paket, was Herr Draghi nun angekündigt hat, was umgesetzt wird, und es sind ja noch weitere Maßnahmen angekündigt worden. Es kommt also wahrscheinlich noch mehr.
Barenberg: ..., sagt Jürgen Stark, der frühere Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied in der Europäischen Zentralbank. Danke schön für das Gespräch heute Morgen.
Stark: Ich bedanke mich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.