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Lenin
Symbolfigur der Sowjetunion

Die russische Oktoberrevolution vor 100 Jahren wäre nicht denkbar gewesen ohne Wladimir Iljitsch Lenin. Der Anführer der Bolschewiki hatte lange auf den Umsturz hingearbeitet. Den verschlungenen Weg, den Lenin dabei zurücklegte, schildert der britische Historiker Victor Sebestyen in seiner neuen Biographie.

Von Michael Kuhlmann |
    Beginn der Russischen Revolution im Oktober 1917: Wladimir Iljitsch Lenin wendet sich auf dem Roten Platz in Moskau zu den Menschen.
    Beginn der Russischen Revolution im Oktober 1917: Wladimir Iljitsch Lenin auf dem Roten Platz in Moskau (imago / United Archives International)
    Wer sich nicht ohnehin mit der russischen Geschichte auskennt, der erlebt bei Victor Sebestyen einige Überraschungen. Das beginnt schon im Prolog, in dem es um die Oktoberrevolution geht. Sie sei ein haarsträubend stümperhaftes Unternehmen gewesen, das nur deshalb gelang, weil Lenins Gegner noch dilettantischer agiert hätten. Und ein Unternehmen, das relativ geräuscharm über die Bühne ging – am spektakulärsten bei der Besetzung des Winterpalais etwa war nach Angaben des Autors noch das Saufgelage im Keller, bei dem die Bolschewiki die edlen Weinvorräte des Zaren zur Strecke brachten.
    Zum geläufigen Bild des brillanten Denkers Lenin an der Spitze ausgekochter Berufsrevolutionäre passt solch ein Umsturz nicht so recht. Aber Sebestyen möchte auch noch mit einem anderen Befund aufräumen:
    "Viele Historiker waren der Meinung, dass der sowjetische Kommunismus seine bekannte Entwicklung genommen habe, weil Lenin ein westliches philosophisches Modell in einem rückständigen Land eingeführt habe. Tatsächlich ist aber eher das Gegenteil wahr: Lenin machte aus europäischem Gedankengut eine sehr russische Schöpfung. Seine Version des Marxismus, vor allem dessen Intoleranz und Grausamkeit, hatte sich in Lenins eigener revolutionärer Erfahrung als Russe im 19. Jahrhundert herausgebildet."
    Lenin als Vorläufer heutiger Populisten
    Geboren war Lenin 1870 – nicht im proletarischen Milieu, wie man das im Ostblock gern erzählte, sondern als Sohn des gehobenen Bürgertums in der tiefsten Provinz. Er hätte nie ein Jurastudium beginnen können, hätte ihm nicht der Direktor seines Gymnasiums den Weg geebnet: ein gewisser Fjodor Kerenski, der Vater jenes Ministerpräsidenten Kerenski, den Lenin 1917 verjagen sollte.
    Lenins älterer Bruder wurde vom Zarenregime als Oppositioneller hingerichtet. Auf diesen Schock hin politisierte sich der junge Wladimir Iljitsch. Er wurde zum glühenden Marxisten, der die Sozialdemokratische Partei Russlands nach und nach unter seine Kontrolle brachte, obwohl er zu ihrer radikalen Minderheit zählte. Aber, so Sebestyen:
    "Lenin bot einfache Lösungen für komplexe Probleme an. Und er log schamlos. Ein glänzender Redner war Lenin nicht. Seine Stärke war es, eine Sache direkt und schnörkellos so in Worte zu fassen, dass jeder sofort begriff, wie die Welt sich verändern ließe, wenn man nur auf ihn und seine Bolschewiki hören würde. Mit dreistem Zynismus versprach er den Leuten alles und jedes."
    Lenins Idole: nicht nur Marx und Engels
    Für Sebestyen war Lenin also ein Populist. Und nicht nur Marx' kühle Theorien hätten ihn geprägt, sondern ebenso Nikolai Tschernyschewskis 1862 erschienener Roman "Was tun?". Die Geschichte eines Revolutionärs, der sich eine freie Welt ohne Armut und Hunger wünscht. Dieser Romanheld ist allerdings ebenso radikal wie eiskalt - und gerade darin, führt der Autor aus, sollte ihm Lenin später ähneln.
    "Er wollte die Macht um ihrer selbst willen. Aber er glaubte wirklich, dass er sie dafür nutzen würde, um das Leben der Mehrheit der Bevölkerung zu verbessern. Damit rechtfertigte er die Lügen, den Betrug und den Terror. Jedes Mittel war akzeptabel, solange es dem Erreichen der sozialistischen Utopie diente."
    Lenin sei alles andere als ein Menschenfreund gewesen: Als 1892 eine Hungersnot in der Wolgaregion 400.000 Menschen dahinraffte, sei ihm nur wichtig gewesen, dass diese Katastrophe die Zarenherrschaft schwächte. Die sterbenden Bauern seien ihm 1892 genauso egal gewesen wie 1918. Für die Hungersnot nach dem Krieg machte er zunächst vermeintlich reiche Bauern verantwortlich. Später fand er andere Sündenböcke, gegen die er per Dekret den Mob aufhetzte, zum Beispiel gegen die Geistlichen.
    "Zwei Jahre nach Lenins Edikt waren über dreißig Bischöfe und tausendzweihundert Priester getötet, Tausende verhaftet worden. Laut Augenzeugenberichten wurden Erzbischof Andronik in Perm die Augen ausgestochen, die Wangen durchbohrt und die Ohren abgeschnitten, bevor man ihn erschoss. Bischof Hermogen von Tobolsk wurde mit einem Stein um den Hals in den Fluss geworfen. Gleichzeitig machten die Bolschewiki durch den Kirchenraub eine gigantische Beute."
    Terror, Angst, Macht
    Denn Geld brauchten die Bolschewiki - Lenin fürchtete stets, die Macht wieder einzubüßen. Deshalb, so Sebestyen, der Terror, deshalb der Verrat an einstigen politischen Freunden. Damit habe er den Kurs vorgegeben für mehr als sieben Jahrzehnte.
    "Während ihrer gesamten Existenz identifizierte sich die Sowjetunion mit ihrem Staatsgründer. Sie wurde weitgehend durch seine Persönlichkeit geprägt: heimlichtuerisch, misstrauisch, intolerant, asketisch, unbeherrscht. Die anständigen Seiten seines Charakters hielten keinen Einzug in die öffentliche Sphäre seiner Sowjetunion."
    Die zügellose Gewalt wohnte dem Regime demnach schon vor Stalin inne. Warum Lenin und die Sowjetunion so wurden, wie sie waren, das führt Victor Sebestyen dem Leser detailliert und schlüssig vor Augen. Stiefmütterlich allerdings behandelt er Lenins politische Ideologie. Er erklärt auch nicht, warum Lenin während seines Exils in London das britische System der Gewerkschaften bewunderte, ein System, das er in Russland nie akzeptiert hätte. Und warum wollte er bei seiner Reise durch Deutschland 1917 kein Wort mit seinen deutschen Anhängern wechseln, um sich Tage später mit den schwedischen Genossen zu verbrüdern? Vielleicht weil es dort in Malmö zum ersten Mal nach der tagelangen Eisenbahnfahrt wieder etwas zu essen gab? Laut einer schwedischen Kellnerin sollen die Bolschewiki über das Büffet hergefallen sein wie eine Horde Barbaren.
    Millionen Goldmark für Lenin
    Vielleicht aber fürchtete Lenin auch, zuhause des Verrats bezichtigt zu werden? Ohne die Hilfe des Kriegsgegners Deutschland freilich - etliche Millionen Goldmark - hätte es die Oktoberrevolution 1917 nie gegeben. Diese Hilfe kam aber nicht von linken Spartakisten, sondern - von der kaiserlichen Regierung. Von denen – so möchte man hinzufügen -, die später die Legende vom Dolchstoß aufbrachten, mit der die deutsche Linke angeblich das unbesiegte Heer zu Fall gebracht habe. Aber es war eben dieses wilhelminische Deutschland, das mit seinem Geld für Lenin dem Westen jenen Dolchstoß versetzte, an dessen Folgen die Demokratien mindestens bis 1989 zu leiden hatten.
    Victor Sebestyen: "Lenin. Ein Leben."
    Rowohlt Berlin, 703 Seiten, 29,95 Euro.