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"Politisches Testament“ von 1923
Als Lenin vor der Skrupellosigkeit Stalins warnte

Nachdem Wladimir Iljitsch Lenin 1922 als Staatschef Russlands schwer erkrankt war, übernahm Josef Stalin die Führung der Kommunistischen Partei. In einem Brief vom 4. Januar 1923 warnte Lenin vor Stalin: Dieser sei zu grob und müsse abgelöst werden.

Von Otto Langels |
Stalin und Lenin,1919 in Moskau auf dem VIII. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands. Gefunden in der Sammlung des Staatlichen Museums für Zeitgeschichte Russlands.
Stalin und Lenin 1919 in Moskau auf dem VIII. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands. (picture alliance / Heritage Images / Fine Art Images)
„Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden.“
So warnte Wladimir Iljitsch Lenin in einem Schreiben vom 4. Januar 1923, das als „politisches Testament“ des russischen Revolutionsführers in die Geschichte einging. 

Lenin war zuletzt handlungsunfähig

Lenin war die herausragende Gestalt der Oktoberrevolution, Parteivorsitzender der kommunistischen Bolschewiki und Regierungschef der kurz zuvor gegründeten Sowjetunion. Doch nach mehreren Schlaganfällen war er kaum noch handlungsfähig. Der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski: „Lenin konnte in seinen letzten Lebensjahren, als er sterbenskrank war, gar keine Entscheidung mehr treffen. Und faktisch war Lenin, als er 1924 starb, seit zwei Jahren völlig isoliert, und einmal hat man ihn im Rollstuhl noch in den Kreml gebracht.“

Stalin wenig schmeichelhaft beschrieben

In seinem „Testament“ kritisierte Lenin Josef Stalin scharf. An die Spitze des Parteiapparates gehöre ein Mensch, der toleranter, loyaler, höflicher, den Genossen gegenüber aufmerksamer und weniger launenhaft sei.
„Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte.“

Der extreme Terror des frühen Stalins

Für die Nachfolge an der Parteispitze und damit faktisch als Herrscher der Sowjetunion wünschte sich Lenin eine kollektive Leitung. Aber angesichts der gegensätzlichen Charaktere der in Frage kommenden Politbüromitglieder Trotzki, Bucharin und Stalin war eine solche Lösung illusorisch.
Insbesondere Stalin, der sich im Bürgerkrieg als Vertreter des sogenannten Kriegskommunismus durch extremen Terror gegen „Konterrevolutionäre“, aber auch gegen die eigene Bevölkerung hervorgetan hatte, galt als wenig kompromissbereit, sagt Jörg Baberowski: „Stalin war der Exponent dieser Bürgerkriegsmentalität, der Rücksichtslosigkeit und der Brutalität, die Lenin ja auch vertreten hat. Aber er hat offenkundig in den letzten zwei Jahren seines Lebens Gedanken darüber angestellt, wie man das Staatsschiff wieder in ruhige Gewässer bringen könne. Und Stalin war in dieser Hinsicht nicht jemand, der dafür ein Garant gewesen wäre.“
In seinem Schreiben vermied Lenin allerdings ultimative Forderungen. Als schwerkrankem Mann fehlte ihm das nötige Durchsetzungsvermögen, und anders als später Stalin verfügte er auch nicht über die Macht eines Diktators, so Jörg Baberowski: „Es gab keinen Führer der bolschewistischen Partei, es gab ein Zentralkomitee und ein Politbüro. Lenins Autorität beruhte darauf, dass er der älteste Revolutionär war. Die war aber nicht institutionell verankert.“

Hat Lenin sein "Testament" selbst verfasst?

Sein „Testament“ blieb folgenlos. Es sollte ursprünglich auf dem Parteitag der Kommunisten im April 1923 verlesen werden, wurde jedoch vom engsten Führungsgremium, dem Politbüro, zurückgehalten - auch nach seinem Tod im Januar 1924.
Erst später kam die Frage auf, ob Lenin überhaupt noch in der Lage gewesen sei, seine Vorschläge über die Zukunft der Partei aufzuschreiben, Jörg Baberowski: „Wir wissen das nicht genau, ob das ein authentisches Dokument war. Manche Historiker bestreiten es, dass Lenin selbst dieses Testament verfasst hat. Darauf kommt es am Ende ja gar nicht an. Es kommt darauf an, wie das im Machtkampf benutzt wurde, in dieser Auseinandersetzung zwischen seinen Nachfolgern.“  

Warum sich Stalin dennoch durchsetzte

Der Kampf um die Macht fand hinter den Kulissen statt. Trotz der vorherigen Warnungen Lenins ging Josef Stalin als Sieger daraus hervor. Die radikalste und brutalste aller Figuren, so Jörg Baberowski, hatte sich mit Hilfe des allmächtigen Parteiapparats durchgesetzt. „Stalin gehörte immer zum Führungskreis. Er war immer Mitglied im Politbüro, aber er war auch Mitglied im Organisationsbüro und Mitglied im Sekretariat des Zentralkomitees. Er war nur die graueste aller Figuren in diesem Führungskreis.“

Das weitere Schicksal von Lenins „Testament“

Lenins „Testament“ blieb in der Schublade. Erst 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, informierte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU in einer berühmten Geheimrede die Delegierten über den Inhalt.
„Chruschtschow hat es wieder hervorgeholt, weil Chruschtschow die Erinnerung an den Revolutionsführer und den Staatsgründer wieder an die Öffentlichkeit bringen wollte, und weil er Stalin diskreditieren wollte.“
Chruschtschow nutzte Lenins „Testament“, um seine innerparteiliche Position zu stärken, sich vom Personenkult und den Verbrechen Stalins zu distanzieren und den Stalinismus als destruktive Abweichung innerhalb der sowjetischen Geschichte darzustellen.