Marcel Anders: Herr Kravitz, angeblich sind Ihnen die Songs des neuen Albums im Traum erschienen. Stimmt das?
Lenny Kravitz: Ja, sie sind einfach so gekommen… Aus dem Nichts. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht, habe mir mein Aufnahmegerät gegriffen und bin ins Studio. Das war´s. Und wenn so etwas passiert, also wenn mir Songs im Traum erscheinen, hinterfrage ich sie nicht. So ist einer nach dem anderen entstanden. Meine inneren Schleusen haben sich geöffnet und das Album ist regelrecht aus mir herausgeströmt.
Anders: War das in den Bahamas – auf der Insel Eleuthera, auf der sie schon ein paar Jahren leben?
Kravitz: Es hätte überall sein können – aber es ist dort passiert. Ich habe da einen netten Ort, an dem ich lebe und arbeite. An dem ich ganz tief in mich hineinhorchen kann und wo ich mein Equipment habe. Es ist einfach MEIN Ort – mit einem wunderbaren Vintage-Studio und Instrumenten, die ich über die Jahre zusammengetragen habe und die umwerfend klingen.
Anders: Was hat es mit dem Stück "Johnny Cash" auf sich? Basiert diese Hommage an den legendären "man in black" ebenfalls auf einem Traum oder haben Sie ihn persönlich getroffen?
June Carters und Johnny Cashs Konzept der tiefen Liebe
Kravitz: Das war eine echte Situation. Ich habe damals bei Produzent Rick Rubin in Los Angeles gewohnt. Wir waren gute Freunde, und ich hatte einen Teil seines Hauses, über den ich frei verfügen konnte. Zur selben Zeit lebte dort auch Johnny Cash, der an einem seiner letzten Alben gearbeitet hat. Die Geschichte, um die es in dem Song geht, ereignete sich an dem Tag, als ich von einer Japan-Tour zurückgekehrt bin. Ich war erst zu Besuch bei meiner Mutter, die mit unheilbarem Krebs im Krankenhaus lag. Dann bin ich rüber zu Rick, um zu duschen und mir etwas zu essen zu machen. Doch als ich dort eintraf, war meine Mutter gestorben. Ich bekam den Anruf, als ich das Haus betrat. Ich stand da völlig fassungslos - und in dem Moment kamen Johnny und June auf mich zu und fragten, ob alles in Ordnung sei. Als ich ihnen erzählte, was passiert ist, haben sie mich in den Arm genommen und getröstet. Was unglaublich süß war – voller Liebe. Sie sagten die wunderbarsten Sachen zu mir.
Das Stück "Johnny Cash" basiert auf diesem Gefühl, das irgendwo in meinem Unterbewusstsein verankert gewesen sein muss. Ich singe da: "Halte mich wie Johnny Cash – flüstere mir ins Ohr wie June Carter." Was zeigt, wie sehr mich diese intensive Liebe und dieses Gefühl von Geborgenheit bewegt haben. Die Tatsache, dass sie sich die Zeit genommen und mich wie ein Mitglied ihrer Familie behandelt haben - weil sie wussten, dass ich das brauche -, war einfach menschlich. Es war dieses Konzept von tiefer, aufrichtiger Liebe. Das ist eines der Hauptthemen auf diesem Album.
Anders: So etwas wie Ihre Antwort auf den Zeitgeist? Ihr Mittel gegen Gier, Hass, Korruption und Ignoranz?
Kravitz: Und die damit verbundene Zerstörung. Aber momentan passiert auch etwas Positives, was ich sehr aufregend finde. Denn es ist offensichtlich, dass viele Leute aufwachen. Dass die Jugend wieder bereit ist, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und Missstände zu ändern. Darauf hoffe ich. Ich finde es toll, dass sie aufbegehrt.
Trump ist ein surrealer Nebeneffekt
Anders: Wie bei den Frauenmärschen gegen Trump – und bei den Schülerprotesten gegen die Waffenlobby?
Kravitz: Es war sehr erfrischend, das zu sehen. Mittlerweile marschieren die Leute für alle möglichen Sachen. Für Menschenrechte, für die Umwelt, für dies und das. Nur: Da muss noch mehr kommen. Wir müssen aufstehen, uns Gehör verschaffen, aber auch Maßnahmen ergreifen.
Anders: Um es überspitzt zu formulieren: Hat Trump demnach einen positiven Effekt – weil er uns quasi aufgeweckt hat? Brauchten wir jemanden wie ihn, um unsere politische Lethargie zu überwinden?
Kravitz: Es ist nicht nur Trump. Auch, wenn das ein interessanter Nebeneffekt ist. Ein sehr surrealer. Aber es erstreckt sich auf die ganze Welt, wo so viel Ungerechtigkeit herrscht, wo so viele korrupte Regierungen an der Macht sind. Überall passiert etwas.
Anders: Sehen Sie sich als Sprachrohr der Bewegung oder warum nennen Sie Ihr neues Album "Raise Vibration" – also "Schwingungen erzielen"? Liefern Sie einen musikalischen Anstoß zur Rebellion, zum Widerstand, zum Umsturz?
Keine Waffen, sondern den Verstand benutzen
Kravitz: Ich sage, was ich fühle. Ich tue mein Bestes, um so wach zu sein, wie ich nur kann - und das Beste zu tun, was in mir steckt. Auf eine gewaltfreie Art und Weise. Deshalb rede ich auf dem Album über Gandhi, über Martin Luther King und Jesus Christus. Denn sie haben keine Waffen gebraucht, sondern ihren Verstand und ihren Mund. Sie hatten Ideen und Geduld. Viel Geduld sogar. Was wir momentan auf der Welt erleben, ist halt nicht sonderlich toll – um es mal so zu formulieren. Deshalb muss da etwas passieren. Deshalb brauchen wir positive, kollektive Schwingungen.
Anders: Weil die politische Kultur an die 50er Jahre erinnert – als hätte es die Bürgerrechtsbewegung, die Studentenproteste und die Anti-Atom-Demonstrationen nie gegeben?
Kravitz: Und das ist wirklich interessant. Ich meine, ich war damals noch ein Baby. Aber als ich aufgewachsen bin und angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, gab es so viele Leute, die für ihre Überzeugung und ihre Sicht der Dinge eingestanden sind. Aber seit einigen Jahren tut das kaum noch jemand. Wir haben nicht mehr diese Denker und Lenker, die wir damals hatten. Deshalb ist es Zeit für etwas Neues – für eine neue Protestbewegung. Und ich glaube, was ich sage. Ich will, dass meine Aussagen Fragen aufwerfen. Wobei ich immer versuche, optimistisch zu sein.
"Es gibt, Prince-Alben, auf denen ich mitwirke"
Anders: Ist dass der Grund, warum das Album – rein musikalisch – an Prince erinnert? Warum es so funky und hedonistisch klingt?
Kravitz: Ich hatte einfach das Gefühl, dass er bei mir ist – dass ich seine Präsenz spüre.
Anders: Inwiefern? Hat er mit Ihnen kommuniziert?
Kravitz: Nichts in der Art. Ich habe seinen Vibe wahrgenommen. Was sehr interessant war. Nicht, dass ich wie er klingen wollte. Ich hatte nur das Gefühl, dass er bei mir ist.
Anders: Wie gut kannten Sie sich?
Kravitz: Er hat mich 1990/1991 angerufen – nach der "Let-Love-Rule"-Tour. Wir haben uns getroffen und waren Freunde bis zu seinem Tod. Wir haben zusammen gespielt, er ist zu meinen Shows gekommen und ich zu seinen. Wir haben oft gejammt und auch diverse After-Show-Partys bestritten. Wir haben zusammen aufgenommen. Und es gibt Prince-Alben, auf denen ich mitwirke, ohne dass es jemand weiß – denn wir haben es niemandem gesagt. Es waren kleine Souvenirs, wie er es nannte. Nach dem Motto: "Wir wissen es."
Anders: "Raise Vibration" erscheint nächsten Freitag. Trotzdem arbeiten Sie angeblich schon am Nachfolger. Warum die Arbeitswut?
Kravitz: Ich will nicht zu viel verraten, weil es noch nicht fertig ist. Aber: Es ist ein Album, das mit einem Film einhergehen wird. Das quasi als Soundtrack fungiert. Und es wird sehr rau und funky ausfallen. Außerdem werden diverse Pioniere des Funk und Jazz dabei sein.
Anders: Wie George Clinton, Fred Wesley und Kenny Burrell?
Kravitz: Ja, Maceo Parker und all die coolen Typen.
Anders: Weil man mit ihnen arbeiten muss, ehe sie sprichwörtlich wegsterben? Weil sie halt immer älter werden?
Kravitz: Genau. Ein paar habe ich schon verpasst. Ich wollte zum Beispiel etwas mit Bernie Worrell machen. Wir hatten auch telefoniert, um einen Termin zu finden. Aber er ist gestorben, ehe es dazu kam. Die Pioniere verlassen uns. Und auch wir wissen nicht, wann unsere Stunde schlägt. Selbst die jüngeren von uns.
Anders: Was ist mit Ihnen – halten Sie es mit den Rolling Stones? Werden Sie so lange Musik machen, bis man Sie im Sarg nach Hause schickt?
Kravitz: Nichts lieber als das! Wenn ich mir Mick und die Jungs so anschaue, ist das doch wunderbar. Sie machen es immer noch, was unglaublich ist. Und es gibt viele, die bis zum letzten Tag aktiv waren – etwa B.B. King. Er musste am Schluss im Sitzen spielen, hat aber trotzdem weitergemacht. Und was hätte er sonst tun sollen? Zu Hause sitzen und sich langweilen? Wenn du Musiker bist, hörst du nicht einfach auf.
Anders: Also sehen wir Sie mit 70 noch auf der Bühne?
Kravitz: Ich werde immer Musik machen – meine Musik. Und 70 ist heute jung. Also, vorausgesetzt, man ist gut beisammen. Man ist gesund und achtet auf sich. Ich sehe Typen im Fitnessstudio, die mit 80 noch jeden Tag trainieren, die total fit sind. Was einfach an jedem einzelnen liegt: Du kannst 25 und völlig außer Form sein – oder 80 und in großartiger Verfassung. Ich fühle mich toll!