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Léon Poliakov: "St. Petersburg – Berlin – Paris"
Memoiren eines Davongekommenen

Léon Poliakov flieht 1920, als Kind, vor den Revolutionswirren aus Sankt Petersburg und gelangt über Berlin nach Paris. Gerät in Kriegsgefangenschaft, schließt sich der Résistance an und wird schließlich einer der ersten Historiker des Massenmordes an den Juden.

Von Thomas Palzer |
Buchcover: Léon Poliakov: „St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen“ und Holocaust Denkmal in Paris
Léon Poliakovs geschichtsschwere Memoiren: „St. Petersburg – Berlin – Paris" endlich auf Deutsch (Buchcover: Edition Tiamat, Hintergrundfoto: imago images UIG / Fred de Noyelle / Godong )
Zu Zeiten eines in Europa wiedererwachenden Antisemitismus, wo Kippa-Träger in europäischen Hauptstädten wie Berlin und Paris auf offener Straße angepöbelt und bedroht werden; wo die klar antisemitische Bewegung BDS "Boykott Desinvestitionen und Sanktionen" an deutschen Islam-Lehrstühlen Unterstützung findet und wo die kalifornische Intellektuelle Judith Butler Israel allen Ernstes auffordert, freiwillig seine Existenz aufzugeben – in solchen Zeiten ist es gut, wenn an das Schicksal der europäischen Juden unter der Naziherrschaft erinnert wird – und daran, weshalb der Staat Israel überhaupt entstanden ist. Und genau das macht der kleine Berliner Verlag Edition Tiamat mit der Neuauflage eines Buches, dessen Verfasser ein intimes Wissen über die administrativen Strukturen der Nazis und über deren Verwaltungschaos verfügt hat: der russisch-jüdische Holocaust-Forscher Léon Poliakov. Titel seines Buches: "Memoiren eines Davongekommenen".
Im Oktober 1940 lebt Poliakov in Paris und ist dreißig Jahre alt. 1920 mit den Eltern vor den Bolschewiki von Sankt Petersburg nach Paris geflüchtet, hat er Jura und Literaturwissenschaft studiert und arbeitet als Journalist mit Interesse an historischen Fragestellungen.
Im Juni 1940 gerät er als französischer Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er jedoch fliehen kann. Der Winter ist in Paris kalt und hart, zudem sind die Lebensmittel rationiert. Da passiert der Umbruch. In den "Memoiren" heißt es:
"...ab Anfang Oktober 1940 wurden auf Plakaten und in der Presse alle Juden dazu aufgefordert, sich auf den Kommissariaten ihrer Bezirke registrieren zu lassen. Mein Familienname endet auf -ov, mein Geburtsort ist Leningrad und ich war mir keiner Feinde bewusst. Insofern würde es den Deutschen kaum möglich sein, meine ‚Rassenzugehörigkeit‘ zu beweisen ... nach einer endlosen Wartefrist auf dem Kommissariat, wo ich mit einem echten Priester in Soutane in der Schlange stand, füllte ich einen Fragebogen aus und fand einen schönen roten Stempel auf meinen Papieren aufgedrückt: JUDE."
Wenige Monate später, im Mai 1941, verhaftet die französische Polizei vier Tausend polnische Juden und deportiert sie in zwei Lager.
Poliakov beginnt sich mit anderen der bangen Frage zu stellen, wann mit der Hatz auf "russische" Juden begonnen wird?
Auf der Flucht
Im Oktober 1941 befindet er sich auf der Flucht nach Marseille – in die freie Zone, die unter der Herrschaft des Vichy-Regimes und des Marschalls Pétain stehen.
In Marseille lernt er den chassidischen Rabbi Salman Schneersohn kennen, in dessen prächtigem Haus die "Vereinigung praktizierender Israeliten" residiert – eine jüdische Hilfsorganisation, die Lebensmittel an Internierte verschickt und trickreich für Bedürftige alle möglichen Bescheinigungen ausstellt.
Ein Cousin des Rabbis ist Isaac Schneersohn, der 1943 in Grenoble das "Centre de documentation juive contemporain" gründet – "Dokumentationszentrum für jüdische Zeitgeschichte" -, das heute im Pariser Viertel Marais seinen Sitz hat. Poliakov wird zu dessen erstem Mitarbeiter, womit der Grundstein für seine "Holocaust-Forschung" ebenso gelegt ist wie für sein erstes, 1951 publiziertes Buch: "Brevier de la Haine – Brevier des Hasses", in dem er vor allem den Antisemitismus als Ursache für den Völkermord ausmacht - und das nach wie vor der Übersetzung ins Deutsche harrt.
Doch auch in Marseille unter der Obhut des Rabbis und seiner Organisation praktizierender Israeliten ist Léon Poliakov alles andere als sicher:
"Die Politik des Vichy-Regimes gegenüber den Juden war widersprüchlich und inkonsequent. Im Juli 1941 waren alle Juden der ‚freien Zone‘ erstmalig erfasst worden. In der Folge lehrte eine Sintflut von Dekreten und Rundschreiben alle einen grundlegenden Unterschied, nämlich den zwischen guten und schlechten Juden. Die Stellung eines Juden war an der Dauer seines Aufenthaltes in Frankeich abzulesen. Die belgischen und holländischen Juden, die schon vor dem Einmarsch der Nazis im Mai 1940 geflohen waren, waren sehr schlecht angesehen, fast genauso schlecht wie die deutschen Juden aus Baden und der Pfalz, die eines Morges im Oktober 1940 zu zwanzigtausend festgenommen, auf Güterwagen verladen und von der Gestapo an die Demarkationslinie verbracht worden waren. Verpflichtet, sie zu übernehmen, internierten sie die Vichy-Behörden in den Lagern ... am Fuß der Pyrenäen."
Die Situation verschärft sich
Ab dem Sommer 1942 verschärft sich für Poliakov die Situation erheblich. Die sogenannte "freie Zone", bislang noch ein Zufluchtsort, verliert ihren beschränkten Schutz, da sich Pétain verpflichtet hat, den Deutschen eine erste vorläufige Anzahl ausländischer Juden auszuliefern. Gleichzeitig werden in Paris über dreizehn Tausend Juden verhaftet und in ein berüchtigtes Lager deportiert.
Ausgestattet mit einer falschen Identität, Lebensmittelmarken und einem beinahe akzentfreien Französisch, dem man dank einiger Stunden Spezialunterricht das rollende R des Russland-stämmigen nicht mehr anhört, flieht Poliakov zunächst in die Bergbaustadt Saint-Étienne und kommt bei einem Freund unter. Um seiner falschen Identität Fleisch auf die Knochen zu geben, arbeitet er in einer Papierfabrik - und dann in einem Bistro namens "L’Auberge des Musiciens – Musikantenwirtschaft". Als "Musikanten" werden zu dieser Zeit Juden im Allgemeinen bezeichnet – so, wie Kommunisten als "Pianisten" tituliert werden und Widerstandskämpfer als "Saxophonisten". Die klandestinen Wohnungen bezeichnet man als "Labore". So geht der Argot der Résistance.
Das Leben in der Résistance
"Musikantenwirtschaft" - so lautet der ursprüngliche Titel von Poliakovs 1946 geschriebenen Memoiren, für die er zunächst keinen Verleger findet, bis er 1980, als neues Interesse am Leben der Widerstandskämpfer erwacht, sie nach Aufforderung der französischen Journalisten Laure Adler zusammen mit ergänzenden Abschnitten zu seinem Leben vor und nach dem Krieg doch noch veröffentlicht. Musikantenwirtschaft - das meint gemäß dem Argot der Résistance jedoch auch Unternehmungen, die zum Schutz verfolgter Juden organisiert werden. Das meint das Herstellen gefälschter Papiere, das Verstecken von jüdischen Kindern in Klöstern und das Wegschicken der Erwachsenen in Gebiete, die als sicher gelten.
Als Kellner im Bistro "L’Auberge des Musiciens" wird Poliakov, nunmehr ausgestattet mit einem gestohlenen Stempel des Kommissariats von Marseille, selbst zum "Hersteller":
"Mein neuer Beruf brachte mich mit vielen Leuten in Kontakt und ließ mir andererseits die notwendige Zeit für meine ‚Herstellungen‘. Bei einer Gelegenheit freundete ich mich mit einem jungen Mann aus Grenoble an ... Escoffier arbeitete ... für die Résistance. Seine Tätigkeiten waren vielfältig, sie reichten von der Verteilung von Flugblättern bis hin zur Sabotage von Zügen. Er kümmerte sich auch um Waffen und kaufte sie von italienischen Soldaten."
Überflutet wird das Bistro täglich von einer bunt zusammengewürfelten Schar Juden, darunter Alexandre Kojève, der für Frankreich Hegel wiederentdecken wird und Poliakov in die Philosophie einweiht. Daneben: Verbindungsagenten; hebräische Nationalisten; Pendler zwischen den halbillegalen zionistischen Gruppen der Südzone; Frauen, die jüdische Kinder in den Kellern der Elendsviertel ausfindig machen und bei wohlwollenden Bauern unterbringen; und von anderem mehr. Dieser ganze Haufen Leute isst und schläft in der Musikantenwirtschaft ...
"...und glauben Sie mir, man aß dort gut, man ertränkte seine Nervosität, man ging geradezu in die Breite von den vielen Würsten und Schinken, dem Ragout und dem Wein."
Ende Juli 1943 wird Mussolini entmachtet und Italien wechselt die Seiten. Für Poliakov und seine Mitstreiter stellt sich die Frage, ob an die Stelle der italienischen Besatzung die deutsche treten wird.
Auf Bitten des Rabbi Schneersohn reist er nach Nizza, um die Hotels auszukundschaften und für fünfzehn Personen Zimmer zu buchen – für das übrig gebliebene Ensemble der "praktizierenden Israeliten", die man liebevoll als "Schneersohns Bande" bezeichnet. Nachdem die Nachricht die Runde macht, dass die Italiener den Waffenstillstand unterzeichnet haben, wähnt man sich vorschnell auf dem Territorium der Alliierten – doch schon bald säumen deutsche Militärkonvois die Uferpromenade.
"Für die Nazis ist Nizza der Ort, wo die Juden gerade ihr jüngstes Verbrechen begangen haben. Hier in Nizza hat Angelo Donati gewohnt, der Bankier, der die italienische Armee zur Verteidigung der Juden mobilisiert hat. An der Côte d’Azur hatte die reichsten Juden ihre Wohnsitze. Es war also auch in Nizza, wo das Weltjudentum, unterstützt von Churchill und dem Papst, seine Verschwörung gegen Mussolini angezettelt hat. Die SS glaubt sich am Tatort: Sie glaubt, dass das, was die Juden hier bisher getan hatten, nichts ist im Vergleich dazu, was sie hier noch vorhaben."
Der Terror der Gestapo
Kübelwagen fahren in Nizza plötzlich Streife - wahllos Passanten aufsammelnd und zur Synagoge bringend. Dort müssen sich die Aufgegabelten ausziehen – und zeigt sich, dass sie beschnitten sind, kommen sie ins Lager nach Drancy. An den Bahnhöfen hat man professionelle "Physiognomisten" postiert, die Juden an ihrem Äußeren erkennen sollen - und aus dem Verkehr ziehen.
Wer diese perfide Aktion leitet, ist der berüchtigte SS-Mann Alois Brunner – Mitarbeiter Adolf Eichmanns, der bei der systematischen Elimination der Juden eine zentrale Rolle spielt und am Transport von über 50 Tausend Juden nach Ausschwitz beteiligt ist. Brunner wird bis 1954 unter falschem Namen in der Bundesrepublik leben – danach wird er nach Syrien fliehen, wo er bis zu seinem Tod 2010 nahezu unbehelligt bleibt und das Assad-Regime unterstützt.
Nizza ist also ein heißes Pflaster geworden, doch Poliakov ergattert ein unangemeldetes Zimmer – eine Dachkammer, in der er sich sicher fühlt. Von hier aus organisiert er die Evakuation des Rabbi und seines Gefolges.
Bilanz der von Alois Brunner verantworteten "Aktion von Nizza":
"Von den fünfundzwanzigtausend Verfemten waren zwei- oder dreitausend erwischt und deportiert worden. Die anderen konnten sich in alle Winde zerstreuen und in den ruhigeren Städten und Landstrichen untertauchen, etwa in der Gegend von le Chambon-sur-Lignon. Von gut hundert Pfadfindern und spontanen Helfern wurde beinahe die Hälfte erwischt und deportiert."
Im April 1944 lernt Poliakov in Tence in den Cevennen den russisch-jüdischen Philosophen Jacob Gordin kennen, einen universellen Geist im Exil, dem er, wie er in den "Memoiren" vermerkt, seine Bekehrung zum Judentum verdankt. Er lernt Hebräisch und liest die Maximen der Väter – das Vorzimmer der talmudischen Weisheit.
Die Wahrheit der Archive
Im September 1944 kehrt Poliakov nach Paris zurück und quartiert sich zunächst in die schöne Wohnung von Alexandre Kojève ein, der noch nicht aus Marseille zurückgekehrt ist, bevor er in seine alte Junggesellenwohnung umzieht. Noch ist die Rationierung von Lebensmitteln und Kleidung nicht aufgehoben – und die Käufer jüdischen Eigentums haben sich mit Unschuldsmiene zur "Vereinigung der redlichen Erwerber" zusammengeschlossen. Der Philosoph Gabriel Marcel fühlt sich aufgerufen, die Juden im "Figaro Littéraire" daran zu erinnern, dass sie zu laut redeten – und die Mehrheit der jungen Intellektuellen tritt der kommunistischen Partei bei.
"Jedenfalls löste sich erst im April 1945 die verzweifelte Hoffnung in Luft auf, den Großteil der Deportierten wiederzusehen, als die amerikanische Armee die Massengräber von Buchenwald und Bergen-Belsen entdeckte, die ja noch nicht einmal tatsächliche Vernichtungslager wie Ausschwitz gewesen waren. Auch in dieser Hinsicht schien die Nachkriegszeit noch zu einer anderen Ära zu gehören, in der es angebracht war, der ‚militärischen Indoktrination‘ nicht zu glauben, nämlich jener von 1914-18. Für mich persönlich traf das auch zu – obwohl ja gerade ich in der Position gewesen war, es besser zu wissen."
Poliakov sucht nach Arbeit – und zählt vor allem auf den Cousin des Rabbis, Jacob Schneersohn – einen Großindustriellen, dem er in der Zeit der Besatzung einige Dienste erwiesen hat. Schon in Grenoble hat Schneersohn angefangen, eine Liste der "arisierten" jüdischen Unternehmen anzulegen – woraus dann das "Dokumentationszentrum für jüdische Zeitgeschichte" entstehen wird. Tatsächlich bietet Schneersohn Poliakov den Posten des Leiters der Forschungsabteilung an. Das erweist sich als guter Griff, denn im Innenministerium fällt ihm auf einem Kommissariat der Staatspolizei eine Holztruhe in die Hände, die bis zum Rand gefüllt ist mit der Registratur der Archive der Gestapo in Frankreich. Darin kann der Gründungsakt der Holocaust-Forschung gesehen werden, die natürlich damals diesen Namen noch nicht trägt. Die Truhe erweist sich metaphorisch als bodenlos, und ihre Auswertung wird Jahre in Anspruch nehmen.
"Meine Tätigkeit als Leiter der Forschungsabteilung war hier jedoch nicht zu Ende. Gegen Ende des Jahres 1945 beginnen die Nürnberger Prozesse, die die Regierungen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, der Sowjetunion und Frankreichs gegen zwanzig Verantwortliche des Dritten Reiches, allen voran Hermann Göring, eingeleitet hatten. Übrigens wurden die Prozesse von Beginn an in Frage gestellt, zumindest in den neutralen sowie den angelsächsischen Ländern, da die Sieger den Besiegten den Prozess machten und dabei zudem gegen die uralte Maxime des ‚nulla poena sine lege‘ handelten. Wie dem auch sei ... jedenfalls ließ Schneersohn die französische Delegation mich als Experten aufnehmen, in der Hoffnung auf weitere Heldentaten und Funde."
Tatsächlich wird Poliakov in den Archiven reichlich fündig und kann die Anklage der "Verbrechen gegen die Menschheit" ebenso stützen wie der "Plünderungen und Beraubungen". Es ist die Aussage eines Zeugen, die ihm bei der Niederschrift der Ergänzungen zu seinen Memoiren noch immer in den Ohren hallt:
"Die Aktion von Nowogródek war das Werk eines Kommandos der SS, das die Vernichtung aus reinem Idealismus erledigte, ohne vom Schnaps Gebrauch zu machen."
Dem Vergessen entgegenwirken
Mit seinen "Memoiren" und all den anderen Veröffentlichungen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus und zur Geschichte des Antisemitismus steht Léon Poliakov in der alten jüdischen Tradition, die dazu aufruft, dem Vergessen entgegenzuwirken. Einer säkularen jüdischen Familie entstammend, machen ihn erst der radikale Antisemitismus und die Nürnberger Gesetze zum gläubigen Juden. In seiner achtbändigen "Geschichte des Antisemitismus" legt er offen, dass die Verschwörungstheorien, die den Juden unterstellt werden, bis in den Hellenismus der Antike zurückreichen. Und in der Rassenideologe erkennt er eine verleugnete Tochter der Aufklärung, insofern dieser ja die "Klassifikation", wie sie etwa Linné entwickelt hat, entsprungen ist und mit der Orientierung an "Geist" und "Wesen" die Menschheit in höhere und niedere Rassen aufteilt.
Poliakovs "Memoiren eines Davongekommenen" sind trotz einer gewissen Inkohärenz, die den unterschiedlichen Entstehungszeiten der Texte geschuldet ist, und trotz einer Übersetzung, die häufig unbeholfen wirkt, ein außergewöhnliches Zeugnis – das Zeugnis eines "großen Leids", wie es in den "Memoiren" heißt. Das "große Leid" beginnt für Léon Poliakov, der 1910 - zwei Tage nach dem Tod Tolstois - in Sankt Petersburg geboren wird, im Sommer 1942 - ab da ist sein Leben von ständiger Gefahr und Verfolgung geprägt. In dieser Zeit besteht der Autor unzählige Abenteuer, die er lebendig zu schildern versteht und von denen er in seinem Buch Zeugnis ablegt – mit Humor und Verständnis für das Menschlich-Allzumenschliche. Im Kontrast dazu tritt dem Leser die ganze Brutalität und Absurdität des NS-Regimes vor Augen.
Die "Memoiren" sind also keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern bestechendes Zeugnis der unabweisbaren Einsicht, dass wir die Welt nicht erkennen, sondern "erleben".
In ihrem Vernichtungswillen wiederholen die Mörder laut Poliakov das Opfer, das Jesus gebracht hat und das ständig wiederholt werden muss – eine psychoanalytische Deutung, die wohl der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass um 1900 herum sich die Psychologie an den europäischen Universitäten zu etablieren beginnt: Sie vertritt der Geist der Zeit. Poliakov entlarvt das Christentum als den eigentlich Schuldigen – aber dieser Logik will die Geschichtswissenschaft nicht unbedingt folgen.
Poliakov eröffnet seine "Memoiren" mit der Bemerkung:
"Die Kindheit und Jugend, die in diesem ersten Teil geschildert werden, sind denkbar gewöhnlich angesichts von Hundertausenden im Zarenreich geborenen und in der ganzen Welt verstreuten Kindern, die sie erlebt haben. Die tolstoische Erziehung, die der Autor erfuhr, blieb auch einem Großteil von ihnen nicht erspart. Ungleich gewöhnlicher noch waren und bleiben die Herzen, die gebrochen werden sollten."
Tatsächlich – Léon Poliakov ist mit seinen "Memoiren eines Davongekommenen" eine zweite "Éducation sentimentale" gelungen, der fesselnde Erlebnisbericht über eine Erziehung des Herzens unter Bedingungen extremer Inhumanität.
Léon Poliakov: "St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen"
Aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alex Carstiuc
Verlag Edition Tiamat, Berlin. 288 Seeiten, 24 Euro.