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Leonardo da Vinci
Der Erfinder der modernen Wissenschaft

Leonardo da Vinci sei ein Universalgebildeter gewesen, der versucht habe, die Bewegung in den Dingen zu verstehen, sagte Naturwissenschaftler Ernst Peter Fischer im Dlf. In seinen Zeichnungen und sogar im Lächeln der Mona Lisa könne man Bewegung erkennen. Damit habe er eine neue Wahrnehmung der Welt erfunden.

Ernst Peter Fischer im Gespräch mit Kathrin Hondl |
Leonardo da Vincis (1452-1519) Zeichnung "Vitruvianischer Mensch" (um 1490) zeigt einen Mann, der die idealisierten Proportionen besitzt, welche der antike Architekt und Ingenieur Vitruv formulierte.
Leonardo da Vincis "Vitruvianischer Mensch" sei die Zeichnung eines Ideals, das das dynamische Prinzip offenbare, sagte Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer im Dlf (dpa / picture-alliance / CPA Media/Pictures From History)
Kathrin Hondl: Das Leonardo-Jahr steuert auf seinen ersten Höhepunkt zu. Morgen, am 2. Mai, vor genau 500 Jahren starb er, der große Künstler, Erfinder, Wissenschaftler, dem die Nachwelt das Prädikat Universalgenie verlieh. So viel schien er gewusst und gekonnt zu haben. Leonardo, der Schöpfer des berühmtesten Gemäldes der Welt und anatomischer Zeichnungen von unglaublicher Exaktheit, der Mathematiker und botanische Forscher, der Architekt und Kriegsmaschinenerfinder und, und, und. Ja, und jede Zeit und jede Wissenschaft, so scheint es, feiert Leonardo, wie er ihr gerade am besten gefällt – er hat ja auch alles zu bieten. Ernst Peter Fischer ist Naturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker und hat sich in seinen zahlreichen Büchern immer wieder auch mit Leonardo da Vinci beschäftigt. Guten Morgen, Herr Fischer!
Ernst Peter Fischer: Guten Morgen, Frau Hondl!
Hondl: Tja, man weiß erst mal gar nicht, womit man anfangen soll bei Leonardo, und es ist ja auch so, dass jeder Biograf, jede Biografin ihn irgendwie anders sieht. Sie, Herr Fischer, haben ihn schon vor vielen Jahren in einem Buch an den Anfang einer Wissenschaftsgeschichte gestellt, "Leonardo, Heisenberg & Co". Wie wichtig, wie wegweisend war er denn da?
Fischer: Leonardo ist in einer Zeit tätig gewesen, in der man anfing, die Welt in Bewegung zu verstehen. Die Welt davor galt als etwas, was unbeweglich war, fest war, und man musste erst auf die Idee kommen, die Bewegung zu sehen. Selbst in einer Linie, die auf dem Blatt war, da sah er die Bewegung, die die Linie gemacht hat. Bewegung heißt auch, dass man natürlich versuchen musste, zu verstehen, was die Bewegung veranlasste, wer dahinterstand.
Dieser große Gedanke, der ist natürlich immer noch vorhanden – sozusagen hinter all diesen Bewegungen am Himmel, auf der Erde, die ganze Entwicklung des Kosmos. Leonardo hat an dieser Stelle versucht, die Bewegung zu verstehen, und wenn er heute lebte, würde er Filme drehen, Videos machen. Das war ja technisch nicht möglich, also hat er die Zeichnungen so gemacht, dass man gewissermaßen die Bewegung sehen kann. Dadurch hat er insgesamt eine ganz andere, neuartige dynamische Wahrnehmung des Lebens oder der Welt erfunden oder vorgestellt, die dann natürlich später ungeheure Ausmaße gewonnen hat, also ich spreche vom 19. Jahrhundert, wenn dann jemand die Evolution des Lebens entdeckt. Aber das musste natürlich erst mal vorbereitet werden, dass es überhaupt ein Prinzip der Bewegung im Ganzen gibt.
Die Welt dynamisch sehen
Hondl: Das Prinzip der Bewegung also, und er selbst schien ja auch immer in Bewegung. Im "Spiegel", der ja Leonardo diese Woche auch eine große Titelgeschichte widmet, da gab es einen ganz schönen Satz, fand ich: "Leonardo war kein Universalgelehrter, sondern ein Universallernender." Da steckt ja auch so ein bisschen diese Bewegung drin, kein Gelehrter, sondern ein Lernender. Würden Sie da zustimmen?
Fischer: Ja, sicher. Man hört nie auf zu lernen, man muss immer was Neues lernen, aber dazu braucht man einen gewissen Standpunkt, den man gelernt hat, um von da aus sich weiterzuentwickeln. Wir würden das heute, wenn wir das Wort nicht so verhunzt hätten, Bildung nennen. Bildung ist immer das, was Sie erreicht haben, was Sie gemacht haben, das Gebildete, und wie Sie diese Bildung fortsetzen wollen.
Leonardo war eigentlich ein Universalgebildeter, einer der versucht, das Bild in der Natur, also ihre Entstehung, versucht festzuhalten in seinen Zeichnungen – das Bilden der Wasserströme, das Bilden der Haarflechten, was er alles so zusammen sieht. Er sieht immer so einen Bildungs-, einen Werde-, einen Bewegungsprozess in den Dingen. Er beginnt, die Welt dynamisch zu sehen, so wäre sie uns sonst heute selbstverständlich, und er beginnt auch, gewissermaßen in die Zukunft zu blicken, entwirft zukünftige Modelle, Maschinen für die Zukunft, entwirft Städte für die Zukunft. Dieser Blick in die Zukunft ist eigentlich das ganze Neue.
Hondl: Aber er hat ja nun auch Kriegsmaschinen entworfen. 1502 wurde Leonardo so eine Art Militäringenieur, obwohl er ja den Krieg ablehnte, also er sprach von einer bestialischen Tollheit, aber das ist ja nun irgendwie auch der alte Konflikt der Wissenschaft beziehungsweise der Wissenschaftler, dass ihre Erfindungen und Erkenntnisse immer auch zerstörerisch sein können. Welche Rolle, Herr Fischer, meinen Sie, spielten solche Fragen, spielte also Moral für Leonardos wissenschaftliche Arbeit?
Skizze von Leonardo da Vinci: Sie zeigt eine in Einzelteile zerlegte Getriebevorrichtung; ca. 1500
Diese Skizze von Leonardo da Vinci zeigt eine in Einzelteile zerlegte Getriebevorrichtung - und seine unbändige Fantasie (picture alliance/Everett Collection)
Fischer: Ich glaube, dass viele Leute sich an Kriegsgeräten beteiligt haben, nicht nur Leonardo, sondern später auch selbst so unschuldige Leute wie Otto Hahn, die haben versuchten mitzuwirken. Bei Leonardo war von vornherein allein durch die Herausforderung, solche Maschinen zu bauen, interessiert an diesen Dingen. Mit Sicherheit war er kein kriegstreibender Mensch, aber die Möglichkeiten, die man dann sieht – also eine Armbrust zu bauen, Windmessgeräte zu bauen, Hebemaschinen zu bauen –, dass muss ihn einfach deshalb nervös und neugierig gemacht haben. Er hat daran gearbeitet, und dann er hat das vorgeschlagen, dass man doch mal versucht, Tauchgeräte zu machen, Helikopter zu bauen, Fallschirme, was man sich so alles denken kann. Ich glaube, dass der einfach eine unbändige Fantasie hatte, und er musste die nur an irgendeinem Punkt unterbringen, und dann war eben so eine militärische Aufgabe das Herausragende.
Außerdem ist es natürlich so, ich bin Kriegsdienstverweigerer, ich hasse den Krieg so wie Leonardo, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, aber man weiß natürlich auch, dass eine Verteidigungsbereitschaft notwendig ist. Wenn Sie nicht verteidigungsbereit sind, werden Sie überrannt, also konnte er sagen, ich muss den Schatz, den ich bewohne, betreibe, belebe, den muss ich auch verteidigen können. Ich kann mir insofern vorstellen, dass da Wissenschaftler im bereit sind, ihre Qualität in so eine Entwicklung zu stecken, das ist eine so große Entwicklungen wie im 20. Jahrhundert enorme Ausmaße angenommen hat, und Leonardo hat die nur vorweggenommen. Der hat ja fast alles vorweggenommen, und das ist ja das, warum wir ihn so verehren. Da tritt eine einzelne Figur auf, und er nimmt alles vorweg – das Denken vorweg, das Planen vorweg, das Zeichnen vorweg, das Entwerfen vorweg, was wir heute gewissermaßen systematisch und weit verbreitet im industriellen Maßstab machen. Er nimmt das alles vorweg, deshalb können wir immer nur staunen.
Leonardo vertraute nur seinen eigenen Sinnen
Hondl: Jetzt haben Sie gerade die Zeichnungen angesprochen, und um diese unfassbar exakten anatomischen Zeichnungen machen zu können, ist er ja in Hospitäler gegangen, um Leichen aufzuschneiden und zu untersuchen, also ihm war es offenbar ganz wichtig, alles selbst genau sehen zu können. War er da so was wie der Inbegriff des empirischen Forschers auch?
Fischer: Ja, ich meine, das fängt da an. Sie können das ruhig so nennen. Die Zeit ist ja noch so gewesen, dass man meinte, dass man bestimmte Sachen einfach nur lernen könnte, weil das die Autoritäten schon wussten. Auch die Ärzte aus dem alten Griechenland, die wussten, wie das aussah, und das brauchte man nicht nachzuprüfen, sondern musste das einfach nur lesen und von so einer Autorität erfahren. Und Leonardo fängt an und sagt nichts, ich vertraue nur meinen eigenen Sinnen, ich möchte das sehen, ich möchte das erfahren, wahrnehmen. Und das ist auch sein Gedanke, der wird dann systematisiert im 17. Jahrhundert, und das ist dann so die Erfindung der modernen Wissenschaft, von der heute unsere ganze Gesellschaft lebt, und Leonardo macht auch diesen ersten Schritt dafür.
Hondl: Beim vitruvianischen Menschen zum Beispiel. Das waren ja einerseits die Ideen von Vitruv, dem antiken Architekten, über den wohlgeformten Menschen, aber Leonardo, der hat dann eben auch echte Männer vermessen für seinen vitruvianischen Menschen.
Fischer: Ja, er hat ein ästhetisches Prinzip dabei gehabt, in dem Vitruv-Menschen, da finden Sie eine Menge Möglichkeiten, das Verhältnis des Goldenen Schnitts zu finden, dabei, wenn Sie aber dann tatsächlich reale Menschen vermessen, finden Sie das nicht so oft. Da hat er gewissermaßen auch sein Ideal gezeichnet, oder da hat er sozusagen gezeichnet, wie der Mensch werden könnte. Ich glaube, man muss bei ihm immer alles als dynamisches Prinzip sehen, so könnte man werden, und der steht ja auch, der vitruvianische Mensch, nicht still, sondern der hat die Arme ausgebreitet, so als ob er gleich losrennen, was anfassen und neu ordnen würde, also da ist eine unglaubliche dynamische Grundhaltung drin.
Leonardo da Vincis Porträt der Mona Lisa.
"Wenn man die Mona Lisa betrachtet, muss man das Lächeln herstellen, es ist ja nicht da", sagte Ernst Peter Fischer im Dlf (imago/Leemage)
Das ist ja auch beim Sehen. Wenn er sieht, dann sieht er ja nicht nur sozusagen ein festes Bild, so einen Baum oder eine Pflanze oder einen Tisch, den er vor sich hat, sondern er ahnt und versteht, was die Wissenschaft heute beweisen kann, dass man das Bild, das man sieht, erst schafft. Und das macht er dann in seinen Gemälden. Wenn man die Mona Lisa betrachtet, muss man das Lächeln herstellen, es ist ja nicht da, und diese Einbeziehung des dynamischen, aktiven, bewegten Subjekts des Betrachters, das ist auch seine großartige Errungenschaft.
Hondl: Sie klingen wahnsinnig begeistert. Könnte oder kann Leonardo auch heute noch ein, na ja, Vorbild sein für Wissenschaftler, für Naturwissenschaftler?
Fischer: Seine Fantasie. Und wo er auf jeden Fall ein Vorbild ist, ist sein Optimismus, ist seine ungebrochene Bereitschaft, immer neue Dinge zu finden, nach vorne zu schauen und dran zu glauben, dass der Mensch eigentlich zu allem nachzumachen oder zu machen in der Lage ist, wenn er nur das versteht. Also er wollte ja auch den Vogelflug nachbauen. Er sagte, da sind Gesetze dahinter, die kann man verstehen, und da kann man das umsetzen, so wie wir das ununterbrochen machen. Er ist das große Vorbild der ganzen Zivilisation, die uns heute charakterisiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.