Beatrix Novy: Von Balzac gibt es eine Novelle, die heißt "Das unsichtbare Meisterwerk", in der ein besessener Künstler sich vorstellt, wie ein perfektes Gemälde sein soll, so realistisch eben wie die Wirklichkeit mit allem Drum und Dran. Die Geschichte endet wegen unerfüllbaren Anspruchs tragisch. Aber von Leonardo da Vincis Bildern hört man gerade das jetzt überall: Wer vor ihnen, den Originalen steht, nämlich jetzt in London, in der National Gallery, der glaubt, die Personen atmen zu sehen, wenn man lange genug hinguckt. Der Kurator selbst sagt, der Betrachter solle die Bilder fühlen können. - Stefan Koldehoff war in der National Gallery. Ist da wirklich was dran?
Stefan Koldehoff: Da ist natürlich schon auch viel Mythos mit bei und viel PR-Sprech, wie es immer so schön heißt. Aber diese Ausstellung hat ja tatsächlich das Ziel, Leonardo da Vinci wieder als Maler vor Augen zu führen. Während in den letzten Jahren viel Schwerpunkt gelegen hat auf seinen Zeichnungen, auf seinen wissenschaftlichen Erfindungen, auf dem Universalgenie Leonardo da Vinci, soll es in London darum gehen zu zeigen, er war ein großartiger Maler. Und das beginnt schon im ersten Raum, da hängen drei Porträts: einmal das eines jungen Musikers mit roter Kappe und dann zwei Bildnisse von mutmaßlichen Geliebten von Leonardos Brotherren zu dieser Zeit - wir reden ja über die 1480er- und 1490er-Jahre -, zwei Frauen, die plötzlich nicht mehr, wie das damals am ausgehenden Mittelalter, in der Renaissance also, üblich war, im klassischen Profil dargestellt waren, sondern als Dreiviertel-Porträt. Das heißt, man sieht plötzlich nicht mehr nur noch ein Auge, die Nase, den Mund im Profil, sondern man blickt quasi ins Gesicht, man sieht eine Stirn und man glaubt, tatsächlich auch ein bisschen die Seele und die Gefühle hinter dieser Stirn mitzusehen. Bewegen habe ich sich da nichts sehen, also das wäre vielleicht ein bisschen übertrieben, aber dass das alles ganz hervorragend gemalt ist und dass da Menschen zum ersten Mal nicht als Funktionsträger oder als Figuren dargestellt sind, sondern als Individuen, das spüren sie schon in diesem ersten Raum.
Novy: Das ist ein Bild, das Sie gerade beschrieben haben, aus der kleinen Gruppe der Gemälde. Es sind ja nicht viele und es gibt überhaupt nicht viele gesicherte Gemälde von Leonardo.
Koldehoff: Da streiten die Experten, ob es nun 15 oder 16 sind. Neun jedenfalls sind in London jetzt zu sehen. Auch da ist bei einigen die Zuschreibung, ist es nun völlig eigenhändig, wie viel hat das Studio mitgemalt, wie viel haben Schüler mitgeholfen, nicht ganz klar. Aber man wirbt damit, neun von 15 oder 16 Bildern tatsächlich zu haben. Wenn man jetzt weiß, dass die "Mona Lisa" natürlich den Louvre nie mehr verlassen wird, dass "Das letzte Abendmahl" fest installiert ist in Mailand, dann ist das schon eine beachtliche Zahl, die man da zusammengetragen hat. Auch das wird es wahrscheinlich in der Form so schnell nicht mehr geben, denn die Bilder sind sehr fragil.
Leonardo hat ja überwiegend auf Holztafeln gemalt, und anders als Leinwand arbeitet Holz einfach viel stärker bei starken Temperaturschwankungen. Das heißt, wenn sie ein Bild von A nach B transportieren, dann laufen sie immer Gefahr, dass das Holz sich noch ein bisschen verschiebt und dass dadurch auch die Farbe leidet.
Novy: Die Gemälde von Leonardo sind ja nicht die einzigen Bilder, die da zu sehen sind. Das führt mich aber auch auf die Frage: Die Karten sind ja schon ausverkauft, das alles spricht für eine typische Blockbuster-Inszenierung. Aber in der Zusammenstellung der Bilder, ist die Ausstellung über das Blockbuster-Sein hinaus mehr?
Koldehoff: Ja. Das muss man ganz eindeutig mit Ja beantworten. Natürlich wird es eine Blockbuster-Ausstellung sein, natürlich haben gestern die Besucher schon Schlange gestanden und gibt es wieder diese vorterminierten Tickets, die man kaufen muss, um überhaupt reinzukommen. Aber die Kuratoren sind sehr schlau verfahren: Die haben nämlich eingegrenzt auf eine bestimmte Zeit. Es sind tatsächlich nur die Jahre in Mailand, also die 1480er-, 1490er-Jahre, bevor Leonardo dann später nach Florenz, nach Rom und schließlich nach Frankreich geht, auf die man sich da konzentriert, und in der Zeit wird wirklich sehr schön kunsthistorisch durchdekliniert, was das Besondere an diesem Mann, an diesem Maler war, wie er, bevor er den heiligen Hieronymus, ein Bild, das heute im Vatikan hängt, gemalt hat, vorher detailliert Schädelstudien, Armstudien, Muskeln, Sehnen gezeichnet hat, um zu gucken, wie sich das dann hinterher richtig im Bild darstellt, wie er die erste Felsengrotten-Madonna im Auftrag eines Konviktes in Mailand gemalt hat, der Auftraggeber dann aber völlig unzufrieden damit war, weil die Heiligenscheine fehlten, weil die Darstellung nicht korrekt war, wie man es für die damalige Zeit erwartet hätte. Also muss er zum einen um sein Geld kämpfen, zum anderen aber auch eine zweite Fassung malen, die dann endlich akzeptiert wird. Also die äußeren Rahmenbedingungen, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, werden deutlich, das handwerkliche Können von Leonardo wird deutlich, und sie sehen eben wirklich diese wunderbaren Werke, zu denen sie sonst einzeln reisen müssten, alle vereint an einem Ort.
Novy: Welchen Sinn hat denn das Hinzunehmen anderer Maler in diese Ausstellung? Die gibt es doch auch.
Koldehoff: Es sind Schüler zu sehen, es sind aber auch einfache Zeitgenossen zu sehen, und es ist ein bisschen wie bei jeder Ausstellung: Wenn man das Besondere eines einzelnen Malers darstellen will, dann muss man immer auch gucken, was haben die anderen denn zu der Zeit gemacht. Die Impressionisten im 19. Jahrhundert sind so bedeutend geworden, weil sie sich von den Studiodarstellungen, vom Kanon gelöst haben, etwas Eigenes geschaffen haben. Und so ist es auch bei Leonardo: Zeitgenossen, auch Schüler, die dann ganz vorsichtig versuchen, seine künstlerischen Errungenschaften auch für sich zu adaptieren, die waren noch viel konservativer, die haben noch viel mehr dem entsprochen, was damals den Auftraggebern, in der Regel den Fürstenhäusern, den Kirchen auch – es gab ja noch keine privaten Kunstsammler wie heute -, entsprochen hat. Und da nun zu sehen, dass Leonardo derjenige war, der sich davon löste, der als erste freiere Darstellungen wagte, der es sich als Erster traute, Heiligenfiguren in Landschaften zu setzen, die die Landschaften der damaligen Zeit waren und nicht die mythologischen Landschaften der Bibel, das spiegelt sich schon alles in den konservativeren Zeitgenossen wieder. Also man könnte sagen, vor dem dunklen Hintergrund seiner Zeitgenossen leuchtet Leonardo umso heller.
Novy: Also glücklich, wer eine Karte ergattert in London. – Das war Stefan Koldehoff über die Ausstellung "Leonardo da Vinci" am Mailänder Hof, zu sehen in London, wo übrigens auch das gerade erst Leonardo zugeschriebene Bild "Salvator Mundi" zu sehen ist.
Stefan Koldehoff: Da ist natürlich schon auch viel Mythos mit bei und viel PR-Sprech, wie es immer so schön heißt. Aber diese Ausstellung hat ja tatsächlich das Ziel, Leonardo da Vinci wieder als Maler vor Augen zu führen. Während in den letzten Jahren viel Schwerpunkt gelegen hat auf seinen Zeichnungen, auf seinen wissenschaftlichen Erfindungen, auf dem Universalgenie Leonardo da Vinci, soll es in London darum gehen zu zeigen, er war ein großartiger Maler. Und das beginnt schon im ersten Raum, da hängen drei Porträts: einmal das eines jungen Musikers mit roter Kappe und dann zwei Bildnisse von mutmaßlichen Geliebten von Leonardos Brotherren zu dieser Zeit - wir reden ja über die 1480er- und 1490er-Jahre -, zwei Frauen, die plötzlich nicht mehr, wie das damals am ausgehenden Mittelalter, in der Renaissance also, üblich war, im klassischen Profil dargestellt waren, sondern als Dreiviertel-Porträt. Das heißt, man sieht plötzlich nicht mehr nur noch ein Auge, die Nase, den Mund im Profil, sondern man blickt quasi ins Gesicht, man sieht eine Stirn und man glaubt, tatsächlich auch ein bisschen die Seele und die Gefühle hinter dieser Stirn mitzusehen. Bewegen habe ich sich da nichts sehen, also das wäre vielleicht ein bisschen übertrieben, aber dass das alles ganz hervorragend gemalt ist und dass da Menschen zum ersten Mal nicht als Funktionsträger oder als Figuren dargestellt sind, sondern als Individuen, das spüren sie schon in diesem ersten Raum.
Novy: Das ist ein Bild, das Sie gerade beschrieben haben, aus der kleinen Gruppe der Gemälde. Es sind ja nicht viele und es gibt überhaupt nicht viele gesicherte Gemälde von Leonardo.
Koldehoff: Da streiten die Experten, ob es nun 15 oder 16 sind. Neun jedenfalls sind in London jetzt zu sehen. Auch da ist bei einigen die Zuschreibung, ist es nun völlig eigenhändig, wie viel hat das Studio mitgemalt, wie viel haben Schüler mitgeholfen, nicht ganz klar. Aber man wirbt damit, neun von 15 oder 16 Bildern tatsächlich zu haben. Wenn man jetzt weiß, dass die "Mona Lisa" natürlich den Louvre nie mehr verlassen wird, dass "Das letzte Abendmahl" fest installiert ist in Mailand, dann ist das schon eine beachtliche Zahl, die man da zusammengetragen hat. Auch das wird es wahrscheinlich in der Form so schnell nicht mehr geben, denn die Bilder sind sehr fragil.
Leonardo hat ja überwiegend auf Holztafeln gemalt, und anders als Leinwand arbeitet Holz einfach viel stärker bei starken Temperaturschwankungen. Das heißt, wenn sie ein Bild von A nach B transportieren, dann laufen sie immer Gefahr, dass das Holz sich noch ein bisschen verschiebt und dass dadurch auch die Farbe leidet.
Novy: Die Gemälde von Leonardo sind ja nicht die einzigen Bilder, die da zu sehen sind. Das führt mich aber auch auf die Frage: Die Karten sind ja schon ausverkauft, das alles spricht für eine typische Blockbuster-Inszenierung. Aber in der Zusammenstellung der Bilder, ist die Ausstellung über das Blockbuster-Sein hinaus mehr?
Koldehoff: Ja. Das muss man ganz eindeutig mit Ja beantworten. Natürlich wird es eine Blockbuster-Ausstellung sein, natürlich haben gestern die Besucher schon Schlange gestanden und gibt es wieder diese vorterminierten Tickets, die man kaufen muss, um überhaupt reinzukommen. Aber die Kuratoren sind sehr schlau verfahren: Die haben nämlich eingegrenzt auf eine bestimmte Zeit. Es sind tatsächlich nur die Jahre in Mailand, also die 1480er-, 1490er-Jahre, bevor Leonardo dann später nach Florenz, nach Rom und schließlich nach Frankreich geht, auf die man sich da konzentriert, und in der Zeit wird wirklich sehr schön kunsthistorisch durchdekliniert, was das Besondere an diesem Mann, an diesem Maler war, wie er, bevor er den heiligen Hieronymus, ein Bild, das heute im Vatikan hängt, gemalt hat, vorher detailliert Schädelstudien, Armstudien, Muskeln, Sehnen gezeichnet hat, um zu gucken, wie sich das dann hinterher richtig im Bild darstellt, wie er die erste Felsengrotten-Madonna im Auftrag eines Konviktes in Mailand gemalt hat, der Auftraggeber dann aber völlig unzufrieden damit war, weil die Heiligenscheine fehlten, weil die Darstellung nicht korrekt war, wie man es für die damalige Zeit erwartet hätte. Also muss er zum einen um sein Geld kämpfen, zum anderen aber auch eine zweite Fassung malen, die dann endlich akzeptiert wird. Also die äußeren Rahmenbedingungen, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, werden deutlich, das handwerkliche Können von Leonardo wird deutlich, und sie sehen eben wirklich diese wunderbaren Werke, zu denen sie sonst einzeln reisen müssten, alle vereint an einem Ort.
Novy: Welchen Sinn hat denn das Hinzunehmen anderer Maler in diese Ausstellung? Die gibt es doch auch.
Koldehoff: Es sind Schüler zu sehen, es sind aber auch einfache Zeitgenossen zu sehen, und es ist ein bisschen wie bei jeder Ausstellung: Wenn man das Besondere eines einzelnen Malers darstellen will, dann muss man immer auch gucken, was haben die anderen denn zu der Zeit gemacht. Die Impressionisten im 19. Jahrhundert sind so bedeutend geworden, weil sie sich von den Studiodarstellungen, vom Kanon gelöst haben, etwas Eigenes geschaffen haben. Und so ist es auch bei Leonardo: Zeitgenossen, auch Schüler, die dann ganz vorsichtig versuchen, seine künstlerischen Errungenschaften auch für sich zu adaptieren, die waren noch viel konservativer, die haben noch viel mehr dem entsprochen, was damals den Auftraggebern, in der Regel den Fürstenhäusern, den Kirchen auch – es gab ja noch keine privaten Kunstsammler wie heute -, entsprochen hat. Und da nun zu sehen, dass Leonardo derjenige war, der sich davon löste, der als erste freiere Darstellungen wagte, der es sich als Erster traute, Heiligenfiguren in Landschaften zu setzen, die die Landschaften der damaligen Zeit waren und nicht die mythologischen Landschaften der Bibel, das spiegelt sich schon alles in den konservativeren Zeitgenossen wieder. Also man könnte sagen, vor dem dunklen Hintergrund seiner Zeitgenossen leuchtet Leonardo umso heller.
Novy: Also glücklich, wer eine Karte ergattert in London. – Das war Stefan Koldehoff über die Ausstellung "Leonardo da Vinci" am Mailänder Hof, zu sehen in London, wo übrigens auch das gerade erst Leonardo zugeschriebene Bild "Salvator Mundi" zu sehen ist.