Die hochansteckende Delta-Variante könnte im Herbst auch in Deutschland eine weitere Corona-Welle verursachen. Neben Impfungen und Lockdown-Maßnahmen helfen digitale Instrumente im Kampf gegen die Virusausbreitung - Apps, Wearables und Daten.
Bei der digitalen Pandemiebekämpfung sieht eine Expertengruppe der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Deutschland allerdings noch Entwicklungspotenzial. In einem Diskussionspapier fordern die Forschenden:
- Steigerung der Nutzungszahlen von digitalen Apps zur Kontaktnachverfolgung durch funktionelle Erweiterung, Interoperabiltät zwischen verschiedenen Apps, Erhöhung des Informationsangebots in den Apps und stärkere Aufklärung und Bewerbung
- Nachdrückliches Vorantreiben der Digitalisierung der Prozesse in den Gesundheitsämtern
- Stärkere Unterstützung von repräsentativen Stichproben-Studien zum Pandemiegeschehen mit der entsprechenden Erhebung der erforderlichen Daten
- Bundesweit verpflichtendes Angebot digitaler Registrierungsmöglichkeiten in Geschäften, Restaurants, bei Events etc.
- Konsequenter Einsatz der digitalen Hilfsmittel in dieser Pandemie und von deren Ausbau für die bessere Bewältigung der nächsten Pandemie
Corona-Warn-App und medizinischer Mikrozensus
"Wir brauchen bei der Corona-Warn-App eigentlich eine Nutzungsrate von 70 Prozent", sagte Thomas Lengauer, Präsidiumsmitglied der Leopoldina und Co-Autor des Diskussionspapiers, im Dlf. Nur dann könne die App wirklich effektiv sein. Dazu müsse sie aktiv beworben und ihr Angebotsspektrum mit neuen Features vergrößert werden.
Zudem sei eine Art medizinischen Mikrozensus nötig, also eine repräsentative, monatlich durchgeführte Studie über das Infektionsgeschehen, wie es sie etwa in Großbritannien gebe, forderte Lengauer. Dabei sollten unter anderem sozio-ökonomische Faktoren, ethnischer Hintergrund, Berufstyp und Risikokontakte der Nutzerinnen und Nutzer erfasst werden. So erhalte man detaillierte Daten über das Infektionsgeschehen, die politischen Entscheidungen und der Pandemieforschung als Informationsbasis dienen könnten.
Das Interview im Wortlaut:
Christiane Knoll: Herr Lengauer, wenn ich mir das Diskussionspapier anschaue, dann ziehe ich daraus vor allem eine Botschaft: Wir haben gute Werkzeuge, aber es fehlt an der konsequenten Umsetzung. Trifft das die Lage in etwa?
Thomas Lengauer: Ja, wir haben sehr gute Ansätze und haben in Teilen auch sehr gut begonnen. Die Corona-Warn-App war relativ früh verfügbar, aber es hat ein bisschen gefehlt an der Nachhaltigkeit der Unterstützung des digitalen Aspekts der Pandemiebekämpfung.
Knoll: Die Corona-Warn-App ist auch einer der wichtigen Fazitpunkte, die Sie ziehen, dass hier Handlungsbedarf besteht. Was wünschen Sie sich?
Lengauer: Wir wünschen uns eine Erhöhung der Nutzungsrate der Corona-Warn-App.
"Brauchen hohe Nutzungsrate der Corona-Warn-App"
Knoll: Wir haben im Moment 28 Millionen Downloads.
Lengauer: Ja, man muss auch noch unterscheiden zwischen Downloads und Nutzung. Nicht alle Leute, die downloaden, nutzen auch. Und man muss dazu wissen, dass es bei der Corona-Warn-App sich ungefähr verhält wie mit den Impfungen. Mit jeder Impfung, die Sie machen, schützen Sie nicht nur sich selbst, sondern auch die Gesellschaft. So ist das mit der Corona-Warn-App auch, damit ein Risikokontakt erfasst werden kann, müssen beide Partner die Corona-Warn-App haben. Wenn Sie die App nutzen, schützen Sie alle Ihre Kontakte auch. Das bedeutet eine Verdopplung der Nutzungsrate der Corona-Warn-App führt zu überschlagsmäßig einer Vervierfachung der Abdeckung der Risikokontakte. Und wir brauchen eine hohe Nutzungsrate genauso wie wir eine hohe Impfabdeckung brauchen, damit die Corona-Warn-App wirklich effektiv sein kann.
"Angebot der Corona-Warn-App muss vergrößert werden"
Knoll: Was halten Sie für realistisch und was müsste dafür passieren?
Lengauer: Wir brauchen eigentlich eine Nutzungsrate von 70 Prozent. Und wir haben Hindernisse schon bei der Verfügbarkeit der Endgeräte. Insofern ist es unbedingt notwendig, dass die Corona-Warn-App, ich will mal sagen, unter die Leute gebracht wird. Dazu bedarf es aus unserer Sicht zweierlei Maßnahmen: Zum einen muss das Angebotsspektrum auf der Corona-Warn-App vergrößert werden. Das ist ja etwas, was seit dem frühen Frühjahr tatsächlich getan wird, es werden neue Features integriert, deren Nutzen der Bürger auch selbst sehen kann. Das wird die Nutzung, so hoffen wir, erhöhen. Zum anderen muss auch aktiv beworben werden. Man ist einfach aus unserer Sicht abgetaucht, was die Corona-Warn-App betraf nach der ersten Initiative, sie auf den Markt zu bringen. Das hat der Effektivität der App nicht genutzt.
Medizinischer Mikrozensus
Knoll: Ein weiterer wichtiger Punkt, der in Ihrem Diskussionspapier genannt wird, ist eine zeitaufgelöste, repräsentative Datenerhebung. Was ist damit gemeint?
Lengauer: Das wurde von Vertretern unserer Arbeitsgruppe sehr intensiv gefordert. Da geht es im Wesentlichen um einen medizinischen Mikrozensus. Das ist eine repräsentative Studie, so eine kleine Volkszählung, nur aus pandemischer Sicht natürlich. Ich habe heute noch mal nachgelesen, in England wird das seit einem Jahr gemacht mit 150.000 repräsentativ ausgewählten Bürgern, die werden aufgeschlüsselt hinsichtlich des Infektionsgeschehens, das wird über Swap-basierte PCR-Tests gemacht. Dann werden aber auch sozio-ökonomische Faktoren, ethnischer Hintergrund, Berufstyp, Risikokontakte und so weiter eingebunden. So erhält man eine Aufschlüsselung über das Infektionsgeschehen im Detail, die sowohl den kurzfristigen politischen Entscheidungen eine Informationsbasis bieten kann als auch die Wissenschaft zum Verständnis des Pandemiegeschehens stark befördern kann. Das wird in Großbritannien seit Mai letzten Jahres gemacht, und wir fordern nachdrücklich, dass dies in Deutschland auch geschieht.
Knoll: Aber wir hatten doch solche Studien, in München zum Beispiel, in Lübeck, es sind Experten durch die Haushalte gelaufen.
Lengauer: Das waren einzelne Studien. Wir brauchen diese Studien einmal im Monat. Denn die Pandemie ändert sich jeden Monat, und die Wellen entstehen und vergehen, die Wellen sind jetzt auch von Varianten getrieben, das heißt, es muss in diesen Studien auch viel sequenziert werden, um das Variantenprofil aufzulösen. Es reicht nicht, da mal eine Studie zu machen.
"Ergebnisse der Studie direkt umsetzbar"
Knoll: Im Moment haben wir sehr niedrige Inzidenzen in Deutschland, die nächste Welle könnte aber schon Ende des Sommers ansetzen. Was Sie jetzt vorschlagen in Ihrem Diskussionspapier, könnte das im Herbst schon Früchte tragen, wenn jetzt tatsächlich irgendwas angeschoben wird und besser umgesetzt wird als bisher?
Lengauer: Ja, sicher. Viele Fazite, die wir geben, sind kurzfristig umsetzbar. So war die Stellungnahme eigentlich auch targetiert. Wir haben einige langfristige Empfehlungen, die auch auf die nächste Pandemie gezielt sind, aber die Empfehlung zur Corona-Warn-App, die Empfehlung zur Digitalisierung in den Gesundheitsämtern und auch diese Studien, das sind Dinge, die kurzfristig greifen. So eine Studie ist begleitend, Pandemie-begleitend, und man kann die Ergebnisse aus dieser Studie, das ist ja auch der Zweck, direkt umsetzen.
"QR-Code-Registrierung in anderen Ländern viel früher"
Knoll: Herr Lengauer, wir haben jetzt anderthalb Jahre Pandemie. Man fragt sich ja schon, wenn solche Sachen so kurzfristig umsetzbar sind, warum haben wir so lange gebraucht? Wie ist Ihre Analyse, woran liegt es, dass wir digital immer noch so schlecht aufgestellt sind?
Lengauer: Das sind natürlich politische Dinge auch, wo ich mich als Wissenschaftler gerne zurückhalten möchte. Ich bin auch nicht gerne jemand, der Bashing betreibt, der also im Nachhinein den Finger hebt und sagt, habe ich euch gleich gesagt, insbesondere wenn ich es gar nicht gesagt habe.
Aber man kann schon sagen, dass wir an einigen Stellen säumig waren. Wir waren an der Umsetzung der digitalen Unterstützung säumig, wir waren säumig bei der Übernahme von Dingen, die ganz offensichtlich in anderen Ländern funktioniert haben. Da will ich nur zum einen diese Studien nennen, zum anderen die Übernahme von QR-Code-Registrierung, die in anderen Ländern viel früher begonnen hat als bei uns. Dass im Gesundheitswesen die Digitalisierung mit Problemen behaftet ist, das führe ich auch zum Teil auf Probleme beim Föderalismus zurück. Es ist einfach unglaublich schwierig, in den Gesundheitsämtern eine einheitliche und interoperable Informationstechnikstruktur umzusetzen. Das muss aber passieren. Die Ansätze dafür sind da, das muss kurzfristig stark vorangetrieben werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.