Seit Mitte März gelten in Deutschland drastische Beschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Politik steckt in einer Zwickmühle: Wie lassen sich die wirtschaftlichen und sozialen Folgen mildern, ohne dass das Gesundheitssystem durch erneut steigende Fallzahlen überfordert wird? Mit welchen Maßnahmen lassen sich die Vorschriften lockern? Einer Expertengruppe der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat dazu Empfehlungen ausgesprochen.
Die aktuelle Ausgangslage
Im Moment deuten alle Indikatoren darauf hin, dass die Kontaktsperre erste Erfolge zeigt. Würde die Republik jedoch nun bald schon schrittweise zum Zustand der Normalität zurückkehren, könnten die Fallzahlen ab Ende Mai bereits wieder steil nach oben schnellen. Das zeigt eine Modellrechnung, die die Expertengruppe erarbeitet hat.
Die Fachleute schlagen daher flankierende Maßnahmen vor, um die Epidemie dauerhaft einzudämmen.
Neue Empfehlung: Maskenpflicht im Personenverkehr und Schulöffnung zuerst für Jüngere
Am Ostermontag legte die Akademie einen detaillierten Plan vor. Darin führt die Leopoldina-Expertengruppe aus, wie ein stufenweiser Ausstieg aus der momentanen Situation aussehen könnte: In dem Szenario öffnen zunächst wieder Einzelhandelsgeschäfte und Gaststätten, ebenso wie andere Geschäfte und Behörden. Urlaubs- und Dienstreisen könnten wieder stattfinden, wenn die bekannten Schutzmaßnahmen (Hygienemaßnahmen, Mund-Nasen-Schutz, Distanzregeln) eingehalten würden.
Voraussetzung für solch eine Lockerung sei darüber hinaus, dass sich die Zahl der Neuinfektionen auf einem niedrigen Niveau stabilisiert, das Gesundheitssystem nicht überlastet wird und zunehmend Infizierte identifiziert werden.
Auch der Bildungsbereich solle so schnell wie möglich geöffnet werden, argumentieren die Fachleute der Leopoldina. Auch das solle schrittweise geschehen: Die Grundschulen und Sekundarstufe I hätten dabei die höchste Priorität. Ältere Schülerinnen und Schüler könnten deutlich besser die Möglichkeiten des Fernunterrichts nutzen. Kindertagesstätten sollten nur eingeschränkt wieder den Betrieb aufnehmen, da sich gerade kleine Kinder weniger gut an Distanzregeln und andere Vorsichtsmaßnahmen halten können.
"Da die Jüngeren im Bildungssystem mehr auf persönliche Betreuung, Anleitung und Unterstützung angewiesen sind", sollten zuerst Grundschulen und die Sekundarstufe I wieder schrittweise geöffnet werden. Die Möglichkeiten des Fernunterrichts "können mit zunehmendem Alter besser genutzt werden", heißt es. "Deshalb ist zu empfehlen, dass eine Rückkehr zum gewohnten Unterricht in höheren Stufen des Bildungssystems später erfolgen sollte." Der Betrieb von Kitas sollte "nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden".
Bereits in einem früher veröffentlichten Papier hatten die Experten der Leopoldina auf drei Bereiche hingewiesen, die in ihren Augen besonders wichtig sind:
- Flächendeckende Nutzung von Mund-Nasen-Schutzmasken in der Öffentlichkeit Ein Mund-Nasen-Schutz reduziert die Übertragung der Viren, falls der Träger selbst infiziert sein sollte. Gerade bei der großen Zahl von unerkannt erkrankten Personen, die keine Symptome zeigen, senken solche Masken das Risiko, dass der Erreger übertragen wird. Der Mangel an medizinischen Masken soll nach Meinung der Leopoldina-Fachleute durch selbst hergestellte Modelle, Tücher und Schals überbrückt werden. Doch das Konzept stößt nicht auf ungeteilte Zustimmung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO zum Beispiel betont, dass der Gebrauch von OP-Masken alleine nicht ausreicht, die Pandemie aufzuhalten. So könne es beim An- oder Ablegen eines Mund-Nasen-Schutzes zu ungewollten Infektionen kommen, wenn dabei Viren von den Händen auf die Schleimhäute übertragen werden. Außerdem verleiten die Masken dazu, sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen und andere Vorsichtsmaßnahmen schleifen zu lassen.
- Verwendung mobiler Daten Mobile Daten werden von Smartphone-Apps erhoben. Sie sollen der Nachverfolgung von Infektionsketten dienen und warnen, falls man mit einem Infizierten in Kontakt gekommen ist. Im europäischen Projekt PEPP-PT wird eine App entwickelt, welche die Daten anonym erheben und DSGVO-konform verarbeiten soll. Das Programm stellt über die Bluetooth-Schnittstelle Kontakt zu allen anderen Geräten in der nächsten Umgebung her und protokolliert diese mit. Sollte der Besitzer des Handys positiv auf COVID-19 getestet werden, lassen sich so die Personen ausfindig machen, die seinen Weg gekreuzt haben. Auf einem anderen Prinzip basiert die App "Corona-Datenspende", die das Robert Koch-Institut (RKI) vorgestellt hat. Sie greift auf Gesundheitsdaten von Fitnessarmbändern und Smartwatches zu und versucht so, eine Erkrankung frühzeitig zu erkennen.
Erfahrungen mit Grippe-Apps haben allerdings gezeigt, dass dieser Ansatz der Datenerfassung und -verfolgung nur erfolgreich ist, wenn sich genug Menschen daran beteiligen. Ob das der Fall sein wird, solange die Behörden auf eine freiwillige Teilnahme setzen, lässt sich noch nicht abschätzen. - Ausbau der Testkapazitäten Die Testkapazitäten liegen in Deutschland zur Zeit etwa bei 350.000 bis 500.000 PCR-Tests pro Woche. Nach Ansicht der Leopoldina-Experten sollten sie zügig ausgebaut werden durch neue validierte Schnelltests. Hoffnung setzen sie auch auf einen Nachweis von Antikörpern im Blut. Mit solch einem Test ließe sich auch nachweisen, wer eine Infektion (möglicherweise ohne Symptome) überstanden hat, um die Dunkelziffer genauer einzugrenzen.
Weitere Vorschläge
Neben der Leopoldina haben sich weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort gemeldet. Der Mikrobiologe Alexander Kekulé von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat das Konzept des "Smart Distancing" entwickelt. Es sieht vor, dass Risikopersonen, etwa in Altersheimen und anderen Pflegeeinrichtungen, besonders sorgfältig geschützt werden. Für alleinstehende Menschen mit hohem Risiko sollten nach Ansicht des Forschers staatliche Lieferdienste organisiert werden. Für Kontakte außerhalb der Wohnung rät er zu Infektionsschutzmasken (FFP2). Für alle anderen Bürgerinnen und Bürger genügten die bekannten Hygieneregeln und das konsequente Tragen einer einfachen OP-Maske, wenn ein Abstand von zwei Metern zum Gegenüber nicht eingehalten werden könne.
Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) hat ein Positionspapier veröffentlicht, das für einen stufenweisen Ausstieg aus dem Corona-Stillstand plädiert. Demnach sollen die Beschränkungen mit Blick auf die damit verbundenen Risiken nach und nach gelockert werden.
Die Rückkehr zur Normalität solle zuerst in Sektoren mit niedriger Ansteckungsgefahr eingeleitet werden. Die Fachleute denken dabei an hochautomatisierte Fabriken. Schulen und Hochschule müssten ebenfalls zu den ersten gehören, die ihren Betrieb wieder aufnehmen, weil Schüler und Studierende aufgrund ihres Alters wenig gefährdet seien. Priorität soll ebenfalls das verarbeitende Gewerbe erhalten, da dort im Fall eines fortgesetzten Stillstandes besonders hohe wirtschaftliche Schäden zu erwarten seien. Regionen mit niedrigeren Infektionsraten und weniger Verbreitungspotential können nach Ansicht der Fachleute eher geöffnet werden.
Wichtige Indikatoren
Lothar Wieler, Präsident des RKI, nennt vier Kriterien, denen bei der Einschätzung über den Verlauf der Pandemie besondere Bedeutung zukommt. Ein wichtiges Maß ist demnach die Verdopplungszeit, also das Intervall, innerhalb dessen sich die Zahl der bestätigten Infektionen verdoppelt.
Je größer die Verdopplungszeit, desto langsamer breitet sich das Virus aus. Für Deutschland lag der Kennwert Anfang März gerade einmal bei drei Tagen. Im Moment beträgt er ungefähr das Dreifache. Kanzleramtsminister Helge Braun erklärte, dass noch längere Zeiten wünschenswert wären, zwölf oder sogar vierzehn Tage.
Laut Lothar Wieler muss aber auch im Auge behalten werden, wie sich die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und zu den Kapazitäten in den Krankenhäusern entwickele.
Und schließlich gebe auch die Reproduktionszahl Aufschluss über den Verlauf der Epidemie. Sie gibt an, wie viele Menschen im Schnitt von einer infizierten Person angesteckt werden. Der für COVID-19 maximal beobachtete Wert liegt bei ungefähr drei. Das ist die Basisreproduktionszahl für eine Bevölkerung, in der niemand gegen den Erreger immun ist und bei der keine anderweitigen Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Ein Lockdown, Quarantänemaßnahmen und die fortschreitende Immunisierung lassen die Reproduktionszahl effektiv aber sinken. Fällt die effektive Reproduktionszahl unter eins, kommt die Infektionskrankheit allmählich zum Erliegen. Nach Angaben des RKI liegt sie in Deutschland zurzeit wieder zwischen 1,2 und 1,5, nachdem sie kürzlich auf etwa 1,0 gesunken war.
(Redaktion: Frank Barknecht, Andrea Kampmann, Daniela Kurz, Arndt Reuning)