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Lernen in der Corona-Pandemie
Initiative fordert Verlängerung der Gesamtschulzeit um ein Jahr

Als Reaktion auf die Corona-bedingten Unterrichtsausfälle fordert eine Elterninitiative jetzt mehr Zeit für die Schule und mehr Zeit für die Schüler. So sollte es zwei sogenannte Langschuljahren geben, sagte Mit-Initiatorin Katja Oltmanns im Dlf. Und dies nicht nur, um Lerndefizite aufzuholen.

Katja Oltmanns im Gespräch mit Thekla Jahn | 26.08.2021
Eine Schülerin löst in der Werner von Siemens-Schule eine Rechenaufgabe. Sie ist einer von 67 Schülerinnen und Schülern, die an der Realschule in der letzten Woche der Sommerferien am Lerncamp teilnehmen. Freiwillig können sie sich hier in Mathematik, Deutsch und Englisch verbessern oder auf die Nachprüfung vorbereiten. (zu dpa "Viel nachzuholen: Sommerferien mit Lerncamp")
Eine Schülerin in den Sommerferien bei einem Lerncamp (picture alliance/dpa | Frank Rumpenhorst)
Die bundesweite Elterninitiative "Schule braucht Zeit" hat einen Forderungskatalog zu Konsequenzen aus der Corona-Pandemie vorgelegt. Fünf Forderungen finden sich dort, darunter nach mehr Zeit für die Schule, mehr Zeit für die Schüler - und auch mehr Zeit für bildungspolitische Debatten. Es gehe nicht "ausschließlich um Lernrückstände, sondern um vieles andere auch, das eben parallel zur Schule stattfindet", sagte eine der Initiatorinnen, Katja Oltmanns, im Dlf. Sie ist Vorsitzende der Landeselternvertretung der Gymnasien im Saarland.

Thekla Jahn: Frau Oltmanns, Druck rausnehmen, Zeit einräumen, das ist die erste und zentrale Forderung der Initiative. Was bedeutet für Sie Zeit einräumen genau?
Katja Oltmanns: Wir haben jetzt ja seit anderthalb Jahren eigentlich eine Pandemie, in der wir leben. Das hat sich natürlich auch auf das Leben und ganz besonders auch auf die Schulen ausgewirkt. Wir haben uns von Schul-Lockdown und Distanzlernen zu Schul-Lockdown und Distanzlernen geschleppt – und es gab kaum durchgängigen Präsenzunterricht. Wir haben auch keinen wirklichen Überblick über die entstandenen Defizite, weil derzeit keine Lernstandserhebung wie zum Beispiel diese Vera-Tests durchgeführt werden. Und für Kinder und Jugendliche sind ein bis zwei Jahre einfach ein unglaublich langer Zeitraum für ihre Entwicklung. Deshalb eine Rückgabe von Lebens- und Lernzeit für Kinder und Jugendliche, das ist der Vorschlag von der Initiative "Schule braucht Zeit". Wir wollen eine Verlängerung der Gesamtschulzeit um ein Jahr oder die Schaffung von zwei Langschuljahren – und zwar für alle Schulen.

Nicht nur Abarbeiten von Fächern und Inhalten

Jahn: Das hört sich gut an, Zeit zurückgeben, aber man kann keine Zeit zurückgeben, die fehlt dann ja in anderer Weise.
Oltmanns: Nö, das sehe ich eigentlich nicht so. Ich meine, das Leben ist zwar endlich, aber trotzdem halte ich es für wichtig, dass wir den Kindern nochmals Zeit geben, um viele Dinge, die einfach auf der Strecke geblieben sind, es geht ja nicht nur ausschließlich um Lernrückstände, sondern um vieles andere auch, das eben parallel zur Schule stattfindet oder was auch in den Schulen zusätzlich stattfindet, außer eben das Abarbeiten von Fächern und bestimmten Inhalten.
Stühle und Tische stehen in einem Klassenraum.
Präsenzunterricht in der Pandemie
Nach den Ferien soll der Unterricht wieder im Regelbetrieb starten. Den Schulen fehlten dazu aber nicht nur Luftfilter, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Maike Finnern, im Dlf.
Und ich glaube schon, dass Kinder darauf ein Recht hätten, denn auch sie haben ja massiv in diesem Lockdown gelitten. Und ich sehe auch kein Problem damit, die Gesamtschulzeit einfach insgesamt zu verlängern mit der Option für diejenigen, die vielleicht keine großen Einschränkungen in der Pandemie hatte, die gut mitgekommen sind, dass man denen auch eine Option anbietet.
Jahn: Mit Zeit allein allerdings, das würde ich jetzt mal sagen, ist es ja nicht getan. Es muss in dieser Zeit ja etwas passieren. Und die Schulen in Deutschland haben, auch das hat ja Corona gezeigt, ganz unterschiedliche Voraussetzungen und ganz unterschiedliche Schülerschaften. Wie lassen sich denn bei dieser Diversität die Pandemie-bedingten Lernrückstände und die emotional-sozialen Folgen der Corona-Jahre auffangen?
Oltmanns: Wir haben ja immer das Problem, dass meistens gesagt wird, wir brauchen ja eigentlich mehr Lehrer und wir brauchen mehr multiprofessionelle Teams und wir brauchen kleinere Klassen. Diese Sachen werden wir in kürzerer Zeit nicht bekommen, weil einfach dafür keine Ressourcen vorhanden sind. Wir glauben, dass es bestimmt an Schulen gute Lösungsmöglichkeiten geben könnte, wenn man den Eltern, den Lehrern und den Schülern einfach zeigt, wie wir darüber diskutieren und dann auch gemeinsam zu entscheiden oder Lösungen zu entwickeln. Dann könnten die Schulen in die Lage versetzt werden, durch eine Reduzierung der Wochenstundenzeit und einer gleichzeitigen Streckung über einen längeren Zeitraum andere Konzepte und andere Unterrichtskonzepte vielleicht auch mal auszuprobieren an den Schulen, mal Klassen zu teilen, was man jetzt ja notgedrungen machen musste, aber dann einfach auch mal die Schüler besonders zu fördern oder bei bestimmten Sachen zu unterstützen. Und all dies ist eigentlich im Moment so nicht möglich.

Warnung vor Auseinanderdriften

Jahn: Also, Sie fordern, dass Schulen gestärkt werden und verbindliche schulinterne Konzepte entwickelt werden, um auf die Bedürfnisse der jeweiligen Schülerschaft einzugehen. Eine weitere Forderung ist, dass die Bildungspolitik, also auf höherer Ebene, einen Perspektivwechsel vollziehen muss. Was kritisieren Sie denn an der bisherigen?
Oltmanns: Wir möchten, dass eigentlich jetzt mal die Perspektive der Kinder und Jugendlichen eingenommen wird. Die haben in der Pandemie unseres Erachtens viel stärker gelitten als so mancher Erwachsene. Diese Kinder brauchen einfach noch mal mehr Zeit, sie brauchen stabile Voraussetzung, damit sie gut und gerne lernen können. Und wenn wir das nicht schaffen, dann wird die Bildungsschere bei uns in Deutschland weiter auseinanderdriften.
Jahn: Also ein klarer Appell an die Bildungspolitik. Aber Sie haben noch eine weitere Forderung, Sie wollen nämlich eine breite Debatte der bildungspolitischen Verantwortlichen anstoßen. Allerdings muss man sagen, dass ja seit Corona wir bildungspolitische Debatten ohne Ende haben.
Oltmanns: Ja, wir haben eine Vielzahl von Debatten und wir haben eine Vielzahl von Eltern und Bildungsinteressierten, die natürlich immer wieder an unterschiedlichen Stellen versuchen, irgendwas am System Schule oder am System Bildung zu verändern. Daraus schließe ich, dass es auch eine große Unzufriedenheit gibt. Wir haben zwar viele Bildungsreformen in den letzten Jahren erlebt, aber letztendlich, glaube ich, lastet irgendwie auf uns allen immer das Gefühl, es ist nicht so wirklich besser geworden. Und jetzt sehe ich aber, dass trotz aller Debatten gerade jetzt im Bundestagswahlkampf die Bildungspolitik nicht wirklich ein Thema ist. Uns Eltern fehlt da wirklich eine langfristige Perspektive, eine Planungssicherheit und auch ein erkennbarer Wille der Politik, wie man Schule zukünftig anders gestalten kann. Und von daher ist mehr Zeit für das System Schule ganz entscheidend, um eben Lösungen für Bildung und für die Zukunft unserer Kinder gemeinsam mit allen Bildungsinteressierten und besonders natürlich auch den Eltern zu entwickeln. Daraus ergibt sich natürlich die fünfte Forderung von uns, nämlich nach einer bundesweiten Bildungssolidarität. Wir müssen uns einfach eingestehen, dass die Defizite ein gesamtgesellschaftliches Problem sind, dafür müssen wir auch gemeinsam Lösungen entwickeln. Mehr Zeit wäre ein erster Schritt.
Jahn: Also mehr Zeit für die Schule, mehr Zeit für die Schüler, mehr Zeit für bildungspolitische Debatten und auch mehr Zeit, um zueinander zu finden, in Solidarität dafür zu sorgen, dass in unserem Land mehr Bildungsgerechtigkeit herrscht. Ist das so richtig zusammengefasst?
Oltmanns: Genau so kann man es sagen, richtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.