Sandra Pfister: Das neue Jahr ist eine gute Zeit, auch mal darüber nachzudenken, ob wir auf viel zu ausgetretenen Pfaden laufen. Muss man wirklich alles machen wie immer? Nein, hat sich der Kölner Professor Martin Bonnet gesagt. Er lehrt, welche Materialien sich für welche Konstruktionen eignen, und zwar nicht mehr vor Publikum, er hat die Vorlesungen einfach abgeschafft. Herr Bonnet, guten Tag!
Martin Bonnet: Ja, guten Tag!
Pfister: Sie stellen jetzt nur noch Lernvideos ins Netz, keiner muss mehr zu Ihnen in den Hörsaal kommen. Wieso machen Sie das?
Bonnet: Es gibt verschiedene Gründe - zum einen, dass Studenten wirklich eine Chance haben, auch in selbstbestimmtem Tempo auf selbstbestimmte Art und Weise lernen zu können. Das funktioniert natürlich bei einer Vorlesung nicht. Dem einen geht es zu schnell, dem anderen geht es zu langsam, und so haben die Studenten halt die Möglichkeit, sich das anzuschauen, wann sie wollen, wo sie wollen, wie häufig sie wollen oder auch mal die Pausetaste zu drücken und zum Beispiel nicht Verstandenes, Fachbegriffe zu googeln. Das andere ist aber auch, dass eigentlich da eine reine Frontalvorlesung wenig an Kompetenzen, sondern ausschließlich eigentlich Wissen vermitteln kann.
Pfister: Und das ist Ihnen zu wenig?
Bonnet: Genau, das ist mir eigentlich dann zu wenig, und ich hab mich dann gefragt, gerade bei großen Vorlesungen, wo dann zum Teil über 500 Studenten sich in die Straßenbahnen setzen mussten, hier an die TH Köln fahren, nur um mir zuzuhören - da hab ich gesagt, okay, also das kann man auch gut und gerne irgendwann irgendwo anders machen. Ich hab ja damit keine Face-to-Face-Time auf null gefahren, sondern die Sache ist, wenn die Studenten hierhin kommen, dann wollen wir das, was sie da sich draufgeschafft haben an reinem theoretischem Wissen wirklich anwenden, hinterfragen, diskutieren.
Fragenstellen in Kleingruppen
Pfister: Also so was wie menschliche Nähe oder die Gelegenheit, eine Frage zu stellen, das fehlt ihnen nicht, wenn ich es richtig verstehe, weil sie es einfach an anderer Stelle haben.
Bonnet: Genau, jetzt an einer Stelle, wo es auch tatsächlich passieren kann, weil in großen Vorlesungen traut sich dann eh keiner, eine Frage zu stellen oder auch zu beantworten. Jetzt kommen die Studenten immer so in kleinen Gruppen von je zwölf Studierenden, und da bleibt natürlich auch Zeit und Gelegenheit, Sachen, die nicht verstanden sind, zu klären oder Sachen auch von unserer Seite zu hinterfragen, wenn die Studenten das Wissen auch per Transfer auf eine neue Problemstellung übertragen et cetera pp.
Pfister: Das heißt, Sie drehen das so ein bisschen um - vorher hat der Professor vorgelesen und man hat es dann hinterher durchgearbeitet, jetzt gehen Sie davon aus, die Studenten gucken sich erst Ihre Filme an, und im Seminar stellen sie dann die Fragen.
Bonnet: Genau, das Ganze nennt sich dann "flipped classroom", also auf den Kopf gestellter Klassenraum, und genau das ist die Idee dahinter. Bei uns ist tatsächlich auch so, dass ich dann auch im Vorfeld einen kurzen Minitest vorschalte, wo ich gucke, ob das Wissen sich auch wirklich angeeignet wurde. Das klingt natürlich jetzt vielleicht so ein bisschen gruselig, aber ganz ehrlich lieben das die Studenten, weil das alles klausurrelevante Punkte sind, die sie dann halt schon über das Semester sammeln können.
"Reaktionen aus der ganzen Welt"
Pfister: Und wie ist das für Sie, für Sie als Professor, dass Sie auf einmal gar kein Publikum mehr haben, zumindest nicht in dem Moment, und gar keine Reaktionen?
Bonnet: Das ist natürlich schon ein bisschen was anderes, aber man kann natürlich gerade in diesen kleinen Präsenzveranstaltungen sich wirklich eine ganz andere Form von Reaktionen dann viel konkreter, viel persönlicher einholen. Und das andere ist, dadurch, dass die Lehrvideos ja bei YouTube online stehen, kriege ich halt mittlerweile Reaktionen aus der ganzen Welt, vorrangig natürlich aus dem deutschsprachigen Raum, und das ist halt auch interessant zu sehen - einfach Lob, konstruktive Kritik, fachliche Fragen und das eben von Leuten von allen möglichen Hochschulen.
Pfister: Und reagieren Sie denn auch, sind Sie grundsätzlich verfügbar für die Nachfragen, die dann kommen?
Bonnet: Genau, alles, was irgendwie an sinnvollen Fragen da ist, gibt es auch eine sinnvolle Antwort zu.
Wissen in Häppchen
Pfister: Sie haben die Länge dieser Clips auf 15 Minuten begrenzt, ist das so eine Art Antwort auf die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne?
Bonnet: Ja, also ich hab bei meinen allerallerersten Versionen von Videos, die ich noch damals am PC selber produziert habe, da habe ich dann eine komplette Doppelvorlesungsstunde in diese Videos reingepackt, und da kam dann das Feedback von Studierenden, das wäre einfach viel zu lang. Und da hab ich mich dann mit Medienpädagogen und Psychologen unterhalten, die sagten, ja, das Problem ist, dass tatsächlich es anstrengender ist, bei einem Video die Aufmerksamkeitsspanne über so einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten im Vergleich zum Beispiel zu einer Vorlesung.
Pfister: Sie lassen aber keine Inhalte weg, Sie bündeln das nur in kleinere Häppchen?
Bonnet: Genau. Das sind dann einfach mehr Videos geworden, aber die Psychologie sagt eben, wenn ich schon mit einem Video angefangen habe, dann muss ich das irgendwie zu Ende schauen. Und wenn man dann halt schon eine Dreiviertelstunde geschaut hat, dann lässt dann irgendwann doch die Aufmerksamkeit nach.
"Muss sowohl zum dem Fach als auch zu der Lehrperson passen"
Pfister: Ihr Grundkonzept hört sich für mich plausibel an, dass die Studenten zu Hause arbeiten und die Fragen und das Eingemachte dann mit Ihnen in Präsenz vor Ort klären. Lässt sich das auf alle Inhalte übertragen, auch auf andere Fächer?
Bonnet: Würde ich so pauschal nicht sagen. Zum einen ist es natürlich ein bisschen vom Fach abhängig, wenn es zum Beispiel bei dem Fach ganz stark darum geht, dass man auch das Diskutieren zum Beispiel erlernen will oder das wirklich in wissenschaftlichen Fragestellungen diskutieren will. Kann sein, dass man das dann nur so punktuell nutzt, dass man bestimmte Wissensblöcke dann zum Beispiel über solche Formen dann vermittelt, aber vielleicht nicht die komplette Lehrveranstaltung flipped. Und das andere ist, es muss natürlich auch zu der Lehrperson passen. Nicht alle stellen sich gerne vor eine Kamera, lassen sich filmen, also das muss sowohl zum dem Fach als auch zu der Lehrperson passen, würde ich sagen.
Pfister: Darf ich noch mal nachfragen, wie ich mir das vorstellen muss? Setzen Sie sich in Ihr Wohnzimmer, setzen Sie sich in Ihre Küche mit einer Tasse Kaffee, ziehen Sie sich irgendwie ein bisschen schicker an oder nehmen Sie das in der Jogginghose auf?
Bonnet: Ich nehme das eigentlich so auf, wie ich normalerweise auch rumlaufe, das heißt Jeanshose, Hemd und Schlips, aber wir haben bei uns mittlerweile an der TH Köln ein eigenes Medienbüro. Da gibt es dann halt ein Aufnahmestudio, das heißt, wir haben einen Green Screen, das heißt, ich kann meine Vorlesung erzählen, zum Teil halt mit Mustern in der Hand, zum Teil mit Flipchart. Und das heißt, ich stelle mich dahin, erzähle meine Vorlesung, aber die Hauptarbeit müssen dann eigentlich die Leute aus dem Medienbüro machen, das Ganze nämlich dann hinterher sehr professionell zusammenschneiden.
Pfister: Martin Bonnet war das, vielen Dank, dass Sie uns das erzählt haben - Professor in Köln, der Vorlesungen abgeschafft hat und nur noch online liest beziehungsweise flipped, wie er uns gerade gesagt hat. Danke!
Bonnet: Vielen Dank, Frau Pfister!
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