Katajun Amirpur: "Dschihad kann alles Mögliche heißen, also Krieg, Kampf, aber auch der Kampf gegen den inneren Schweinehund, dass ich jeden Morgen aufstehe und joggen gehe, beispielsweise. Oder es wird verwendet in islamischen Ländern, wenn es darum geht, Alphabetisierungskampagnen voran zu treiben."
Ömer Öszoy: "Im Koran spricht nicht Gott, weil Gott weder arabisch noch deutsch sprechen würde. Also, wenn er in einer menschlichen Sprache spricht, dann muss das interpretiert werden. Und das ist die Folge: Was wir im Koran lesen, das ist eher Spiegel dessen, was damals eigentlich der Fall war. Die Situation, die damals aktuell war, ist nicht unsere Situation."
Mouhanad Khorchide: "Wir Muslime projizieren öfter ein Bild von einem Gott, das einem archaischen Stammesvater ähnelt. Weil man in bestimmten archaischen, patriarchalen Strukturen aufgewachsen ist, projiziert man diesen Gott, der droht und befiehlt."
Oft wird dem Islam nachgesagt, er könne sich nicht modernisieren. Er sei rückständig und unaufgeklärt. Und in der Tat: Fundamentalistische, islamistische Strömungen, die die Religion zur Grundlage für alle Bereiche des Lebens machen wollen, sind nicht zu überhören. Das bedeutet aber nicht, so Sabine Damir-Geilsdorf, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln, dass es andere, reformorientierte Strömungen im Islam nicht gibt:
"Es gibt Reformbewegungen in sehr unterschiedlichen Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung. Man sieht sie in Südostasien, aber auch im Nahen Osten und den Golfstaaten, die Bewegungen gibt es und die sind auch stark. Aber zeitgleich gibt es auch viele konservative Bewegungen, die bei uns lauter wahrgenommen werden, weil sie mehr von sich sprechen machen, sogenannte salafistische Bewegungen oder auch wahabitische Bewegungen."
Doch nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Deutschland ist das muslimische Denken in Bewegung. In den Zentren für islamische Theologie, die in den letzten Jahren eingerichtet wurden, werden Denkräume eröffnet, die die "Anschlussfähigkeit" der Religion an die Moderne erproben, so Ömer Öszoy. Der Professor für muslimische Theologie in Frankfurt entstammt der sogenannten "Schule von Ankara", deren Intentionen er folgendermaßen zusammenfasst:
"Wir haben für eine kritische Theologie plädiert. Also keine dogmatische Theologie als Untermauerungsbetrieb dessen, was man glauben sollte, sondern eine kritische Theologie und Anschlussfähigkeit an Tradition und Moderne, Offenheit zur Philosophie und zum westlichen Gedankengut und Anspruch auf Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs."
Barmherzigkeit statt Gehorsam und Angst
Am exponiertesten unter den kritischen muslimischen Theologen ist der Münsteraner Professor für islamische Religionspädagogik Mouhanad Khorchide. Gegen die, wie er meint, in der islamischen Welt weitverbreitete "Theologie des Gehorsams und der Angst" vertritt er eine "Theologie der Barmherzigkeit":
"Wenn man den Koran genauer anschaut, dann beginnen 113 von den 114 koranischen Suren mit dem Namen Gottes des Allbarmherzigen, des Allerbarmers. Das muss einen Sinn haben, warum Gott sich für diese Botschaft entschieden hat. Er hätte auch sagen können, im Namen Gottes des Allmächtigen, aber er hat sich für die Barmherzigkeit entschieden."
Die Liebe und Barmherzigkeit Gottes stehen über seinem Zorn. Und wenn er straft, dann nur aus "erzieherischen" Gründen, um die Menschen auf den rechten Weg zu bringen. Entsprechend sei auch die Hölle mit ihren lodernden Feuern, die auf ewig über den Sündern zusammenschlagen, als Metapher zu verstehen, sozusagen als leidvolle Konfrontation mit den eigenen Verfehlungen. Die einfache Bildhaftigkeit des Korans, in dem von blühenden Paradiesgärten mit schwarzäugigen Jungfrauen die Rede ist oder von einem riesigen Raum mit sieben Toren, in dem ein großes Feuer brennt, habe dazu gedient, sich den Wüstenbewohnern des 7. Jahrhunderts verständlich zu nähern. Khorchide:
"Natürlich so eine Gesellschaft wird nicht angesprochen von einem Gott, der zu sehr liebend sich zeigt. Und wenn die Menschen in so einer Gesellschaft sind, die erwarten einen starken Gott und entsprechend präsentiert sich Gott. Das Problem ist, dass viele Muslime das nicht reflektieren, wenn Gott dieses oder jenes oder sich auf diese oder andere Weise beschreibt, dass das auch im Kontext des 7. Jahrhunderts steht."
Khorchides Thesen sind umstritten. Der in Saudi-Arabien aufgewachsene Sohn palästinensischer Flüchtlinge verlasse den Boden der traditionellen islamischen Lehre, seine Thesen seien schlichtweg unwissenschaftlich, heißt es in einem Gutachten der deutschen Islamverbände. Die Universität Münster hält derzeit allerdings an ihrem Wissenschaftler fest, der im November des vergangenen Jahres sogar Besuch von Bundespräsident Gauck bekam.
Für Khorchide steht fest, dass der Koran nicht für alle Zeiten wortwörtlich zu verstehen ist, sondern dass er interpretiert werden muss. Eine Einsicht, der sich auch andere islamische Theologen anschließen, die aber nicht unumstritten ist. Katajun Amirpur, Professorin für islamische Studien und islamische Theologie an der Universität Hamburg. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch "Den Islam neu denken":
"Das ist die zentrale Frage, die seit Jahrhunderten diskutiert wird in der islamischen Theologie. Es gibt Strömungen, die das sehr stark wörtlich auslegen und sagen, das steht da so, das muss auch so gemacht werden. Und dann gibt es auch moderne Strömungen, auch Strömungen, die es schon immer gab, eine zum Beispiel die Mutaziliten, das war im 8., 9. Jahrhunderts so praktiziert, die gesagt hat, natürlich ist das nicht alles so wortwörtlich zu nehmen, man muss es eben mit der Vernunft abwägen und in einen bestimmten Kontext setzen."
Keine zeitlose Offenbarung
Für Ömer Öszoy ist klar, dass der Koran natürlich eine Schöpfung Gottes ist, aber eben nicht dessen ewige, wörtliche Äußerung. Der Koran sei keine zeitlose Offenbarung, sondern die aktuelle Rede Gottes an eine bestimmte Gruppe Menschen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Schon früh habe es im Übrigen unter islamischen Wissenschaftlern einen Katalog gegeben, der Zeitliches und Überzeitliches in der göttlichen Offenbarung unterschied:
"Traditionell teilt man den Inhalt des Korans in drei Bereiche ein. Erstens Glaube und Rituale. Von dem Bereich geht man davon aus, dass er überzeitlich und unveränderlich ist. Als zweiten Bereich sehen wir den ethischen Bereich, wo diskutiert wird, welche ethischen Komponenten, Prinzipien oder Einheiten als universal gültig anzusehen sein könnten und welche als historisch bedingt. Der dritte Bereich wäre der rechtliche Bereich mit dem Anspruch das irdische Leben zu regeln. Von dem Bereich nimmt man an, dass dieser Bereich total zeitlich ist und somit veränderbar."
Dieser rechtliche Bereich ist das, was die Scharia regelt. Die Scharia, so die verbreitete Meinung, bestehe aus vielen Gesetzen, die den Menschen ein für alle Mal genau vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Heißt das also, auch heute solle Dieben die Hand abgehackt werden, Ehebrecherinnen gesteinigt oder ungehorsame Frauen gezüchtigt werden? Doch die Scharia ist kein real vorliegendes Gesetzbuch. Dass auch hier Interpretation erforderlich ist, sehen sogar, wie Sabine Damir-Geilsdorf erläutert, konservative islamische Rechtsgelehrte manchmal ein:
"Yussuf al Qaradawi, der lebt in Katar, hatte auch eine Fernsehserie auf Al Jazeera, der ist sehr prominent. Er gilt als sehr konservativ. Aber er hat auch ein Rechtsgutachten erlassen, dass Frauen, die heute reisen, nicht mehr ein männliches Familienmitglied als Begleitung brauchen. Weil er sagt, dass sich die Bedingungen heute im Vergleich zum 7. Jahrhundert geändert haben. Während es im 7. Jahrhundert gefährlich gewesen sei durch die Wüste zu reisen, wäre das heute anders, wenn sie mit dem Flugzeug reisen, haben sie unzählige andere Passagiere um sich herum. Also auch er ordnet diese Sache in historische Kontexte ein."
Zwar gebe es, so Ömer Öszoy, seit der Moderne eine breite Strömung im Islam, die eine vermeintlich worttreue Deutung der Scharia bis hin zu der Einführung von Körperstrafen oder der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen fordert. Doch auch er beharrt darauf, dass die Scharia aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und in die Gegenwart weiterzuentwickeln sei:
"Wenn man sich an den Wortlaut halten möchte, droht das zu Ergebnissen zu führen, die nicht korankonform sind. Wenn Sie sich zum Beispiel an den Wortlaut der Passagen des Korans, in denen es um Kriegführung geht, um die Stellung der Frau geht, um Erbverteilung geht, halten wollen, dann ist das höchstwahrscheinlich, dass sie zu einer Praxis gelangen, die durch den Koran nicht legitimiert werden kann, weil all diese Themen auf Ereignisse, Begebenheiten der Offenbarungszeit zurückzuführen sind."
Den Koran aktualisieren
Es gelte deshalb, die Intentionen, die der Koran im 7. Jahrhundert offenbarte, auf die heutige Zeit hin zu aktualisieren. Und das bedeute:
"Danach zu fragen, von wo der Koran seine Adressaten abgeholt hat und wo er sie hingebracht hat. Dann öffnet sich die Möglichkeit zu sehen, ob der Koran durch diese uns heute inhuman erscheinenden Vorschläge oder Regelungen zu Fortschritten beigetragen hat oder Rückschritten. Es ist ja nicht zu ignorieren, dass die Erbverteilung, die der Koran vorschreibt, fortschrittlich ist aus einer historischen Perspektive."
Warum die Erbverteilung zwischen Männern und Frauen, die vom heutigen Standpunkt ungerecht erscheint, damals fortschrittlich war, erläutert Mouhanad Khorchide:
"Provokantes Beispiel, zum Beispiel die Töchter kriegen die Hälfte von dem, was die Söhne bekommen. Wenn man denn Offenbarungsanlass kennt, steht da, dass der Prophet seinen Gefährten als Vorschlag gebracht hat eines Tages, ja was haltet ihr davon, ich möchte, das die Töchter etwas erben. Denn damals haben sie gar nicht geerbt, weil sie in einen anderen Stamm geheiratet haben, hat man Angst gehabt, der Besitz des einen Stammes geht in fremde Hände, zum andern Stamm. Die Reaktion war so, dass sie gesagt haben, das kommt nicht in Frage, das war zu revolutionär. Das bedeutet, wir müssen heute fragen, was will der Koran uns heute sagen, in einer Gesellschaft wo Männer und Frauen beide arbeiten, dieselbe Verantwortlichkeit in der Gesellschaft tragen?"
Zwar ist der Feminismus westlicher Provenienz in Teilen der islamischen Welt negativ besetzt, er gilt als Erbe der Kolonialzeit und zudem als gottlos. Zugleich gibt es aber Versuche, die Gleichberechtigung von Mann und Frau aus dem Islam heraus zu begründen. Denn diese Gleichheit sei bereits im Koran verwurzelt, der deshalb neu interpretiert werden müsse. Das Problem des Korans sei, so meint zum Beispiel die gebürtige Pakistanerin Asma Barlas, eine einflussreiche Vordenkerin des islamischen Feminismus, dass dieser 1400 Jahre ausschließlich von Männern interpretiert worden sei:
"Die Frauen sagen, dass man sich in einer frauenfeindlichen Zeit befand und dass die meisten Kommentare von Männern gemacht worden sind. Deswegen sagen Frauen, es ist das A und O, dass die Frauen an Bildung kommen und sich das alles selbst noch mal vornehmen und in der Lage sind zu verstehen, was steht da im Text und wie kann ich das anders deuten?"
Fingerzeig in eine bestimmte Richtung
Zum Beispiel, dass es nach islamischem Recht möglich ist, mehrere Frauen zu heiraten?
Katajun Amirpur: "Wenn man die Sure dann mal zu Ende liest, dann steht ja drin, es ist nur unter der Bedingung möglich, mehrere Frauen zu heiraten, dass man dann alle Frauen gerecht behandeln kann. Und diese Feministinnen argumentieren dann damit und sagen, genau das ist der Punkt, niemand kann sagen, dass er allen Frauen gegenüber gerecht ist. Und mit dieser einschränkenden Klammer sagt der Koran eigentlich, ihr schafft es nicht, ihr könnt es nicht. Das ist nur in Ausnahmefällen überhaupt möglich."
Die Botschaft des Korans und die Moderne müssen sich also keineswegs widersprechen. Ohnehin sei es so, schreibt Ömer Öszoy, dass sich nur etwa zehn Prozent dessen, was der Koran aussagen will, wirklich in den heiligen Texten finden lasse, der Rest sei vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit interpretationsbedürftig. Deshalb, so der Frankfurter Theologe, müsse man den Koran "als einen Fingerzeig in eine bestimmte Richtung" deuten. Als einen Wegweiser sozusagen, der eine Orientierung vorgibt, wohin der Weg geht. Problematisch wird es allerdings, wenn die Menschen auf den Finger schauen statt in die Richtung, in die der Finger weist. Sabine Damir-Geilsdorf:
"Die meisten Muslime gehen sicher davon aus, dass der Koran Gottes Wort ist und dass er eine überzeitliche Bedeutung hat. Aber es gibt auch Muslime, die versuchen verschiedene Sinnebenen im Koran zu unterscheiden. Eine Religion ist modernisierbar, denn es ist ja nicht die Religion, sondern die Menschen, die eine Religion modern oder nicht modern interpretieren und nicht die Religion an sich. Und Interpretationen, wenn man Modernisierung versteht als zeitgenössische Antworten auf gegenwärtige Problemlagen, dann ist das sicher ein Anliegen von Anhängern aller Religionen. Und auch Muslime versuchen das, Antworten auf gegenwärtige Problemlagen heraus zu interpretieren."