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Lesbische und schwule Manga
Zwischen zögerlichem Coming-out und Tabu

Gleichgeschlechtliche Liebe im Manga? Das gab es bisher vor allem im populären Genre "Boys Love" - Liebesgeschichten zwischen Männern, die vor allem von Frauen für Frauen geschrieben werden. Nun erscheinen auf Deutsch zwei Manga über echte homosexuelle Lebenswelten - und die stellen schamlose Fragen.

Von Andrea Heinze |
Szene aus Kabi Nagatas "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit": Eine Frau legt sich zu einer anderen ins Bett
Szene aus Kabi Nagatas "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit" (Carlsen Verlag)
Scheu sitzt Kabi Nagata bei einer Prostituierten. Mit Ende 20 traut sie sich immer noch nicht, sich einzugestehen, dass sie lesbisch ist. Die erste Szene im Sex-Hotel beinhaltet schon das ganze Leid von Kabi Nagata: Während die Prostituierte mit dem Finger über ihren Körper streicht, rasen Gedanken durch ihren Kopf - weil ihre Haut übersät ist von Wunden, die sie sich selbst zugefügt hat, weil sie nicht weiß, wie danach die Geldübergabe funktioniert, und weil sie bemerkt, dass hier überhaupt keine Erotik in der Luft hängt.
Kabi Nagata: "Was das Sexuelle angeht, so gleichen meine Erfahrungen denen eines Neugeborenen."
Kabi Nagata hat ihre persönliche Leidensgeschichte als Web-Manga veröffentlicht. In der Printversion hat ihre Geschichte "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit" in Japan die Bestsellerlisten gestürmt – und ist auch in der westlichen Welt erfolgreich: Im vergangenen Jahr gab es für die englische Ausgabe den renommierten Harvey Award. Das liegt vor allem daran, dass sie die Ursachen und Folgen ihrer ungeheuren Selbstverleugnung so detailliert aufschlüsselt, dass ihre Gefühlswelt auch für ein breites Publikum nachvollziehbar wird. Nagata hat Schwierigkeiten, sich selbst zu verwirklichen, auch die Jobsuche fällt ihr schwer.
"Der Chef hat die ganze Zeit gelächelt, obwohl er immer früh aufstehen muss und so beschäftigt ist. Die Unterhaltung mit ihm war so angenehm. Ich wurde nicht genommen."
Kabi Nagata zeichnet all das mit einfachen schwarzen Strichen, knallpinken Akzenten und einem krachenden Humor, der geradezu befreiend ist. Weil sie trotz ihrer schrecklichen Geschichte nicht dem Selbstmitleid verfällt, sondern ihre absurde Situation immer wieder so überzeichnet, dass es komisch wird. Erfrischender wurde eine verhinderte Coming-out-Geschichte wohl noch nie erzählt.
Der Onkel aus Kanada
Genauso lustig und deutlich weniger tragisch kommt Gengoroh Tagames Manga "Der Mann meines Bruders" daher. Es geht um den alleinerziehenden Yaichi und seine Tochter Kana. Die beiden bekommen plötzlich Besuch von Mike aus Kanada, dem Ehemann von Yaichis Zwillingsbruder. Denn weil der gestorben ist, möchte sich Mike auf die Spuren seines Mannes begeben. Ärgerlich ist, dass Yaichi seiner Tochter nie von seinem schwulen Bruder erzählt hat.
Kana: "Hurraaa! Ich habe einen Onkel aus Kanada!"
Yaichi ist dagegen gar nicht begeistert von dem Besuch. Ihm ist nicht wohl, wenn seine Tochter neugierig im Brusthaar des Schwagers wühlt. Allein dieser Körper ist ihm ganz fremd: ein großer, kräftiger und stark behaarter Typ mit Vollbart, der an einen kanadischen Holzfäller erinnert, aber dafür eigentlich viel zu bunte Blümchen-Hemden trägt. Bald wird aber deutlich, dass Yaichi vor allem Schwierigkeiten mit Mikes Homosexualität hat – und dass er sich damit nicht auseinander setzen möchte.
Yaichi: "Vielleicht kennt Mike eine Seite von Ryoji, die ich nicht kenne. Verdammt! Das wird irgendwie zu konkret. Den Gedanken will ich lieber nicht vertiefen."
Neuer Zugang auf schwule Lebensweisen
Gengoroh Tagame ist eine Art japanischer Ralph König. Bislang hat er Pornos für die Schwulenszene gezeichnet. Mit "Der Mann meines Bruders" begeistert er nun ein breites Publikum - weil er Charaktere entwickelt, die schamlos fragen und so einen neuen Zugang auf schwule Lebensweisen ermöglichen. Und weil Gengoroh Tagame deutlich herausarbeitet, wie die eigene Haltung die Wahrnehmung beeinflusst, und was in einem Menschen passiert, der nicht den Gepflogenheiten des Mainstreams folgt. Yaichi zum Beispiel antwortet auf die Frage eines Nachbarn, wer denn Mike sei:
Yaichi: "Das ist ein Freund meines Bruders."
Und das, obwohl er da schon einige Vorbehalte über Bord geworfen hat und anfängt, Mike zu mögen. So wie "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit" wurde auch "Der Mann meines Bruders" in den USA ausgezeichnet – mit dem renommierten Eisner-Award. Beides zu recht!
Kabi Nagata: "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit"
Carlsen Verlag Hamburg, 2019. 144 Seiten, 15 Euro.
Gengoroh Tagame: "Der Mann meines Bruders. Bd.1: Die Invasion des Fremden"
Carlsen Verlag Hamburg, 2019. 180 Seiten, 10 Euro.