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Lessing gegen den Strich

Wir befinden uns im Luxusappartement eines italienischen Aristokraten. Wandpaneele aus edlem Holz, ein chicer Fauteuil, ein Bar- und Musikmöbelstück vor einer duftigen Vorhangwand vermitteln einen Eindruck von lässiger sechziger Jahre-Eleganz. La Dolce Vita kommt einem in den Sinn, und der Prinz Gonzaga, der im weißen Seidenpyjama die am Boden verstreuten Bittschriften durchsieht, passt ganz ins Ambiente: dekadent, sentimental, jedenfalls egozentrisch. Er ist verliebt, gefällt sich in der Rolle des leidenschaftlich Liebenden, und als er erfährt, dass die Angebetete einen anderen heiraten soll, ist Selbstmitleid die erste Reaktion. Gewohnt, zu kriegen was er haben will, lässt er sich voll auf die vorgeschlagene Intrige des skrupellosen Freundes ein, die Tragödie nimmt ihren Lauf.

Ein Beitrag von Maria Rennhofer | 21.12.2002
    Andrea Breth hat Lessings bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti in ein modernes Psychodrama transponiert, ohne dem Stück oder dem Dichter in irgendeiner Weise Gewalt anzutun. Gelungen ist ihr damit eine der brillantesten Aufführungen der letzten Jahre, auch im Vergleich mit ihren eigenen aktuellen Inszenierungen. Was Germanistengenerationen als Lessings mutige Kritik am schamlosen Treiben absolutistischer Fürsten priesen, gewinnt hier viel zeitlosere Dimensionen: es geht nicht um den Klassenunterschied zwischen dem adeligen Genussmenschen und der bürgerlichen reinen Seele. Es geht vielmehr um Egoismus, der längst alle Klassenschranken durchbrochen hat und Hochkonjunktur feiert in Zeiten der Spaßgesellschaft, da milde belächelt wird, wer nicht gelernt hat, sich zu bedienen.

    Um das zu zeigen, bedarf die Breth keiner oberflächlichen Spielereien, nur einer Handvoll exzellenter Schauspieler, mit denen sie detailgenau gearbeitet hat. Sehr klug setzt sie die Handlung zwar in eine Art Gegenwart, aber doch in eine Epoche, die die Logik einer gewisse Allüre und bestimmter Redewendungen des Lessingschen Originals noch nicht durchbricht. Die Bühnengestaltung von Annette Murschetz und Dagmar Niefinds Kostüme geben optische Assoziationshilfen. Im Gegensatz etwa zu Michael Thalheimers Berliner Inszenierung, einer gelungenen, u.a. mit dem Wiener Nestroy-Theaterpreis ausgezeichneten abstrakten Stilisierung des Textes, setzt Andrea Breth auf erzählerische Genauigkeit, psychologische Plausibilität und Gefühlswahrheit in jedem Wort, in jedem Tonfall, in jeder Geste.

    In dieser Stimmigkeit verwischen sich Bedeutungsebenen von Haupt- und Nebenrollen. Sven-Eric Bechtolf als Prinz Gonzaga: ein verzogenes Kind, dem die Ungeheuerlichkeit seines Tuns und damit seine Schuld nicht einmal bewusst ist, denn Drahtzieher der Intrige war ja Marinelli, den Roland Koch als gar nicht dämonischen, sondern durchaus alltäglichen Karrieristen und Opportunisten gestaltet. Elisabeth Orth, glaubhaft wie schon lange nicht mehr als Emilias Mutter zwischen Sorge und ausgeprägtem Stolz auf ihr Kind, dessen Erfolg beim Prinzen zwar nicht gebilligt werden darf, aber doch seinen unwiderstehlichen Reiz besitzt. Michael König als sittenstrenger Vater, der die Tochter lieber dem Tod als der Schande ausliefert und dennoch wahres Gefühl hinter der harten Fassade seiner moralischen Grundsätze nicht verbergen kann. Und Johanna Wokalek als Titelheldin in der ganzen jugendlichen Verwirrung zwischen Angst, erwachender Leidenschaft und Schuldgefühl. Schließlich Andrea Clausen als Gräfin Orsina, die verlassene Geliebte des Prinzen, ein fragiles Zauberwesen, das die Mechanismen von Macht und Leidenschaft so messerscharf analysiert und hinter dessen Lächeln die unterdrückten Tränen durchschimmern. Und viele kleinere Charakterstudien, die mit wenigen Details einen ganzen Menschen entstehen lassen.

    Andrea Breth hat mit ihrer Deutung von Lessings Emilia Galotti ein atemberaubendes Kammerspiel, ein Psychodrama, einen packenden Krimi inszeniert, und damit die ganze zeitlose philosophische Dimension des Stücks einem heutigen Publikum hautnah zugänglich gemacht.

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