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Lessing-Preis für Kritik
Auszeichnung für streitbaren Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler

Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat mit seiner kritischen Haltung Debatten angestoßen. Deswegen wurde der 82-Jährige nun mit dem Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet. In seiner Dankesrede kritisierte er die dramatische Zuspitzung der sozialen Ungleichheit in Deutschland.

Von Alexander Budde |
    Der Historiker Hans-Ulrich Wehler
    Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat mit seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" ein Standardwerk geschaffen. (picture alliance / dpa / Matthias Benirschke)
    Ein Ring mit Stachel kommt mit dem Lessing-Preis für Kritik. Das Schmuckstück ist stete Mahnung auch für seine Träger. Denn wer besser hätte es formulieren können als Gotthold Ephraim Lessing, die wortgewaltige Leitfigur der Wolfenbütteler Stiftung:
    "Des Tapfern Blick ist mehr als des Feigen Schwerd."
    So steht der er denn am Pult in der Herzog August Bibliothek, vor der Kulisse prächtig aufgestapelter Literatur, und lässt nicht locker: Hans-Ulrich Wehler nutzt seine Dankesrede, um noch einmal die Aufmerksamkeit auf die, wie er meint, dramatische Zuspitzung der sozialen Ungleichheit im Lande zu lenken.
    Kritik an Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland
    "Der Aufstieg der Spitzeneinkommen hat sich in einem atemberaubenden Tempo vollzogen!"
    Mahnt Wehler - und der wirkungsmächtige Sozialhistoriker aus Bielefeld führt aus, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich im Lande in den letzten Jahrzehnten immer weiter geöffnet habe: Während Mittel- und Unterklasse stagnierende bis schrumpfende Einkommen verbuchten, seien die Vorstandsgehälter der größten börsennotierten Konzerne in Sphären vorgestoßen, die durch keine auch nur anzunehmende Leistungssteigerung der beteiligten Machtelite mehr zu rechtfertigen sei. Das im Ausland geparkte "Fluchtkapital" belaufe sich auf geschätzte 640 Milliarden Euro, schätzt der Preisträger, dem kritische Zunftkollegen eine hemmungslose Pauschalisierung und einen schluderhaften Umgang mit der Statistik nachsagen. Mit raumgreifenden Gesten und unter den bangen Blicken seines gut situierten Publikums beklagt Wehler, das das reichste Land Europas auf eine Vermögenssteuer verzichtet. Eine Erbschaftssteuer in Höhe von 50 Prozent wie in Frankreich schwebt ihm vor.
    "Das hätte gereicht für eine Reform des Bildungswesens und für die Verkehrsinfrastruktur, die Renovierung der Innenstädte in Ost und West und vieles mehr, ohne dem Bürger einen einzigen weiteren Cent abzuknöpfen."
    Ohne milliardenschwere Investitionen in die frühkindliche Bildung vor allem für Migrantenkinder sieht der 82-Jährige ein "analphabetisches Subproletariat künftiger Arbeitsloser" heranreifen. In der angelsächsischen Welt tobe längst ein leidenschaftlicher Streit um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und zum Zustand des Kapitalismus überhaupt, bemerkt Wehler. Streitbare Fachkollegen wie Joseph Stiglitz und Thomas A. Piketty schrieben dort Brandschriften in hoher Auflage.
    "Da bin ich wieder darauf gestoßen, wie stumm die deutsche Diskussion ist. Meine Sorge ist, dass man nie weiß, wann die rote Gefahrenschwelle erreicht wird. Wenn zum Beispiel die Minijobs jetzt acht Millionen erreicht haben, ist das eine Zahl, die vor wenigen Jahren die Leute für ganz unglaubwürdig gehalten hätten. Und man nicht weiß, ob bei zehn Millionen Minijobs sich eine Unruhe ausbreitet - und dann fehlt jede Diskussion, die das auffangen kann! Ich glaube nicht, dass die Leute auf die Barrikaden gehen. Das ist vorbei. Aber dass man nicht bereit ist, auf gravierende Probleme des Landes einzugehen, dass finde ich irritierend."
    Begnadeter Polemiker
    Wehler sei ein wortmächtiger Meister der Kontroverse, bemerkt Volker Ullrich beim Festakt in Wolfenbüttel. Der Generation der Flak-Helfer angehörend und gegen später gegen alle totalitären Heilslehren immunisiert, habe der begnadete Polemiker eine zentrale Rolle bereits im intellektuellen Leben der frühen Bundesrepublik gespielt, so der Laudator und Historiker. Auch in tagespolitischen Debatten melde sich der streitbare Gelehrte immer wieder zu Wort. Nicht immer frei von Irrungen habe sich der Kollege an Daniel Goldhagen wie Thilo Sarrazin gerieben, sich mit Vehemenz gegen den EU-Beitritt der Türkei ins Zeug gelegt. Doch die Zeit der leidenschaftlichen Kämpfe sieht Ullrich vergangen.
    "Ich beobachte das auch mit einiger Sorge, dass die Streitlust unter den jüngeren Historikern doch entscheidend nachgelassen hat. Vermutlich hat es etwas damit zu tun, dass überhaupt die Kampffelder etwas unübersichtlicher geworden sind, dass die Fronten nicht mehr so ganz klar verteilt sind wie seinerzeit. Auf der anderen Seite habe ich auch das Gefühl, dass junge Historiker viel stärker aufgrund der prekären Arbeitssituation dazu neigen, sich eher nicht einzumischen, sich nicht zu exponieren - zumindest nicht gegen etablierten Autoritäten der Zunft."
    Da muss auch Förderpreisträger Albrecht von Lucke zustimmen - aller Selbstgerechtigkeit der Altvorderen zum Trotz. Hans-Ulrich Wehler zumindest bekennt auch an diesem Abend, dass ihm die Versöhnung nichts bedeute. Von Altersmilde keine Spur.
    "Ich fahre jetzt nach Hause und setze mich wieder an den Schreibtisch!"