Wenn im ZDF die Hitparade lief, dann waren wir immer woanders. Angeblich. Schließlich war es die große Zeit der Beatles, der Rolling Stones oder der Kinks. Und wer wollte sich schon mit deutschen Schlagern erwischen lassen? Aber wenn uns die gar nicht mal so angenehme Marktschreier-Stimme von Dieter Thomas Heck aus dem Fernseher anbrüllte, dann ließ man sich doch immer mal wieder einfangen. Es war ja erst zehn vor sieben, diese fatale Zeit zwischen Familientag und Saturday Night Fever. Und außerdem: irgendwie schön schrill war das ja schon auch.
Das Erfolgsrezept einer Sendung
Bei uns ging es um Satisfaction, Revolution und Experience, bei denen immer noch um goldene Ringe, weiße Hochzeiten und rote Rosen. Und wie die schon aussahen! Naja, ein bisschen wie wir selber, bloß viel braver und frischer gewaschen. Sie rochen förmlich aus dem Apparat heraus nach Feinwaschmittel, Tanzstunde und Softeis. Sie sangen ihren jeweils neuen Schlager, und dann konnten die Zuschauer per Postkarte ihren Liebling wählen. Die Gewinner durften beim nächsten Mal wieder auftreten. Wer dreimal dabei war, wurde verabschiedet. Aber die Hartnäckigen kamen gleich darauf mit der nächsten Platte schon wieder. So entstand diese Gleichzeitigkeit von immer-was-neues und immer-das-selbe.
Obwohl sie alle nur deutsche Schlager sangen, hatten sie irgendwie international klingende Namen wie Chris Roberts, Roy Black, Wencke Myrrhe, Rex Gildo, Edina Pop oder Cindy und Bert. Die wenigsten hießen wirklich so, wie sie sich als Schlagerstars nannten. Vielleicht war das schon ein Teil des Erfolgsrezepts. In der ZDF-Hitparade wurde nicht im Geringsten verborgen, dass es sich bei Popmusik um eine Ware handelt. Im Gegenteil, der Warencharakter wurde nicht allein durch den Verkäuferton von Dieter Thomas Heck und die Kostüme der Interpreten betont, die immer aussahen, als wäre noch das Preisschildchen dran.
Die ZDF-Hitparade präsentierte Schlager wie Produkte in einem Supermarkt. Und so wie es Verkaufsschlager gab, gab es eben auch Wegwerfware. In der ZDF-Hitparade verwandelte sich die Verlogenheit eines absolut gestrigen Musikgenres in eine pop-artig aktuelle Wahrheit über Konsumkapitalismus und Kulturindustrie. So nannten das die, die sich bei der ZDF-Hitparade nicht erwischen lassen wollten. Aber Andy Warhol, wetten?, hätte seine große Freude gehabt. Und im Übrigen verkaufte hierzulande jeder und jede, die einmal einen vorderen Platz in der ZDF-Hitparade erobert hatte, in einem Jahr mehr Platten als Velvet Underground in der Zeit ihres Bestehens.
Sternstunden des Bildschirmsadismus
Die ZDF-Hitparade spiegelte nicht nur die Werbeästhetik, sondern auch die gnadenlose Konkurrenz. Und da das Ganze in Halb-Playback, mit den wirklichen Stimmen der Sängerinnen und Sänger zum Konserven-Begleitorchester daherkam, war die Wahrscheinlichkeit durchaus gegeben, dass mal jemand danebensang oder den Text vergessen hatte. Sternstunden des Bildschirmsadismus. Natürlich wurde später auf Voll-Playback umgestellt.
Ein paar Jahre später war es nur noch Gewohnheit oder Zufall, was uns zum Einschalten verleitete. Nach der Internationalen Funkausstellung 1973 und der neuen Programmstruktur des ZDF war die Hitparade auf den Sendeplatz um 19.30 Uhr, nach den Nachrichten, gewandert. Ab 1978 begann montags der "Tag der Musik" im ZDF mit der Hitparade.
Sechs Jahre später war sie wieder auf ihrem alten Platz. Und dann … ach dann verliert sich die Spur, immer wieder neue Sendeplätze, neue Moderatoren, die Abkehr vom Prinzip, nur deutsche Texte zuzulassen.
Mit dem trostreichen Titel "Ich hab’ dich noch lieb", der sich übrigens gegen die Konkurrenz von "Und lieb hab’ ich dich auch" und "Ich bin viel schöner" durchsetzte, verabschiedete sich das Format am 16. Dezember 2000. Es hat vielleicht mehr über uns und unsere Zeit erzählt, als uns bewusst war. Und hallt nach wie einer dieser Schlager, die man eigentlich gar nicht hören wollte und dann doch nicht mehr aus dem Kopf bekam. Wie die allererste Nummer eins der Hitparade.