Diese und ähnlich prosaische Nachrichten aus dem Leben in der italienischen Hauptstadt schickte eine junge Lyrikerin Mitte der fünfziger Jahre an Radio Bremen. Ihr Name war Ingeborg Bachmann. Der Information über das neue Fiatmodell aus dem Jahre 1953 schließen sich Betrachtungen an, über das libidinöse Verhältnis der Italiener zu Motoren, über die Straßenverhältnisse, das vermehrte Verkehrsaufkommen, die damit steigende Zahl der Unfallopfer und über die bedenkenswerten Störungen, die diese Entwicklung zukünftig in verkehrstechnischer und lebenspraktischer Hinsicht mit sich bringen könnte. Zehn Jahre später befand sich die Autorin in Berlin und verfaßte das Gedicht „Schallmauer“.
„Der Lärmteppisch, breit und laut, hinter dir her schleift, lärmt und laut lärmt es, es zittern Deine Häuser alle, jeder Fussbreit in deinem Kopf alle deine Besitzungen Gedanken, Gedanken das überrast mit einer Geschwindigkeit die nie die deine war dieser Wahn; es ist nicht mehr, nichts ist mehr, und es ist nicht mehr weit, bis mit dem großen Knall unter dem du dich duckst über dir, oben, du die Schallmauer durchschlägst, nach oben.
Die ungute Prognose der jungen Reporterin hatte sich flächendeckend erfüllt. Der Lärm des Verkehrs, eine Metapher des alltäglichen Schreckens, kommt nun in einem anderen Medium zur Sprache, im Medium der Lyrik. In Berlin, war sie nicht mehr eine Außenstehende, eine bloß wahrnehmende und nachdenkliche Berichterstatterin, die mögliche Störungen voraussieht, hier sieht sie sich – wie das Gedicht „Schallmauer“ zeigt – unentrinnbar ins Zentrum alarmierender Entwicklungen gerückt, – inmitten von Störungen, deren Auswirkungen bis zur Zerstörung der Möglichkeit der Wahrnehmung und des Denkens selbst reichen. Sie fand sich – um es mit ihren eigenen Worten zu sagen:
„an einem gestörten Ort, in einer Verstörung, die von dieser Störung einiges aufzunehmen fähig war.“
Ingeborg Bachmann hielt sich vom Frühjahr 1963 bis Ende 1965 in Berlin auf. Die im Nachlaß aufgefundenen Gedichte, die sie in diesen Zeitraum schrieb, es sind ihre letzten, wurden jetzt von Hans Höller mit sorgfältigen Kommentaren versehen in einem liebevoll gestalteten Buch herausgegeben. Das besondere dieser Publikation liegt in den fotomechanischen Reproduktionen der unterschiedlichen teils handschriftlich korrigierten Fassungen und Entwürfe der Texte, die einen sehr informativen Einblick in die mit ihrer Entstehung verbundenen Wege und Mühen geben. Diese textgenetischen Informationen sind speziell für die Rezeption der drei Gedichte „Keine Delikatessen“, „Böhmen liegt am Meer“ und „Enigma“ aufschlußreich.
Wenn hier von einer kommentatorischen Sorgfalt die Rede ist, so meint dies vor allem Höllers Hinweise auf die verzweigten und vielfältigen Lektüre-Spuren in den Gedichten: Korrespondenzen, Zitationen und Anspielungen, die diese Lyrik direkt und indirekt mit anderen Arbeiten, früheren und späteren der Dichterin selbst, aber auch mit den Texten anderer Autoren verbindet. Zu Recht weist Höller darauf hin, daß viele Motive, die in den Gedichten präsent sind, auch die spätere Prosa Bachmanns – den Roman „Malina“ und den „Todenarten“-Zyklus – beherrschen, und ebenso berechtigt stellt er sie in den Zusammenhang ihres Textes „Kein Ort für Zufälle“, einer Rede über den Ort Berlin, die sie anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises hielt. Für Ingeborg Bachmann war der Ortsname ‚Berlin‘ das Synonym für Verletzungen, ein Schauplatz des Krieges und des Entsetzens mitten im vermeintlichen Frieden. In der Rede, die im herkömmlichen Sinne keine Rede ist, sondern ein essayistisch-lyrisches Prosagewebe, erscheint Berlin als ein katastrophisches Hospital des Grauens, überzogen von den Wunden und Vewüstungen vergangener Kriege, ausgesetzt den gewaltsamen Zumutungen der Gegenwart und umlauert von apokalyptischen Bedrohungen der Zukunft. „Die Beschädigung von Berlin, deren geschichtliche Voraussetzungen ja bekannt“ seien, erzwänge.
„eine Einstellung auf Krankheit, die Krankheit hervorruft“
So formulierte Bachmann einleitend in der ‚Rede‘, deren Titel „Kein Ort für Zufälle“ auf Büchners Erzählung „Lenz“ anspielt. Dort wird gesagt, daß Lenzens Wahnsinn ein Resultat biographischer Zufälle sei. Hier aber, im Berlin dieser Jahre, das betont Bachmann nachdrücklich, war der Wahnsinn kein Resultat zufälliger lebensgeschichtlicher Konstellationen, sondern äußerer Einwirkungen:
„Der Wahnsinn kann auch von außen kommen“
Und das, was dieses Außen mit den Leidenden macht, beschreibt Ingeborg Bachmann sowohl in der Lyrik dieser Zeit, etwa in dem Gedicht „In Feindeshand“ wie auch in der nachfolgenden Prosa und dem Text ihrer Rede.
„Du bist in Feindeshand, Sie mahlen schon Deine Knochen, sie zerstampfen Deinen Blick sie treten Deine Blicke mit den Füssen trillern dir ins Ohr mit den Alarmpfeifen Alarm“
Die thematische und athmosphärische Nähe zur Prosa der Rede ist unverkennbar:
„Die Straßen heben sich um fünfundvierzig Grad. Die Autos, die auf den Horizont zu unterwegs sind, rollen natürlich zurück, die Radfahrer verlieren den Halt. ... ein Sportwagen rast rückwäts in die Anstalt hinein, alle Eimer, Spuknäpfe, Eßkarren und Tragbahren spritzen hoch. Es ist eine Detonation. ... Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt.“
Ungeachtet der prophylaktischen Äußerungen Bachmanns, die ja geradezu die Bitte enthalten, man möge diese Texte nicht bloß als Ausdruck einer zufälligen individuellen Verstörung rezipieren, wurden die Anhänger eines biographisch orientierten Literaturverständnisses nicht müde, auf eine besondere persönliche, möglicherweise in der Beziehung zu Max Frisch gründende Krise hinzuweisen, in der sich die Verfasserin zu diese Zeit befunden habe. Sofern aber lebensgeschichtliche Störungen für die Entstehung dieser Lyrik eine Rolle spielten, das sagt Bachmann in einem Interview ganz deutlich, dann nur in der Weise, daß sie für eine Empfindlichkeit disponierten, die es allererst möglich machte, den allgemeinen äußeren Wahnsinn wahrzunehmen und poetisch in Szene zu setzen. Damit erweist sich aber das, was ein psychologisches Problem schien, als ein primär poetologisches. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung zitiert Ingeborg Bachmann zustimmend das poetische Credo Franz Kafkas:
„Wenn ein Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? ... Ein Buch muß eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.“
Das ist ein alter Traum der Dichter, daß ein Buch mehr sein möge als nur ein Buch, ein Gedicht mehr als ein Gedicht, das Wort mehr als ein nur ein Wort. Ein Traum, der korrespondiert mit der leidvollen Erfahrung, daß das Wort die Mauern nicht zum Einsturz, das gefrorene Meer in uns nicht zum Schmelzen bringt, daß seine Wirkmacht es mit der Gewalt der äußeren Einwirkungen nicht aufnehmen kann, daß eine Sprache, die uns träfe, unmittelbar wie ein Axthieb, nicht zu haben ist, daß sie notwendig im Zeichen des Zuspätkommens, Verfehlens, der Mangelhaftigkeit steht. Davon – vor allem auch davon – sprechen die letzten Gedichte der Bachmann. Das Gedicht „Keine Delikatessen“, das das poetologische Dilemma am deutlichsten ausstellt, rückte daher vielfach ins Zentrum interpretatorischer Bemühungen; es wurde – um einen in diesem Zusammenhang blasphemischen Ausdruck zu bemühen – zum Leckerbissen der Bachmann-Forschung. Vor allem ist es gelesen worden als eine Absage an die Lyrik.
„Nichts mehr gefällt mir.
Soll ich eine Metapher ausstaffieren mit einer Mandelblüte? die Syntax kreuzigen auf einen Lichteffekt? Wer wird sich den Schädel zerbrechen über so überflüssige Dinge –
Ich habe ein Einsehen gelernt mit den Worten, die da sind (für die unterste Klasse) Hunger Schande Tränen und Finsternis
Mit dem ungereinigten Schluchzen, mit der Verzweiflung (ich verzweifle noch vor Verzweiflung) über das viele Elend, den Krankenstand, die Lebenskosten, werde ich auskommen.
Ich vernachlässige nicht die Schrift, ich vernachlässige mich. Die andern wissen sich weissgott mit den Worten zu helfen. Ich bin nicht mein Assistent.
Soll ich einen Gedanken gefangennehmen, abführen in eine erleuchtete Satzzelle? Aug und Ohr verköstigen mit Worten erster Güte? erforschen die Libido eines Vokals, ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?
Muss ich mit dem verhagelten Kopf, mit dem Schreibkrampf in dieser Hand, unter dreihundertnächtigem Druck einreissen das Papier, wegfegen die angezettelten Wortopern, vernichtend so: ich du und er sie es
wir ihr?
(Soll doch. Sollen die andern.)
Mein Teil, es soll verloren gehn.“
Es ist wohl ein Verzweifeln an den Möglichkeiten der Literatur überhaupt, nicht nur an der Form der Lyrik, das in diesem Gedicht, seinen Niederschlag findet in Sentenzen wie „soll doch, sollen die andern/ Mein Teil es soll verloren gehn“, in den Wortfolgen – „Hunger Schande Tränen und Finsternis“ –, Worte die nurmehr aufgezählt werden und typographisch eine abwärts führende Treppe bilden, in der Rede vom „ungereinigten Schluchzen“. Gegen diese Ausbrüche der Verzweiflung gestellt sind Begriffe wie „Wortopern“ oder Formulierungen wie die von den „Worten erster Güte“ , die ein kulinarisches Verhältnis zur Literatur denunzieren. Der Abscheu vor ‚gesunder‘ Kunstfertigkeit, vor denen, die sich mit ‚Worten stets zu helfen‘ wissen, treibt das Gedicht an den Rand der Sprache. Mehrfach bricht die Rede ab, werden Personalpronomina nurmehr aneinandergereiht, Sprachfragmente unverbunden addiert. Kurzum das Gedicht ist ein radikaler Akt der Destruktion: der Destruktion der Lyrik in der Lyrik. Das Gedicht antwortet auf die destruktiven Zumutungen mit der Destruktion seiner selbst.
Dem Herausgeber ist vor allem zu danken dafür, daß er bei der Beschreibung der Entwicklungsstufen, den Finger deutlich darauf legt, daß Bachmann ausgegangen ist von den unmittelbaren körperlichen Sensationen, von Erfahrungn des Schmerzes, des Ekels und der Idiosynkrasie. In einer frühen Fassung heißt es, man müsse „die geschlachteten Ochsen und hingemähten Gemüse fressen mitsamt den Maden, die sich schon umtun“. Die Destruktionen und die mit ihnen einhergehenden körperlichen Verletzungen, die Momente des physischen Elends, die – etwa in der Metapher des Schädelzerbrechens – in der letzten Fassung nurmehr aufscheinen, sind in frühen Fassungen als Ausgangsbefindlichkeit und Schreibimpuls noch deutlich ausformuliert.
„Zuschlagen mich niederschlagen, dessen Schädel, der nichts mehr wert ist, ihn aufbrechen, dieses verderbliche Hirn essen mit einem Tropfen Zitrone und brauner Butter darüber.“
Solche Verstörungen entsprechen, wie Bachmann sagt, einer „Einstellung auf Krankheit“, die die Wahrnehmung der Krankheit möglich macht, den ganzen, überwältigenden, stumm machenden Wahnsinn von außen, – sie sind poetologisch gesehen Schreibimpuls und Schreibhemmung zugleich. Mit dem Fortgang der Arbeit an dem Gedicht, das läßt sich an den vorliegenden Fassungen zeigen, bleiben die initialen Impulse des Ekels und der Körperreaktionen in Wendungen vom „verhagelten Kopf“, oder vom „Schreibkrampf der Hand“ zwar bestehen, sie werden aber zunehmend verschränkt mit dem anderen Motiv des Gedichts, nämlich der wiederholten Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dichtens überhaupt, die immer wieder anhebt mit Worten wie: „Soll ich, Soll ich, Muß ich?“ Fragen die das Gedicht verneint.
„Mein Teil, es soll verloren gehn. – Sollen doch andre.“
Die verschiedenen Fassungen des Gedichts sind geprägt durch Akte des „Zerschreibens“, wie Bachmann den Versuch, die Präformationen der Sprache von innen aufzubrechen, selbst einmal genannt hat. Kafkas Axthieb wird wirksam in den Fragmentierungen der Form, der Zerstörung der Syntax, – ja selbst die Orthographie wird in einigen Vorstudien außer kraft gesetzt.
„Keine Delikatessen“ ist, so gesehen, nicht bloß Absage an die Lyrik, sondern die Bezweifelung der Sinnhaftigkeit kunstvollen Schreibens überhaupt. Vielleicht geht es hier viel weniger, als man immer meinte, um ein Problem der Gattungen. Von Störungen und vom Verstummen, von der Ich- Auflösung sprechen auch die Prosatexte, an denen sie zur gleichen Zeit schon arbeitete; Texte, denen man den Kunstcharakter im Sinne einer harten sprachlichen Erarbeitung wohl nicht absprechen wird. Das Problem ist zumindest grundsätzlicher, als es 1968 erschienen sein mag, nachdem das Gedicht erstmalig im ‚Kursbuch‘ 15 abgedruckt worden war, jenem Kursbuch, das den Tod einer Literatur verkündete, die sich nicht in den Auftrag der Politik stellen wollte. Aber Bachmann glaubte, wie sie selbst sagte, nicht mehr an ‚Aufträge‘, wohl auch nicht mehr an die, die einem allzu engen Polikverständnis entsprangen. Die mittelbaren und unmittelbaren Aussagen Bachmanns zur Poetik kennzeichnet eine paradoxale Struktur: die Literatur droht sich in Akten der formaler Destruktionen selbst zu verunmöglichen und bleibt zugleich für Bachmann der einzige aller möglichen Orte. Schuf sie doch in der Zeit der Arbeit an „Keine Delikatessen“ – und in scheinbarem Widerspruch zu dessen Absagen an das Kunstvolle, mit „Böhmen liegt am Meer“ eines ihrer schönsten, wenn man so will ‚kunstvollsten‘ Gedichte, ein Gedicht, das in dem Maße eine sprachliche Delikatesse ist, in dem Böhmen am Meer liegt.
„Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus, Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.
Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.
Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ichs grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.
Bin ich's, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiss ich jetzt, und bin unverloren.
Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immermehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, der nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.“
Das Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ entstand unter dem Eindruck zweier Prag-Reisen, die Ingeborg Bachmann während ihres Aufenthaltes in Berlin unternahm. Mit den grünen Häusern in Böhmen scheint eine Gegenwelt zum Horrorspital in Berlin zu erstehen. Aber das ist eine „strittige“ Welt. Bei dem von Shakespeare ans Meer „begnadigten“ Böhmen handelt es sich um ein in doppelter Weise versunkenes Reich: „zugrundegegangen“ ist nicht nur die donaumonarchische Realität, auch die Vision eines mitteleuropäischen Kulturexils ist spätestens seit der Zeit des Ersten Weltkrieges selber schon ein Traum-Bild vergangener Literaturen. Das Böhmen, in diesem Gedicht, ist ein phantasmatisches Grenzland der Worte, eine inverse Welt, in der man nach dem Zugrundegehen ‚ruhig aufwacht‘ und seine ‚Liebesmüh‘ noch einmal ‚verschwendet‘, ein Ort ohne jede Gewähr.
Hans Höller betont sehr stark die gegenläufig, utopische Bedeutung dieser, wie er sie nennt, „Gedächtnislandschaften“, die in seinen Augen doch wieder Signale des Rettenden, Versöhnenden geben. Es zeugt aber von der antidogmatischen Behutsankeit seines Kommentars, daß er gleichwohl die Behauptung Erich Frieds zitiert, wonach „die Gegenwelt“, in der Ingeborg Bachmann „Zuflucht vor der Verzweiflung“ suchte, „der Verzweiflung zum Verwechseln ähnlich gesehen habe.“ Für Ingeborg Bachmann bestand so etwas wie eine Hoffnung ohne Hoffnung,
„Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ‘ein Tag wird kommen’. Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.“
Es gibt sie eben, die Unverankerten, die ‚verzweifeln vor Verzweiflung‘, ‚denen auf Erden nicht zu helfen ist‘, denen der Wahnsinn von außen die Hoffnung auf den Sommer nimmt, denen das Leben, wie Bachmann es mehrfach formulierte „eine ungeheuerliche Kränkung“ ist. Diese Kränkung durchdringt das Gedicht „Enigma“ mit seinen mehrfachen Anspielungen auf Musikstücke von Berg und Mahler, deren letzte Hoffnungbotschaften auch noch widerrufen werden. Dennoch steht diese Kränkung nicht im einfachen Widerspruch zu dem, was das „Böhmen am Meer“ noch verheißt, sie ist Bedingung und Bedrohung der literarischen Produktivität.
Enigma „Nichts mehr wird kommen.
Frühling wird nicht mehr werden. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen wie ‚sommerlich‘ hat –
es wird nichts mehr kommen.
Du sollst ja nicht weinen, sagt die Musik.
Sonst sagt niemand etwas.“
Wenn aber gesagt wird, daß niemand mehr etwas sagt, wer spricht dann noch in diesem Gedicht? und von welchem Ort aus wird hier noch gesprochen? Es ist, wie Bachmann es einmal nannte, ein „Ich ohne Gewähr!“, das sich an einem Ort ohne Gewähr befindet.
„Ich ohne Gewähr! Denn was ist denn das Ich, was könnte es sein? Ein Gestirn, dessen Standort und dessen Bahnen nie ganz ausgemacht worden sind... Das könnte sein: Myriaden von Partikeln, die ’Ich’ ausmachen und zugleich scheint es, als wäre Ich ein Nichts, die Hypostasierung einer reinen Form ...“
„Der Lärmteppisch, breit und laut, hinter dir her schleift, lärmt und laut lärmt es, es zittern Deine Häuser alle, jeder Fussbreit in deinem Kopf alle deine Besitzungen Gedanken, Gedanken das überrast mit einer Geschwindigkeit die nie die deine war dieser Wahn; es ist nicht mehr, nichts ist mehr, und es ist nicht mehr weit, bis mit dem großen Knall unter dem du dich duckst über dir, oben, du die Schallmauer durchschlägst, nach oben.
Die ungute Prognose der jungen Reporterin hatte sich flächendeckend erfüllt. Der Lärm des Verkehrs, eine Metapher des alltäglichen Schreckens, kommt nun in einem anderen Medium zur Sprache, im Medium der Lyrik. In Berlin, war sie nicht mehr eine Außenstehende, eine bloß wahrnehmende und nachdenkliche Berichterstatterin, die mögliche Störungen voraussieht, hier sieht sie sich – wie das Gedicht „Schallmauer“ zeigt – unentrinnbar ins Zentrum alarmierender Entwicklungen gerückt, – inmitten von Störungen, deren Auswirkungen bis zur Zerstörung der Möglichkeit der Wahrnehmung und des Denkens selbst reichen. Sie fand sich – um es mit ihren eigenen Worten zu sagen:
„an einem gestörten Ort, in einer Verstörung, die von dieser Störung einiges aufzunehmen fähig war.“
Ingeborg Bachmann hielt sich vom Frühjahr 1963 bis Ende 1965 in Berlin auf. Die im Nachlaß aufgefundenen Gedichte, die sie in diesen Zeitraum schrieb, es sind ihre letzten, wurden jetzt von Hans Höller mit sorgfältigen Kommentaren versehen in einem liebevoll gestalteten Buch herausgegeben. Das besondere dieser Publikation liegt in den fotomechanischen Reproduktionen der unterschiedlichen teils handschriftlich korrigierten Fassungen und Entwürfe der Texte, die einen sehr informativen Einblick in die mit ihrer Entstehung verbundenen Wege und Mühen geben. Diese textgenetischen Informationen sind speziell für die Rezeption der drei Gedichte „Keine Delikatessen“, „Böhmen liegt am Meer“ und „Enigma“ aufschlußreich.
Wenn hier von einer kommentatorischen Sorgfalt die Rede ist, so meint dies vor allem Höllers Hinweise auf die verzweigten und vielfältigen Lektüre-Spuren in den Gedichten: Korrespondenzen, Zitationen und Anspielungen, die diese Lyrik direkt und indirekt mit anderen Arbeiten, früheren und späteren der Dichterin selbst, aber auch mit den Texten anderer Autoren verbindet. Zu Recht weist Höller darauf hin, daß viele Motive, die in den Gedichten präsent sind, auch die spätere Prosa Bachmanns – den Roman „Malina“ und den „Todenarten“-Zyklus – beherrschen, und ebenso berechtigt stellt er sie in den Zusammenhang ihres Textes „Kein Ort für Zufälle“, einer Rede über den Ort Berlin, die sie anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises hielt. Für Ingeborg Bachmann war der Ortsname ‚Berlin‘ das Synonym für Verletzungen, ein Schauplatz des Krieges und des Entsetzens mitten im vermeintlichen Frieden. In der Rede, die im herkömmlichen Sinne keine Rede ist, sondern ein essayistisch-lyrisches Prosagewebe, erscheint Berlin als ein katastrophisches Hospital des Grauens, überzogen von den Wunden und Vewüstungen vergangener Kriege, ausgesetzt den gewaltsamen Zumutungen der Gegenwart und umlauert von apokalyptischen Bedrohungen der Zukunft. „Die Beschädigung von Berlin, deren geschichtliche Voraussetzungen ja bekannt“ seien, erzwänge.
„eine Einstellung auf Krankheit, die Krankheit hervorruft“
So formulierte Bachmann einleitend in der ‚Rede‘, deren Titel „Kein Ort für Zufälle“ auf Büchners Erzählung „Lenz“ anspielt. Dort wird gesagt, daß Lenzens Wahnsinn ein Resultat biographischer Zufälle sei. Hier aber, im Berlin dieser Jahre, das betont Bachmann nachdrücklich, war der Wahnsinn kein Resultat zufälliger lebensgeschichtlicher Konstellationen, sondern äußerer Einwirkungen:
„Der Wahnsinn kann auch von außen kommen“
Und das, was dieses Außen mit den Leidenden macht, beschreibt Ingeborg Bachmann sowohl in der Lyrik dieser Zeit, etwa in dem Gedicht „In Feindeshand“ wie auch in der nachfolgenden Prosa und dem Text ihrer Rede.
„Du bist in Feindeshand, Sie mahlen schon Deine Knochen, sie zerstampfen Deinen Blick sie treten Deine Blicke mit den Füssen trillern dir ins Ohr mit den Alarmpfeifen Alarm“
Die thematische und athmosphärische Nähe zur Prosa der Rede ist unverkennbar:
„Die Straßen heben sich um fünfundvierzig Grad. Die Autos, die auf den Horizont zu unterwegs sind, rollen natürlich zurück, die Radfahrer verlieren den Halt. ... ein Sportwagen rast rückwäts in die Anstalt hinein, alle Eimer, Spuknäpfe, Eßkarren und Tragbahren spritzen hoch. Es ist eine Detonation. ... Am Knie der Koenigsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird gehenkt.“
Ungeachtet der prophylaktischen Äußerungen Bachmanns, die ja geradezu die Bitte enthalten, man möge diese Texte nicht bloß als Ausdruck einer zufälligen individuellen Verstörung rezipieren, wurden die Anhänger eines biographisch orientierten Literaturverständnisses nicht müde, auf eine besondere persönliche, möglicherweise in der Beziehung zu Max Frisch gründende Krise hinzuweisen, in der sich die Verfasserin zu diese Zeit befunden habe. Sofern aber lebensgeschichtliche Störungen für die Entstehung dieser Lyrik eine Rolle spielten, das sagt Bachmann in einem Interview ganz deutlich, dann nur in der Weise, daß sie für eine Empfindlichkeit disponierten, die es allererst möglich machte, den allgemeinen äußeren Wahnsinn wahrzunehmen und poetisch in Szene zu setzen. Damit erweist sich aber das, was ein psychologisches Problem schien, als ein primär poetologisches. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung zitiert Ingeborg Bachmann zustimmend das poetische Credo Franz Kafkas:
„Wenn ein Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? ... Ein Buch muß eine Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.“
Das ist ein alter Traum der Dichter, daß ein Buch mehr sein möge als nur ein Buch, ein Gedicht mehr als ein Gedicht, das Wort mehr als ein nur ein Wort. Ein Traum, der korrespondiert mit der leidvollen Erfahrung, daß das Wort die Mauern nicht zum Einsturz, das gefrorene Meer in uns nicht zum Schmelzen bringt, daß seine Wirkmacht es mit der Gewalt der äußeren Einwirkungen nicht aufnehmen kann, daß eine Sprache, die uns träfe, unmittelbar wie ein Axthieb, nicht zu haben ist, daß sie notwendig im Zeichen des Zuspätkommens, Verfehlens, der Mangelhaftigkeit steht. Davon – vor allem auch davon – sprechen die letzten Gedichte der Bachmann. Das Gedicht „Keine Delikatessen“, das das poetologische Dilemma am deutlichsten ausstellt, rückte daher vielfach ins Zentrum interpretatorischer Bemühungen; es wurde – um einen in diesem Zusammenhang blasphemischen Ausdruck zu bemühen – zum Leckerbissen der Bachmann-Forschung. Vor allem ist es gelesen worden als eine Absage an die Lyrik.
„Nichts mehr gefällt mir.
Soll ich eine Metapher ausstaffieren mit einer Mandelblüte? die Syntax kreuzigen auf einen Lichteffekt? Wer wird sich den Schädel zerbrechen über so überflüssige Dinge –
Ich habe ein Einsehen gelernt mit den Worten, die da sind (für die unterste Klasse) Hunger Schande Tränen und Finsternis
Mit dem ungereinigten Schluchzen, mit der Verzweiflung (ich verzweifle noch vor Verzweiflung) über das viele Elend, den Krankenstand, die Lebenskosten, werde ich auskommen.
Ich vernachlässige nicht die Schrift, ich vernachlässige mich. Die andern wissen sich weissgott mit den Worten zu helfen. Ich bin nicht mein Assistent.
Soll ich einen Gedanken gefangennehmen, abführen in eine erleuchtete Satzzelle? Aug und Ohr verköstigen mit Worten erster Güte? erforschen die Libido eines Vokals, ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?
Muss ich mit dem verhagelten Kopf, mit dem Schreibkrampf in dieser Hand, unter dreihundertnächtigem Druck einreissen das Papier, wegfegen die angezettelten Wortopern, vernichtend so: ich du und er sie es
wir ihr?
(Soll doch. Sollen die andern.)
Mein Teil, es soll verloren gehn.“
Es ist wohl ein Verzweifeln an den Möglichkeiten der Literatur überhaupt, nicht nur an der Form der Lyrik, das in diesem Gedicht, seinen Niederschlag findet in Sentenzen wie „soll doch, sollen die andern/ Mein Teil es soll verloren gehn“, in den Wortfolgen – „Hunger Schande Tränen und Finsternis“ –, Worte die nurmehr aufgezählt werden und typographisch eine abwärts führende Treppe bilden, in der Rede vom „ungereinigten Schluchzen“. Gegen diese Ausbrüche der Verzweiflung gestellt sind Begriffe wie „Wortopern“ oder Formulierungen wie die von den „Worten erster Güte“ , die ein kulinarisches Verhältnis zur Literatur denunzieren. Der Abscheu vor ‚gesunder‘ Kunstfertigkeit, vor denen, die sich mit ‚Worten stets zu helfen‘ wissen, treibt das Gedicht an den Rand der Sprache. Mehrfach bricht die Rede ab, werden Personalpronomina nurmehr aneinandergereiht, Sprachfragmente unverbunden addiert. Kurzum das Gedicht ist ein radikaler Akt der Destruktion: der Destruktion der Lyrik in der Lyrik. Das Gedicht antwortet auf die destruktiven Zumutungen mit der Destruktion seiner selbst.
Dem Herausgeber ist vor allem zu danken dafür, daß er bei der Beschreibung der Entwicklungsstufen, den Finger deutlich darauf legt, daß Bachmann ausgegangen ist von den unmittelbaren körperlichen Sensationen, von Erfahrungn des Schmerzes, des Ekels und der Idiosynkrasie. In einer frühen Fassung heißt es, man müsse „die geschlachteten Ochsen und hingemähten Gemüse fressen mitsamt den Maden, die sich schon umtun“. Die Destruktionen und die mit ihnen einhergehenden körperlichen Verletzungen, die Momente des physischen Elends, die – etwa in der Metapher des Schädelzerbrechens – in der letzten Fassung nurmehr aufscheinen, sind in frühen Fassungen als Ausgangsbefindlichkeit und Schreibimpuls noch deutlich ausformuliert.
„Zuschlagen mich niederschlagen, dessen Schädel, der nichts mehr wert ist, ihn aufbrechen, dieses verderbliche Hirn essen mit einem Tropfen Zitrone und brauner Butter darüber.“
Solche Verstörungen entsprechen, wie Bachmann sagt, einer „Einstellung auf Krankheit“, die die Wahrnehmung der Krankheit möglich macht, den ganzen, überwältigenden, stumm machenden Wahnsinn von außen, – sie sind poetologisch gesehen Schreibimpuls und Schreibhemmung zugleich. Mit dem Fortgang der Arbeit an dem Gedicht, das läßt sich an den vorliegenden Fassungen zeigen, bleiben die initialen Impulse des Ekels und der Körperreaktionen in Wendungen vom „verhagelten Kopf“, oder vom „Schreibkrampf der Hand“ zwar bestehen, sie werden aber zunehmend verschränkt mit dem anderen Motiv des Gedichts, nämlich der wiederholten Frage nach der Sinnhaftigkeit des Dichtens überhaupt, die immer wieder anhebt mit Worten wie: „Soll ich, Soll ich, Muß ich?“ Fragen die das Gedicht verneint.
„Mein Teil, es soll verloren gehn. – Sollen doch andre.“
Die verschiedenen Fassungen des Gedichts sind geprägt durch Akte des „Zerschreibens“, wie Bachmann den Versuch, die Präformationen der Sprache von innen aufzubrechen, selbst einmal genannt hat. Kafkas Axthieb wird wirksam in den Fragmentierungen der Form, der Zerstörung der Syntax, – ja selbst die Orthographie wird in einigen Vorstudien außer kraft gesetzt.
„Keine Delikatessen“ ist, so gesehen, nicht bloß Absage an die Lyrik, sondern die Bezweifelung der Sinnhaftigkeit kunstvollen Schreibens überhaupt. Vielleicht geht es hier viel weniger, als man immer meinte, um ein Problem der Gattungen. Von Störungen und vom Verstummen, von der Ich- Auflösung sprechen auch die Prosatexte, an denen sie zur gleichen Zeit schon arbeitete; Texte, denen man den Kunstcharakter im Sinne einer harten sprachlichen Erarbeitung wohl nicht absprechen wird. Das Problem ist zumindest grundsätzlicher, als es 1968 erschienen sein mag, nachdem das Gedicht erstmalig im ‚Kursbuch‘ 15 abgedruckt worden war, jenem Kursbuch, das den Tod einer Literatur verkündete, die sich nicht in den Auftrag der Politik stellen wollte. Aber Bachmann glaubte, wie sie selbst sagte, nicht mehr an ‚Aufträge‘, wohl auch nicht mehr an die, die einem allzu engen Polikverständnis entsprangen. Die mittelbaren und unmittelbaren Aussagen Bachmanns zur Poetik kennzeichnet eine paradoxale Struktur: die Literatur droht sich in Akten der formaler Destruktionen selbst zu verunmöglichen und bleibt zugleich für Bachmann der einzige aller möglichen Orte. Schuf sie doch in der Zeit der Arbeit an „Keine Delikatessen“ – und in scheinbarem Widerspruch zu dessen Absagen an das Kunstvolle, mit „Böhmen liegt am Meer“ eines ihrer schönsten, wenn man so will ‚kunstvollsten‘ Gedichte, ein Gedicht, das in dem Maße eine sprachliche Delikatesse ist, in dem Böhmen am Meer liegt.
„Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus, Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.
Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.
Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ichs grenzen. Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.
Bin ich's, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich. Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. Von Grund auf weiss ich jetzt, und bin unverloren.
Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal, wie ich mich irrte und Proben nie bestand, doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.
Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.
Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch, an alles immermehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, der nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.“
Das Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ entstand unter dem Eindruck zweier Prag-Reisen, die Ingeborg Bachmann während ihres Aufenthaltes in Berlin unternahm. Mit den grünen Häusern in Böhmen scheint eine Gegenwelt zum Horrorspital in Berlin zu erstehen. Aber das ist eine „strittige“ Welt. Bei dem von Shakespeare ans Meer „begnadigten“ Böhmen handelt es sich um ein in doppelter Weise versunkenes Reich: „zugrundegegangen“ ist nicht nur die donaumonarchische Realität, auch die Vision eines mitteleuropäischen Kulturexils ist spätestens seit der Zeit des Ersten Weltkrieges selber schon ein Traum-Bild vergangener Literaturen. Das Böhmen, in diesem Gedicht, ist ein phantasmatisches Grenzland der Worte, eine inverse Welt, in der man nach dem Zugrundegehen ‚ruhig aufwacht‘ und seine ‚Liebesmüh‘ noch einmal ‚verschwendet‘, ein Ort ohne jede Gewähr.
Hans Höller betont sehr stark die gegenläufig, utopische Bedeutung dieser, wie er sie nennt, „Gedächtnislandschaften“, die in seinen Augen doch wieder Signale des Rettenden, Versöhnenden geben. Es zeugt aber von der antidogmatischen Behutsankeit seines Kommentars, daß er gleichwohl die Behauptung Erich Frieds zitiert, wonach „die Gegenwelt“, in der Ingeborg Bachmann „Zuflucht vor der Verzweiflung“ suchte, „der Verzweiflung zum Verwechseln ähnlich gesehen habe.“ Für Ingeborg Bachmann bestand so etwas wie eine Hoffnung ohne Hoffnung,
„Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich ‘ein Tag wird kommen’. Und eines Tages wird es kommen. Ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran. Denn wenn ich nicht mehr daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben.“
Es gibt sie eben, die Unverankerten, die ‚verzweifeln vor Verzweiflung‘, ‚denen auf Erden nicht zu helfen ist‘, denen der Wahnsinn von außen die Hoffnung auf den Sommer nimmt, denen das Leben, wie Bachmann es mehrfach formulierte „eine ungeheuerliche Kränkung“ ist. Diese Kränkung durchdringt das Gedicht „Enigma“ mit seinen mehrfachen Anspielungen auf Musikstücke von Berg und Mahler, deren letzte Hoffnungbotschaften auch noch widerrufen werden. Dennoch steht diese Kränkung nicht im einfachen Widerspruch zu dem, was das „Böhmen am Meer“ noch verheißt, sie ist Bedingung und Bedrohung der literarischen Produktivität.
Enigma „Nichts mehr wird kommen.
Frühling wird nicht mehr werden. Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen wie ‚sommerlich‘ hat –
es wird nichts mehr kommen.
Du sollst ja nicht weinen, sagt die Musik.
Sonst sagt niemand etwas.“
Wenn aber gesagt wird, daß niemand mehr etwas sagt, wer spricht dann noch in diesem Gedicht? und von welchem Ort aus wird hier noch gesprochen? Es ist, wie Bachmann es einmal nannte, ein „Ich ohne Gewähr!“, das sich an einem Ort ohne Gewähr befindet.
„Ich ohne Gewähr! Denn was ist denn das Ich, was könnte es sein? Ein Gestirn, dessen Standort und dessen Bahnen nie ganz ausgemacht worden sind... Das könnte sein: Myriaden von Partikeln, die ’Ich’ ausmachen und zugleich scheint es, als wäre Ich ein Nichts, die Hypostasierung einer reinen Form ...“